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Dunkles Erbe
Gott schien die Welt in Tränen ertränken zu wollen. Sie stürzten aus dem bleiernen Himmel und verwandelten die Erde in einen schlammigen Sud, der alle Unschuld verschlang.
Eine einsame Gestalt krallte ihre Hände in den Matsch und schrie der Sintflut ihren geballten Schmerz entgegen. Doch der Schmerz war zu gewaltig, als dass er durch einen Schrei hätte gelöst werden können. So wenig, wie der Schrei nicht gegen das Reißen des Regens ankam, konnte er auch den Schmerz aus der Seele des jungen Mannes vertreiben.
Die Gestalt schrie, bis ihre Stimmbänder brennend den Dienst verweigerten. Wimmernd sackte der erschöpfte Körper in sich zusammen. Einem verlorenen Sünder gleich kniete der junge Mann vor dem Stein; durchweicht und verlassen. Sein frierender Leib zitterte, Regen und Wind peitschten die letzte Wärme aus der Haut.
„Ich hasse dich! Ich hasse dich!“, krächzte er immer wieder. Der Stein schwieg, badete unbeeindruckt im Sturm. Höhnisch schien er dem Weltuntergang zu trotzen, ragte stolz empor, als wolle er sagen, er ließe sich von keiner Macht niederdrücken.
„Ja, du hast dich von niemandem niederdrücken lassen, denn du hast alle erdrückt, die in deiner Nähe waren!“
Höhnisch warf der Stein seinen unbarmherzigen Schatten auf die verlorene Gestalt.
Der Regen nahm noch zu.
Auf allem, was sich deinen Händen nicht entziehen konnte, lastet ein bitterer Fluch. Mutter hast du bis ins Mark vergiftet, selbst dein Abschied war nicht mehr imstande sie zu heilen. Zu tief hat sich dein Gift in sie gefressen, hat ihren Willen zersetzt und jede Freude am Leben mit dem Makel der Bitterkeit besetzt.
Deine Tochter ist ein lebloses Gerippe, das sich mit jedem Schuss weiter das Leben aus den Venen presst.
Und jetzt hat sich dein Fluch auch auf mich erstreckt.
Ich habe geglaubt, deinem Schatten entkommen zu sein. Bis zuletzt habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, mich mit aller Kraft an sie geklammert und mich gegen die Qual der Vergangenheit gestemmt. Ich wähnte mich schon in Sicherheit, glaubte deinen Klauen entkommen zu sein, aber letztlich hast du mich doch gekriegt.
In meiner schwächsten Minute hat sich dein Erbe entfesselt.
Ich habe Dania geschlagen. Geschlagen, wie du einst auf uns eingeprügelt hast. Ich wollte es nicht, bei Gott, ich wollte es nicht! Aber du hast auch immer gesagt, dass du es nicht wolltest. Jedes Mal schworst du, es sei das letzte Mal gewesen.
Ich weiß nicht, ob Mutter dir das tatsächlich geglaubt hat, oder meine Schwester. Wir haben nie darüber gesprochen, alles, was mit dir zu schaffen hat, wurde vom Mantel des Schweigens verschluckt.
Es herrschte ein unausgesprochenes Gebot, dich mit keinem Wort zu erwähnen. Aus Scham, aber auch aus Angst, dass dich das Aussprechen deines Namens wieder lebendig machen könnte.
Nein, ich weiß nicht, ob sie dir deine Versprechen abgenommen haben, ob sie in deinem ewigen Wechselspiel von Gewimmer und Geprügel noch Hoffnung geschöpft haben.
„Nach Regen folgt auch wieder Sonnenschein“, pflegtest du in deiner unbeholfenen Art zu sagen.
Ich habe dir schon lange nicht mehr geglaubt.
Meine einzige Hoffnung galt jenem Tag, an dem ich es endlich schaffen würde, uns von deiner Tyrannei zu befreien.
