- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Ehre, Stärke und Mut
Eine einzelne Schneeflocke tänzelt durch die Luft, wird vom Wind aufgewirbelt, beschreibt einige elegante Figuren und schwebt sachte dem weißen Boden entgegen.
Mein warmer Atem lässt in der kalten Luft kleine weiße Wölkchen sichtbar werden.
Etwas weiter entfernt tritt ein Hirsch aus dem tief verschneiten Wald und sieht uns für einen Moment ruhig an, dann macht er blitzschnell kehrt und verschwindet wieder zwischen den mächtigen Tannen.
Wie gerne würden meine Männer und ich es diesem König des Waldes gleichtun. Doch will uns das Schicksal diese Gnade nicht gönnen. Wir sind an die Fesseln unserer Mission und unseres Schwures gebunden - müssen warten.
Noch nie in meinem Leben ist die Zeit so langsam durch die Weltenuhr gerieselt. Noch nie habe ich versucht, den Augenblick mit all meiner Kraft an mich zu reißen und nicht mehr los zu lassen. Natürlich ein unmögliches Unterfangen. Je stärker ich mich gegen das Rad der Zeit stemme, desto schneller scheint es sich zu drehen.
Eine beinahe friedliche Stille hat sich über dem Wall ausgebreitet. Nicht einmal Vogelgezwitscher ist zu hören – als wäre das Schweigen der Natur ein Gebot. Es ist die trügerische Ruhe vor dem Sturm.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich die wilden Horden die Waldgrenze verlassen und uns, uns sehe ich fallen.
Unser Tod ist unausweichlich. Es ist unsere Bestimmung, hier, heute, unseren tapferen Brüdern, Vätern und Söhnen in die Ruhmeshallen zu folgen. Der einzige Trost, der uns bleibt, ist, dass unser Dahinscheiden nicht ohne Ziel ist - unser Leben gegen das von Tausenden. Ein Opfer, das subjektiv, für mich, dadurch nicht vertretbarer wird, aber besser als nichts in dieser verdammten und von Gott verlassenen Welt.
Ein frostiger Wind kommt auf. Ich ziehe meinen Umhang fester zu und plötzlich höre ich dumpfe Trommelschläge, die das allgewaltige Schweigen zerreißen.
Auch die anderen Kämpfer haben die Boten der Invasoren vernommen. Als wäre diese ein Art kollektiver Kommandant meiner Männer, nehmen sie um mich herum ihre Positionen ein.
Links und rechts von mir höre ich das knarrende Geräusch von Katapulten, die mit flammenden Tod geladen werden.
Bogenschützen treten hinter die Schießscharten und legen sich sorgfältig ihre Pfeile zurecht. Dazwischen bringen sich Kampfmagier in Stellung. Die Flügel meiner Engel peitschen unruhig durch die Luft und wirbeln den Schnee auf.
Die Gesichter meiner Männer sind frei von Ausdruck und Emotionen. Man könnte fast meinen, dass sie so etwas nicht besäßen.
Wir sind nur wenige, die sich der reißenden Flut entgegenstellen, aber sie sind die Besten, die noch übriggeblieben sind und Gefühle sind für sie nur unnötiger Ballast auf dem Weg zum Sieg oder zumindest zu ihrem Tod. Ein Sieg ist eine Utopie meiner Träume, aber mit Sicherheit werden diese Kreaturen tausendfach für unseren Tod bezahlen.
Das Trommeln ist mittlerweile angeschwollen. Es hat aufgehört zu schneien. Noch einmal blicke ich auf die weiße Landschaft. In wenigen Stunden wird man ihr die Unschuld gewaltsam entrissen haben. Sie wird von unserem Blut rot leuchten.
Dann hebe ich den Arm und ein klarer Fanfarenstoß eilt den dumpfen Trommeln entgegen.
„Ehre, Stärke und Mut bis in den Tod!“, schallt es aus meinen Reihen.
„Ehre, Stärke und Mut bis in den Tod!“, hallt es von den Mauern wieder.
„Balthasar, die Krieger des Ostens grüßen dich!“, rufen mir einige zu.
„Die Hallen der Helden warten auf uns! Lasst uns beweisen, dass wir ihrer würdig sind!“, schreie ich zurück.
Die Worte hinterlassen in meinem Mund einen bitteren Nachgeschmack. Warum können wir nicht später in ihre Hallen einkehren?
Das Trommeln ist unerträglich laut geworden. Dann schwirrt der erste Pfeil unseren Mauern entgegen. Der Sturm hat begonnen. Unser Schicksal ist besiegelt. Seufzend blicke ich zum Himmel auf. Es hat wieder angefangen zu schneien.