Du gehörst mir
Er atmet nicht mehr, endlich. Seine Lippen sind schon leicht blau, seine Augen starren in den Himmel. Da liegt er, ist nicht mehr in der Lage, mein Leben zu zerstören. Er ist besiegt. Keiner wird etwas ahnen. Er hat sich eben die Klippen hinunter gestürzt, war einfach schwach. Mir tut er nicht leid, höchstens seine Familie hat Mitleid verdient. Sie kann ja nichts dafür. Er alleine war an allem Schuld.
Ich muss weg, die Polizei könnte bald hier sein. Vielleicht hat ihn ja schon jemand gesehen und einen Notruf abgesetzt.
Es ist schön hier. Die Luft ist salzig, ein leichter Wind streift meine Wangen. Es ist frisch, Fischgeruch liegt in der Luft. Der Himmel ist bedeckt, wahrscheinlich regnet es bald. Aber Emelia wohnt ja nicht weit von hier, nur ein paar Meter noch den Strand entlang, dann sieht man schon das kleine rote Holzhaus. Aus dem Schornstein kommt Rauch, in der Küche brennt Licht. Emelia kocht Tee. Der Schlüssel für die Haustüre liegt unter der Fußmatte, wie immer. Schon jetzt, als ich die Türe einen Spalt öffne, rieche ich den Himbeerduft aus der Küche. Emelia liebt diesen Geruch. Ich bleibe im Türrahmen stehen und beobachte sie. Noch hat sie mich nicht bemerkt. Sie ist so hübsch. Ihr langes blondes Haar glänzt, die grünen Augen strahlen sicherlich. Das weiß ich, auch wenn ich sie nicht sehen kann. Sie hat immer leuchtende Augen, egal ob sie fröhlich oder traurig ist. Emelia trägt einen langen braunen Rock und einen dicken schwarzen Rollkragenpullover, sie friert fast immer. Das kommt davon, dass sie so dünn ist. Sie ist schlank und groß. Ich finde sie wunderschön. Manchmal wäre ich auch gerne so wie sie.
„Hi.“ - Sie antwortet nicht, dreht sich nicht einmal um zu mir.
„Alles ist gut, keine Angst.“ - Immer noch nicht. Keine Reaktion. Ich möchte sie gerne in den Arm nehmen, aber sie weicht mir aus. Emelia beachtet mich einfach nicht. Was fällt ihr eigentlich ein? Ich bin schließlich ihre beste Freundin, wir kennen uns seit dem Kindergarten und werden bald gemeinsam unseren Schulabschluss machen.
Für mich existieren nur wir zwei auf dieser Welt, sonst ist da niemand. Niemand, der wichtig wäre. Meine Eltern sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass sie für mich da wären. Immer Streit, wegen der nicht gewaschenen Wäsche, des angebrannten Abendessens, der defekten Heizung, wegen des Fernsehprogramms. Vielleicht aber auch, weil sie einfach nur an sich denken. Für sie gibt es nichts anderes auf dieser Welt als die Probleme ihrer Ehe. Manchmal frage ich mich, ob ich wirklich ihr Kind bin. Deswegen habe ich Emelia, weil sie mir alles das gibt, was ich von meinen Eltern nie bekam und auch nie bekommen werde. Ich brauche keine anderen Menschen mehr, ich brauche nur Emelia. Und Emelia soll mich nun zum Leben ebenso brauchen wie ich sie.
„Sprich mit mir!“ - Stille.
„Emelia, sieh mich an! Sag was! Was denkst du dir eigentlich?! Ich habe so viel für dich getan! Warum bist du so undankbar?“ - Sie lacht, es ist ein spöttisches Lachen. Sie nimmt mich nicht ernst. Wieder einmal weiß sie nicht, was sie mir alles zu verdanken hat, wie sooft im Laufe der Jahre.
Sie gießt sich Tee in ihre Tasse, zwei Löffel Zucker dazu. Dann setzt sie sich an den Küchentisch, rührt um.
„Setz dich doch zu mir, Maia. Ich bin dir ja dankbar, das weißt du doch. Ich brauche dich. Aber ich habe wahnsinnige Angst.“ Ihre Augen werden feucht.
„Ich weiß, meine Kleine. Aber es wird alles gut. Vertrau mir.“ Ich lege meine Hand auf ihre kalten Finger.
