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Durch den Eulenwald nach Hause
Ich nähere mich dem Kindheitsglück auf der Landstraße. Der Riegel schiebt sich zurück, das Schloss öffnet sich, die Erinnerungen erwachen, explodieren wie Blitze in mir, richten die Härchen auf, spannen die Sinne bis zum Äußersten. Ich fahre durch Wälder, Getreidefelder rauschen, säuseln Lieder, die mir bekannt vorkommen, erreiche die ersten Dörfer, deren Namen ich kenne: Adelsheim, Schefflenz. Bilder von Picknickausflügen an die Jagst erscheinen: Wasserspritzer, spielen, rennen, Grillwürste. Sommerwiesengeruch breitet sich aus. Ich lechze nach dem Geschmack von Zitronenwassereis. Auf einem Feld am Straßenrand steht ein Schild: Blumen zum Selbstpflücken. Ich halte an, atme durch, schneide zwanzig Rosen ab, stecke einen Fünfer in die Blechdose, freue mich über den günstigen Preis. Durchsichtiges Pflanzenblut klebt an meinen Fingern. Das Auto füllt sich mit Rosenduft, verdrängt den Zigarettenmief. Auf dem Weg am Fluss entlang suche ich nach Großvaters Baumgrundstück. Er hieß wie ich: Karl. Dort standen Apfel-, Birnen- und vor allem die Kirschbäume, auf die ich geklettert bin, deren Äste ich geschüttelt habe, von deren Früchten ich aß, bis mich Bauchweh plagte, weil ich mir zu viel in den Mund gestopft hatte. Dann erreiche ich den Eulenwald, wo das Baumhaus stand, Golo verschwand, das Unglück seinen Lauf nahm. Ich zittere, lausche auf die Stimmen der Vögel, Wölfe und ächzenden Bäume, finde die Dämonendunkelheit der Vergangenheit und beschleunige, um den Wald schneller zu durchqueren, das Dorf zu erreichen, das in einer Talsenke liegt, von Bäumen umzingelt.
Ich bin nach zwanzig Jahren zurück, weil Georg zu früh starb, seine Zwillingstöchter mich darum baten. Hier war ein Laden, dort wohnte die Grundschullehrerin, hier war der Metzger, dort die Kneipe, aus der ich meinen Vater abholen musste, wenn er zu lange wegblieb, zu viel soff. Nichts hat sich verändert, nur Fassaden blättern ab, die Farben verbleichen.
Tanja und Josefine umarmen mich, lächeln und schützen sich mit Maskentrauergesichtern. Ich bin froh, bei ihnen zu sein. Im Wohnzimmer beugen sie sich über den Tisch, schweigen, reißen die rosa, weißen, roten Blütenblätter ab. Sie fallen in den Behälter. Seidenweich streicheln sie dabei ihre Finger, während ich dasitze, von meiner Arbeitswoche erzähle, ihre Blumengesichter betrachte, als käme ich zufällig vorbei. Ihre Mutter kommt im letzten Moment die Treppe herunter, trägt ein buntes Sommerkleid.
Wir versammeln uns mit den anderen vor meinem Geburtshaus, um gemeinsam zum Friedhof zu gehen. Rahels Beine gleichen Baumstämmen, ihre Haare schmiegen sich wie Moos an den Schädel, die Kopfhaut schimmert durch. Ihr Trauerkleid liegt eng an. Sie hat einen grellroten Gürtel umgeschnallt. Ich erkenne sie an den Wasseraugen, dem Mondgesicht, dem zerknitterten Kinn. Sie nickt mir zu, gibt mir die Hand, starrt mich an, sucht den Blick, als wolle sie mich erforschen, ganz so wie damals. Ich schüttle Hände, versinke in Nebelgedanken, weiß nicht, wo ich hinschauen soll. Rahel schob den Kinderwagen, in dem ich lag, half mir auf, wenn ich fiel, passte auf, dass dem Goldlockenjungen nichts passierte.
„Karl, da bist du ja endlich“, sagt sie, verschränkt die Arme erst hinter dem Rücken, nimmt dann die Hand ihres Lebensgefährten, einem drahtigen Kerl mit Kurzhaarschnitt, und weist mit ausgestreckter Hand den Weg hinauf zum Friedhof.