Ich bettete mein ganzes Streben in die Zuversicht, dich eines Tages für deine Sünden bluten zu lassen.
Jedes Mal, wenn sich einer deiner Ausbrüche auf uns entlud, zog ich mich in den Kokon meiner Hoffnung zurück.
Ich flüchtete nicht vor deiner Hand, ertrug die Schläge mit seltsamer Genugtuung. Ich zählte sie und summierte den Schmerz, um ihn dem Kokon zuzuführen. Ich sammelte den Schmerz, den du mir zufügtest, zahlte ihn ein auf das imaginäre Konto meiner baldigen Rache.
Ich führte dieses Konto, weil ich aus quälender Erfahrung wusste, dass dir selbst mein geballter Hass mit meinen Kinderfäusten nichts anhaben konnte.
Wenn ich dem Knabenalter entwachsen wäre, so schwor ich mir, würde ich das Konto auflösen. Und dann würde ich dir all den Schmerz zurückzahlen, der im Kokon seiner Entladung harrte. Und ich würde dir diesen Schmerz in dreifacher Wut zufügen. Ich würde die Rechnung für meine Mutter und meine Schwester mit begleichen.
Ich schrieb den Eid in einer jener dunklen Stunden mit meinem eigenen Blut. Blut, welches du aus mir heraus gedroschen hattest.
Ich zählte die Jahre und nährte meinen Hass. Als der Tag meiner Rache immer näher rückte, suchte ich förmlich deine Nähe, sehnte ich mich, wie in einem morbiden Bann gefangen, nach deinen Schlägen.
Ich trieb es so weit, dass du mich beinahe totgeprügelt hättest. Ich unterließ es nicht nur, mich zu verteidigen, nein, ich lachte auch noch dabei. Es war ein unbändiges und dämonisches Lachen. Denn jeden Hieb, den du mir beifügtest, sah ich bereits mit dreifacher Gewalt auf dich niedergehen. In meinem Wahn war es dein Blut, das floss, und nicht meines, waren es deine Knochen, die barsten und nicht meine.
Der Tag unserer Befreiung kam näher und ich sah ihm mit einem Fieber entgegen, das sich allem Beschreibbaren entzieht.
Doch dann, kurz vor dem Tag, an dem mein Schwur seine Erfüllung finden sollte, vollbrachtest du die schändlichste aller Taten und entzogst dich aus eigener Hand deinem gerechten Schicksal.
In deinem feigen Abschiedsbrief bittest du tatsächlich für all das, was du uns angetan hast um Vergebung.
In deiner gebrochenen Handschrift verkündest du noch einmal die einzige Weisheit, zu der du fähig warst.
Nach Regen folgt auch wieder Sonnenschein.
Und darunter schreibst du, dass du diesen Weg uns zu Liebe gewählt hast, weil du uns nicht den Sonnenschein geben kannst, den wir verdient hätten.
Für eine lange Zeit dachte ich, der angestaute Schmerz in mir würde mich verschlingen. Durch feine Risse in meinem Kokon entwich lähmend das gestaute Gift und schien jede Faser meines Körpers zu infizieren, bis es meine Seele zu ersticken drohte.
Doch letztlich sollte deine verhasste Redensart Recht behalten.
Nach einer langen und zermürbenden Regenphase, durchdrangen irgendwann heilende Sonnenstrahlen mein selbstzerstörerisches, von Drogen betäubtes Dasein.
Sicherlich spielte auch die Therapie in meinem Lebenswandel eine nicht unbeachtliche Rolle, aber ich nenne meinen Sonnenstrahl Dania. Dania lehrte mich die Kraft der Freude. Zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich den Begriff der Liebe in bedingungsloser Form. Nie hätte ich gedacht, dass eines Menschen Zuneigung mit so viel Wärme gezeichnet sein könnte. Es schien, als durchlebte ich eine zweite Geburt.