Schon damals, als sie Stefán kennen lernte, war er mir unsympathisch. Er war anders als die anderen. Scheinbar sehr nett und in meinen Augen eindeutig zu nett. Wir gingen an einem Abend noch in ein kleines Café in Reykjavik, er kellnerte dort und lud uns auf einen Drink ein. Er steckte Emelia noch am selben Abend seine Nummer zu. „Meld dich doch mal bei mir.“ Sein Augenzwinkern und der gierige Ton waren für mich eindeutig. Emelia dagegen fiel natürlich in ihrer Naivität auf ihn herein und rief in schon wenige Tage danach an. Ich warnte sie, wollte, dass sie ihn vergisst. Aber sie hörte nicht. Er war ihr wichtiger. Es gab nur noch den Namen Stefán in ihrem Leben, ich konnte es nicht mehr hören. Seit dem Kindergarten hatten wir jede Minute, in der es möglich war, miteinander verbracht. Das war vorbei, auf einen Schlag, wegen Stefán.
Er sah noch nicht einmal besonders gut aus, sie hätte was Besseres verdient. Was er von Emelia wollte, war ja von Anfang an klar. Er merkte eben sofort, wie gutgläubig sie war, sie träumte von der großen Liebe. Ich konnte sie doch nicht einfach in ihr Unglück laufen lassen.
Doch sie ließ mich sitzen. Emelia ging mit Stefán ins Kino, mit Stefán ins Café, mit Stefán in die Disco, mit Stefán zum Baden. Wo war da noch Platz für mich? Sie fragte mich natürlich ab und an, ob ich mitgehen wollte. Allerdings nur aus Pflichtgefühl und in der Hoffnung, dass ich ‚nein’ sage, da bin ich sicher. Wir sahen uns also fast gar nicht mehr, ich war alleine. Meine beste Freundin hatte mich einfach so im Stich gelassen. Irgendwie musste ich mir helfen…
„Meinst du, es wird rauskommen?“ Emelia steht die Angst in ihr hübsches, zierliches Gesicht geschrieben.
Ich winke sie zu mir. „Setz dich auf meinen Schoß, Kleine. Es wird alles gut, zusammen schaffen wir das. Sie haben keinen Anlass, dich zu verdächtigen. Du musst stark sein, ja?“ Sie setzt sich langsam auf meinen Schoß und legt ihren Kopf auf meine Schulter. Sie sucht Schutz, sie ist eben schwach. Aber ich werde ihr helfen. Meine Hand streichelt zärtlich ihre Wange.
„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe, Maia. Ich werde das nie vergessen können.“ Sie weint.
„Alles wird gut, Emmi. Wir müssen jetzt zusammen halten. Ich bin doch deine beste Freundin, du weißt, ich werde immer zu dir stehen. Egal, was passiert.“
Im Bad finde ich noch Schlaftabletten. Emelia solle sie nehmen, sich ins Bett legen und lange schlafen. Morgen sei alles wieder besser. Sie tut, was ich sage. Endlich tut sie es wieder, und sie braucht mich. Scheinbar mehr als je zuvor, das beruhigt mich ungemein. Als sie im Bett liegt, decke ich sie zu, streiche einige ihrer blonden Strähnen aus dem Gesicht und küsse sie leise auf die Stirn.
Ich muss raus hier. Ein bisschen spazieren gehen. Endlich fühle ich mich wieder frei. Es ist dunkel draußen, um diese Jahreszeit sieht man hier die Sonne fast gar nicht mehr. Mich stört das nicht, ich bin schließlich hier aufgewachsen. Ob ich noch mal zu den Klippen sehen soll? Möglicherweise haben sie ihn schon weggebracht, vielleicht aber liegt er noch auf den Steinen und das Meer schwappt über seinen Körper. Die Lippen könnten mittlerweile dunkelblau gefärbt sein.