Obwohl ich den Buckel auf ihrem Rücken entdecke, spüre ich keine Bedrohung. Mein Bruder warnte mich vor ihr, nannte sie eine Hexe und bleibt der Beerdigung fern, vielleicht weil Rahel ihn nicht ins Haus lässt. Ich fragte nicht nach dem Grund, als ich sie anrief. Ihre Stimme vibrierte am Telefon, wir wärmten uns aneinander und vergaßen, wie lange wir nichts voneinander gehört hatten.
Wir gehen an der Kirche vorbei bergan. Dahinter liegt der Friedhof. Am Rand der Mauer befindet sich das Grab der Großeltern. Die Glocken bleiben stumm, eine Messe wird nicht gelesen. Kein Pfarrer, kein Rabbi begleitet uns. Vor einem Loch im Boden steht die Urne auf einem Podest, daneben ein Mann im Anzug, der Zeremonienmeister, der die Rede hält, die sich Rahel, die Mädchen und ihre Mutter ausgedacht haben. Seine Stimme hallt über die Gräber, Schluchzen mischt sich darunter wie Wolfsgeheul. Ich sehe Tränen auf den Gesichtern. Dort drüben gibt es einen Stein, der an Golo erinnert, obwohl man ihn nie gefunden hat. Lieder erklingen. Georg hat sie selbst ausgesucht.
Rahel steht am Grab ihres Sohnes. Wortfetzen dringen zu mir: „Unter Schmerzen geboren, unter Schmerzen verloren“, verstehe ich, und: „Du bist mit einem Lächeln gegangen.“ Sie weint nicht, blickt zum Himmel, tritt ein paar Schritte zurück. Die Mädchen stecken Abschiedsbriefe in die Urne. Blumen, Steine flattern in die Grube. Einer nach dem anderen stellt sich ans Grab. Ich zögere.
„Geh ruhig hin, Karl“, sagt Rahel. Die Rosenblätter fühlen sich zart und lebendig an. Ich flüstere ein paar Worte und versuche herauszufinden, wie tief die Urne vergraben wird, gehe zu Rahel, streiche mit dem Finger über ihr Gesicht. Wie wächsern sie sich anfühlt.
Später sitzen wir im Zimmer gleich neben dem Eingang, unter uns der Keller, in dem ich manchmal eingesperrt wurde. Kaffee steht bereit, Stückchen werden herbeigeschafft. Selbst die Wände haben sie getäfelt, dunkles Holz, die Räume viel kleiner als die meiner Erinnerung.
„Hier wurden wir gebadet“, sage ich.
„Jeden Samstag“, antwortet Rahel.
„Vater hat die Zinkbadewanne geholt und sie mit heißem Wasser gefüllt, wir Kinder haben uns darüber gestritten, wer zuerst reindarf.“
„Es gab zwei, eine fürs Schlachten, eine zum Baden.“
„Ich habe mir immer vorgestellt, in der Blutwurstbrühe zu sitzen.“
„Heutzutage macht das keiner mehr. Viel zu teuer.“
„Kostet 500 €, nur fürs Schlachten“, ergänzt Rahels Lebensgefährte aus dem Hintergrund.
„Übrigens gibt’s im Neukauf Bratwürste im Angebot“, sagt Rahel. „Müsst ihr unbedingt kaufen, die sind wirklich klasse.“
„Hat sich einiges verändert hier“, sage ich und stehe auf.
„Ist eine Menge Zeit vergangen, seit du ins Internat gegangen bist.“
„Ich musste weg, die Eltern wollten es so.“
„Vielleicht.“
„Wegen Golo.“
„Vielleicht.“
„Wie geht’s den Eltern?“
„Ich besuche sie ab und zu im Heim.“
Kein Zimmer lasse ich aus, durchwandere das Haus, kann nicht mehr sitzenbleiben. Rahel zeigt mir die Räume. Meine Augen suchen nach den Ritzen, den Gesprächen, den Gefühlen, dem Lachen, dem Weinen, nach allem, was sich dort versteckt hält. Danach verabschiede ich mich, verspreche wieder zu kommen.
Mitten im Wald steige ich aus, knalle die Autotür zu. Ich gehe los, tränennass, muss nur dem Eulenruf folgen, nach der Weltenesche, nach Yggdrasil suchen und den Wölfen vertrauen.
Wörter: Riegel, Wald, Moos, Gürtel, Messe