Ganz allmählich verlor ich die Furcht vor mir selbst, vor deinem Erbe, das irgendwo bösartig in mir schlummerte, und nur auf einen unachtsamen Moment wartete, um aus seinem Käfig zu brechen und die Kontrolle an sich zu reißen.
Ich wähnte mich tatsächlich in Sicherheit, glaubte, durch die Kraft der Liebe allem entkommen zu sein.
Aber die Vergangenheit holte mich letztlich ein. Sie kam in Gestalt eines Anrufs über mich - und entfesselte endlich, endlich dein Erbe in mir.
Der Tod meiner Schwester grub sich wie ein glühender Dolch in mein Herz. Wie lange hatte ich mich nicht mehr bei ihr gemeldet? Ich hatte es mir in einem neuen Kokon gemütlich gemacht, alles Unangenehme ausgesperrt. Aber plötzlich erschien sie mir ganz deutlich vor Augen, ihre abgemergelte Gestalt, verkrümmt auf einem kalten Fliesenboden liegend, der Blick starr und leblos an die Decke geheftet, neben ihr eine Spritze.
Ich habe keine klaren Erinnerungen an das, was dann folgte. Plötzlich platzte etwas in mir auf und mit einem Mal entlud sich all die unterdrückte Wut. Es kam zur geballten Freisetzung des Schmerzes, um den du mich betrogen hattest. Ich verfiel in einen Zustand grässlicher Tollheit und zerlegte die Wohnung. Ich muss mich in einem solchen Wahn befunden haben, dass ich Dania erst gewahr wurde, als ich sie bereits zu Boden gestreckt hatte. Und mein Gott, diese Angst in ihrem Blick, diese nackte Angst, wirkte wie ein Spiegel auf mich.
Ihre Augen waren meine Augen, ich sah durch sie, wie ich als kleiner Junge gesehen habe, als mein Vater das erste Mal auf mich eindrosch. Verständnislose Angst, fester Boden verwandelte sich plötzlich in reißenden Treibsand.
Ihre Augen waren meine Augen und ich sah durch sie mich - und ich erblickte dich!
Ich rannte wie nie zuvor in meinem Leben. Gewitter setzte ein, Blitze durchzuckten das Firmament, als würde der Schöpfer selbst meiner Taten zürnen. Ich rannte und rannte, rannte vor mir selbst hinfort, und wusste doch, dass ich mir nicht entkommen würde. Ich wusste nicht wohin ich lief, ich wollte einfach nur weg, doch schließlich hat mich mein Weg zum Kernpunkt allen Übels geführt.
"Ich hätte dich getötet, Vater", krächzte der junge Mann. Seine Hände hielten den Grabstein gepackt, als wollte er ihn schütteln. Der Regen schmetterte mit ungebremster Gewalt auf ihn nieder.
"Meinen Zorn hättest du nicht überlebt. Hättest du dich nicht umgebracht, wärest du durch meine Hand gestorben. Aber es war dumm von mir zu glauben, dass ich deine Bösartigkeit entwurzeln könnte, indem ich dich töte. Du lebst in mir weiter. Meine Mutter hast du schon lange getötet, in ihr ist nichts Lebendiges mehr. Deine Tochter hast du gestern erwischt. Bleibe nur noch ich übrig."
Der Junge Mann gab ein röchelndes Lachen von sich. Seine Stimme glich einem spärlichen Flüstern. Es bewohnte kaum mehr Kraft den unterkühlten Körper.
"Ich bin hergekommen um zu sterben, Vater. So komme ich doch noch zu meiner Rache." Er gab wieder den Schatten eines Lachens von sich. "Denn mit mir stirbst auch du endgültig."
Es regnete unbarmherzig die ganze Nacht hindurch, doch als die ersten Vogelstimmen den neuen Tag begrüßten, war der Friedhof in verheißungsvollen goldenen Sonnenschein getaucht.