Ich musste mir damals etwas einfallen lassen, Emelia war einfach nicht zur Vernunft zu bringen. Sie war blind. Als sie dann für ein Wochenende mit ihren Eltern zu Verwandten fuhr, verabredete ich mich mit Stefán. In gewisser Weise war mein Anspruch auf sie höher. Also trafen wir uns in Reykjavik, im selben Café wie damals beim ersten Treffen. Er arbeitete dort nicht mehr, sondern hatte ein Studium begonnen. Stefán grinste mich an und wollte mir weismachen, dass Emelia die einzige Frau für ihn sei und dass er ihr niemals wehtun könnte. Nach einiger Zeit konnte ich es nicht mehr hören. „Du musst sie in Ruhe lassen. Ich weiß, was gut für sie ist.“, schrie ich ihn an. Er verstand mich einfach nicht. Je länger wir da saßen, desto mehr wurde mir bewusst, dass ich Emelia für immer an ihn verlieren würde, wenn ich nichts unternahm. Der Gedanke alleine war für mich schon unerträglich.
“Lass uns zu mir gehen, Stefán. Ich kann uns was zu essen machen, du hast doch sicher auch Hunger. Und Emelia freut sich, wenn bei ihrer Ankunft zwischen uns alles in Ordnung ist.“ Er nahm die Einladung selbstverständlich an. Im Haus meiner Eltern angekommen, bat ich ihn ins Wohnzimmer und schenkte uns Wein ein. Die Vorstellung, mein Leben ohne Emelia führen zu müssen quälte mich und die Wut auf Stefán breitete sich in mir immer mehr aus. Ich hatte Emelia zuvor gebeten, gleich nach ihrer Ankunft zu Hause bei mir zu erscheinen. Es war Sonntagabend und konnte nicht mehr allzu lange dauern bis sie eintreffen würde.
„Prost, Stefán. Lass uns das Kriegsbeil begraben.“ Ich hob mein Glas und wir stießen an. Er grinste immer noch so. In seinen Augen sah ich die Überlegenheit. Er glaubte tatsächlich, er hätte den Kampf um Emelia gewonnen.
Ich küsste ihn auf die Wange, er war sichtlich erstaunt. Ich sah ihn betroffen an, sagte ihm, dass ich mich für alles entschuldigen wollte. Ich hätte immer gedacht, er würde Emelia wehtun. Aber nun wüsste ich ja, dass es nicht so sei.
„Ich verstehe dich ja, Maia. Sie ist deine beste Freundin, du wolltest nicht, dass sie unglücklich ist. Sie kann sich glücklich schätzen, dich als Freundin zu haben. Lass uns das alles einfach vergessen.“ Ich nahm ihm diese Nettigkeit nicht ab, sah ich doch den herablassenden Ausdruck in seinen Augen.
Ich umarmte ihn, meine Hand wanderte an seinem Rücken hinunter zu seinem Hintern, blieb dort. Er wollte ausweichen, ich hielt in fest. Ich küsste ihn auf den Mund. Anfangs wehrte er sich nicht. Dann aber wollte er mich wegstoßen. Was dachte er sich bloß dabei? War ich nicht gut genug für ihn? Ja, ich habe keine langen blonden Haare wie Emelia, ich bin auch nicht so schlank, mein Körper ist nicht so makellos wie ihrer. Aber gerade er, wie konnte er sich anmaßen, mich zurückzuweisen?!
Dann ging alles wahnsinnig schnell, ich hatte auch nicht mehr viel Zeit bis Emelia kam. Ich öffnete seinen Gürtel, seine Hose, zog sie zu seinen Knien, küsste ihn stürmisch. Ich sah sie durch das Fenster auf die Haustüre zukommen. Sie fand uns in einer offenbar verheerenden Situation, verheerend für Stefán. Meine Bluse zerrissen, die Haare zerwühlt, den Rock auf die Hüfte geschoben. Erbärmlich. Ich weinte, schrie ihn an, das fiel mir ja nicht sonderlich schwer. Emelia reagierte, wie erwartet. Im ersten Moment stand sie wie versteinert in der Tür und starrte uns an. Dann stürzte sie ins Wohnzimmer, die Ohrfeige für Stefán klatschte regelrecht. Er solle sofort verschwinden, das hätte sie nie von ihm erwartet. Oh, wie enttäuscht sie doch sei. Das verdammte Schwein solle sich auf keinen Fall mehr blicken lassen. Ich hatte sie nie zuvor so entschlossen brüllen gehört. Und es wirkte. Selbst noch sehr verstört zog Stefán sich an und ging wortlos, ihm war klar, dass Emelia keine Erklärungsversuche hören wollte.
Emelia nahm mich in den Arm, drückte mich fest an sich und fing selbst an, bitterlich zu weinen. Fast tat mir beim Anblick ihres Schmerzes alles leid, doch die beiden hatten mir schließlich keine andere Entscheidung gelassen. Es ist doch selbstverständlich, dass man um den einzig wichtigen Menschen im Leben kämpft – und das mit allein Mitteln.
Ob sie das für mich auch tun würde? – Ich bin mir nicht sicher.
Die Möwen kreischen laut. Wenn die Möwen aber einen Moment lang schweigen, hört man außer dem Meeresrauschen nur Totenstille. Es gibt hier so schöne Strandkörbe, sie sind gelb- weiß gestreift. Ich setzte mich in einen hinein und blicke über das weite Meer. Wenn man nach rechts blickt, kann man weit entfernt einen Leuchtturm erkennen, er ist orange. Es ist aber so finster, dass man fast nichts sieht. Vielleicht weiß ich auch einfach nur, dass er orange ist. Ich habe ihn doch jahrelang hier vom Strand bei Emelias Haus betrachtet.
Ich denke, ich werde nicht mehr zu den Klippen gehen. Was hätte ich denn davon? Wenn sie ihn bereits aus dem Wasser gefischt haben, dann wird es in den nächsten Tagen in der Zeitung stehen und ansonsten ist es auch egal, dann bleiben seine Lippen blau und seine Haut wird langsam aufweichen und sich im Wasser Schicht für Schicht lösen. Ja, er wird sich einfach auflösen. Es wird so sein als hätte es ihn nie gegeben, als hätte er sich nie in unser Leben gemischt.
Langsam werden auch die Möwen ruhiger. Tagsüber gibt es hier tausende Vögel. Auch Papageitaucher sieht man hier oft. Sie flattern knapp über der Wasseroberfläche bis sie einen Fisch erspähen und tauchen dann in Windeseile ab. Haben sie dann einen oder sogar mehrere Fische gefangen, bringen sie sie zu ihren Nestern und füttern ihre Jungen damit. Diese Vögel haben etwas von Clowns an sich. Wenn ich traurig war als Kind, musste Emelia nur mit mir ans Meer gehen, mir ein Fernglas in die Hand drücken und auf ein paar Papageitaucher warten.
Langsam wird es frisch hier im Strandkorb, ich wickle meine Strickjacke fest um meinen Körper und ziehe meine Beine an den Bauch heran.
Damals, nach jenem Abend, verbrachten Emelia und ich wieder jede freie Minute miteinander. Sie versuchte, mich zu trösten und las mir jeden Wunsch von den Augen ab. Es sollte mir an nichts fehlen. Von Stefán wollte sie definitiv nichts mehr wissen. Wie glücklich mich das machte, ich hatte sie doch so sehr vermisst. Jetzt konnte alles wieder wie früher werden und keiner würde uns jemals wieder auseinander bringen. Sie ging nun wieder mit mir ins Kino, zum Eisessen oder ins Schwimmbad.
Die meiste Zeit verbrachten wir am Strand im Haus von Emelias Eltern, sie nahmen mich gerne bei sich auf, ich war fast wie eine Tochter für sie. Und sie wussten auch, dass es Probleme mit meinen Eltern gab. Möglicherweise hatten sie sogar miteinander telefoniert und meine Eltern hatten zugestimmt, mich dort „abzugeben“. Ich weiß es nicht. Es war mir auch egal.
Wir verbrachten einen glücklichen Sommer, gingen ab und zu nach Reykjavik zum Shopping, weil Emelia das so wollte, aber ansonsten hatten wir einzig und allein uns zwei, das reichte. Wanderungen am Strand, Vögel und Robben in freier Wildbahn beobachten, Picknick auf den weiten Wiesen, mit Isländern über die Weiden galoppieren, im Hot Pot baden, fiebern bis der Geysir endlich ausbricht, stundenlang Wasserfälle und ihre Regenbögen bewundern, einfach frei sein und dennoch wissen, dass man nicht alleine ist. Wir erlebten wahnsinnig viel in diesen Monaten und waren dabei, das Geschehene zu vergessen.
Ich muss zwangsläufig lächeln, wenn ich an diese schöne Zeit im Sommer denke, in der wir so ziemlich alles genossen, was die Insel zu bieten hat. Nun ist es dunkel geworden hier, wie es eben jedes halbe Jahr geschieht. Es ist die Zeit, die man zu Hause verbringt, mit der Familie. Weihnachten steht bald vor der Türe. Ich weiß noch nicht, was ich Emelia schenken könnte. Ich kenne sie in- und auswendig und doch ist es immer die schwerste Entscheidung. Ich möchte ihr alles zu Füßen legen, was sie sich wünscht, wenn sie nur bei mir bleibt.
Mir wird zu kalt, ich muss mich auf den Weg zurück zum Haus machen. Diesmal renne ich, der eisige Wind bläst mir die Haare aus dem Gesicht und lässt meine Augen tränen. Der Sand unter meinen Füßen ist hart, aber dennoch spüre ich, wie er unter meinen Schuhsohlen knirscht. Ich hinterlasse leichte Spuren. Was, wenn wir gestern auch Spuren hinterließen? – Aber wir trugen ja Schuhe, wie sie jeder zweite Isländer besitzt. Ja, wahrscheinlich sogar die gut ausgerüsteten Touristen, die es hier im Winter kaum gibt.
Es traf sich eben ungünstig. Emelia und ich wollten einen kleinen Spaziergang machen. Stefán muss uns beobachtet haben, denn als wir zu den Klippen kamen, tauchte er ebenfalls kurze Zeit später dort auf. Mit gesenktem Kopf trat er Emelia entgegen, sie blieb stehen, also sie ihn erblickte. Sie wusste nicht, ob sie bleiben oder weglaufen sollte. Mich beachtete er überhaupt nicht. Ich kann nicht genau beschreiben, was ich fühlte. Ich war wütend, dass er es wagte hierher zu kommen, ich hatte Angst, dass ich Emelia wiederum verlieren könnte.
„Bitte hör mir zu, schick mich nicht sofort weg. Hör dir doch einfach an, was ich zu sagen habe und wenn du dann immer noch sagst, dass du mich nie wieder sehen willst… Ja, dann muss ich das eben akzeptieren. Ich konnte dich einfach nicht vergessen.“ Emelia sagte nichts darauf. Sie sah ihn an, mich, ihn, dann wieder mich. Ich schüttelte den Kopf, Stefán blieb aber hartnäckig bis Emelia zu kippen drohte.
„Ich weiß nicht… Maia, du bist mir doch nicht böse, oder? Wenn ich mir anhöre, was er zu sagen hat, dann wird er ein für alle mal aus unserem Leben verschwinden. Vielleicht war es ja auch ein Missverständnis oder irgendwas in der Art.“, murmelte Emelia mir halblaut zu.
Ich entgegnete ihr: „Ich möchte auf gar keinen Fall, dass du mit ihm auch nur ein Wort sprichst!“
Stefán wollte immer noch nicht aufgeben. Es war mal wieder sein Fehler. Er ließ mir das zweite Mal keine andere Möglichkeit als einzugreifen. Aufgebracht schrie er, ich hätte alles kaltherzig geplant und inszeniert nur um die beiden auseinander zu bringen. Emelia sollte einer falschen Schlange wie mir kein Wort glauben, ich sei doch nicht ganz normal. Er hört einfach nicht mehr auf damit. Sie war sprachlos, offenbar zweifelte sie, und zwar an mir. Das konnte ich doch nicht tatenlos geschehen lassen.
„Er lügt, Emmi! Du wirst ihm doch nicht mehr glauben als mir!“
Sie blickte zu Boden. „Ich weiß gar nicht mehr, was ich glauben soll.“ Sie war den Tränen nahe und trat einen Schritt weg von mir, einen Schritt näher zu Stefán. Und er fuhr munter mit seiner Hetze gegen mich fort. Es war genug. Dieser Kerl dachte tatsächlich ein erneut, er könnte mich einfach wegdrängen und meinen Platz ohne weiteres einnehmen.
„Emmi, was tust du?! Hast du vergessen, was dieser Kerl mir angetan hat? Hast du das vielleicht vergessen? Du meinst doch nicht etwa, ich habe mir das alles nur ausgedacht? Das kannst du doch nicht wirklich glauben?!“ Damit und mit vielen Tränen konnte ich Emelia wieder etwas mehr auf meine Seite ziehen, so schien mir. Aber nun genügte mir das nicht mehr. Woher sollte ich denn auch wissen, dass er in einem halben Jahr nicht wieder hier steht und das gleiche von vorne anfängt?
„Hast du vergessen, dass er dein Vertrauen schamlos ausgenutzt hat, genauso wie meines, dass er sich unter einem Vorwand in das Haus meiner Eltern gedrängt hat, dass er mich geküsst hat gegen meinen Willen, dass er mir meine Bluse vom Körper gerissen hat, dass er…“ –
„Nein!“ Emelia hielt sich eine Hand vor den Mund und brach laut in Tränen aus. „Mehr will ich nicht hören!“ Sie atmete tief und versuchte, wieder Fassung zu erlangen, aber es gelang ihr nicht. Die Wut auf Stefán, die sie bis zu diesem Tag unterdrückt hatte, war wieder da. Vielleicht sogar mehr als je zuvor.
Sie machte einige große Schritte auf Stefán zu. Er stand stumm da und schien selbst auch gemerkt zu haben, dass er keine Chance mehr hat.
„Warum bist du hergekommen?! Du glaubst doch nicht wirklich, ich würde einen wie dich zum Freund haben wollen?“ Ihr Tonfall ähnelte stark dem Tonfall an jenem Tag.
Es ging ziemlich schnell, sie schubste ihn.
“Stell dir vor, was er getan hat und vor allem, wie ich mich dabei gefühlt habe!“ Das war alles, was ich noch sagen musste. Sie schubste ihn wieder und wieder.
Dann war da der Schrei, kurz darauf der Aufprall und dann Emelias Zusammenbruch. Ich brachte sie nach Hause.
Emelias Eltern sind momentan verreist. Wir haben das Haus also für uns. Ich gehe nun zurück, mir wird zu kalt hier. Schnell zurück zum kleinen roten Holzhaus, dort ist es schön warm. Ich lege mich neben Emelia unter die warme Decke.
Ich wache schon früh auf, Emelia schläft noch. Kein Wunder, die Tabletten waren ziemlich stark. Es geht mir gut, ich fühle mich frei, entspannt und werde erst einmal einen Tee für uns kochen und zum Bäcker gehen. Als ich in der Küche bin und das Wasser gerade aufsetze, klingelt es an der Türe. Wer das wohl sein mag? Ich öffne und ein Polizist lächelt mich freundlich an. Ich bitte ihn herein.
„Setzen sie sich doch, ich mache gerade Tee. Ich weiß, warum sie da sind. Es ist einfach schrecklich, was passiert ist. Und es tut mir auch sehr leid, dass ich sie nicht schon früher gerufen habe, aber sie ist doch meine Freundin.“ Ich gieße das Wasser über die Himbeerteebeutel.
„Sie wissen schon, dass Stefán Olafsson ermordet wurde?“ Er ist sehr überrascht.
„Ja, ich weiß alles. Emelia hat mir gestern gebeichtet, was passiert ist. Sie wird doch hoffentlich keine zu hohe Strafe bekommen, oder? Es war doch so eine Art Unfall, keine Absicht.“
Der Polizist fragt mich, ob ich ihm damit sagen wolle, dass Emelia Stefán die Klippen hinuntergestürzt habe. Ja, das möchte ich ihm damit sagen. So war es. Aber sie sei in einem sehr labilen Zustand, eigentlich nicht zurechnungsfähig. Sie würde es vielleicht nicht zugeben, aber mir hätte sie alles gestanden. Ich muss sie nach unten holen.
Emelia liegt noch im Bett, sie ist aber mittlerweile wach. Sie fragt mich, wer dort unten sei. Ich sage ihr die Wahrheit. Emelia weint leise und kommt sofort mit nach unten.
„Emelia, ich muss sie nun mitnehmen. Es besteht der dringende Tatverdacht, dass sie Stefán Olafsson getötet haben.“ Er geht zu seinem Auto und wartet dort.
Da steht sie vor mir, meine kleine Emmi, sie sieht bei weitem nicht so wunderschön aus wie ich sie sonst kenne. Sie trägt einen alten Jogginganzug, ihre Haare sind strähnig, sie hat dunkle Ringe unter den verweinten Augen. Sie tut mir leid. Ich umarme sie. Sie braucht mich jetzt, sonst übersteht sie die ganze Sache nie.
„Ich werde versuchen, die zu helfen so gut ich kann. Und natürlich werde ich dich sooft wie möglich besuchen. Du weißt ja, dass du dich auch mich immer verlassen kannst, meine Kleine!“