Eichenlaub
Der beißend kalte Herbstwind zerrte erbarmungslos an den beinahe restlos kahlen Zweigen der Eichen, welche zu beiden Seiten der Straße über selbige ragten und sich wie ein Geflecht hölzerner Schlangen miteinander verästelten. Zappelnd leisteten die wenigen übrigen rotbraunen Blätter erbitterten Widerstand gegen die nasse Brise, lieferten ihr einen widerwilligen Todeskampf, obwohl es völlig unumgänglich war, dass ein jedes von ihnen bald zu Boden fallen würde. Ein besonders kräftiger Luftstoß riss schließlich eines der letzten von ihnen aus deren Heimat in der Krone eines stattlichen Baumes und ohne Gnade pressten eisige Regentropfen auf das hilflos sich windende und umherwirbelnde einstig grüne Eichenblatt und beschleunigten den dennoch sanften Sturz gen Boden, wo es sich zu seinen toten Artgenossen gesellen sollte, einer dicken Schicht rostfarbenen Laubes. Doch plötzlich brauste ein schmutziger, mit Schlamm bespritzter Lieferwagen die Allee entlang und gab dem gerade noch zum Massengrabe verurteilten Blatt neuen Auftrieb und für einen Augenblick schlängelte es sich hoffnungsvoll auf in die Höhe, in Richtung des blassgrauen verwischten Himmels, bevor die Schwerkraft erneut siegte und es in das Gesicht eines mürrischen alten Mannes geweht wurde.
Schroff fuchtelte dieser es von seiner Stirn, sodass es traurig zu Boden glitt und sogleich im raschelnden Laub unterging, welches gerade von dem Herrn zusammengekehrt wurde. Die Spitzen der Harken vermochten nicht einmal den Asphalt zu kratzen, so einen dicken Teppich bildete das tote Blattwerk bereits, Eicheln zerbrachen knackend unter seinen Stiefelsohlen und er war als einzige Menschenseele weit und breit zu sehen. Offenbar wollte bei diesem tristen Wetter keiner mehr aus dem Haus, doch der Alte sammelte verbittert das Laub. Lediglich Autos fuhren gelegentlich vorbei, kündigten sich durch den sanften Dunst mit ihren blassen Scheinwerfern nicht lange vorher an, und machten mit einem Luftstoß die Arbeit des Mannes wieder zunichte. Jedes Mal hob er die geballte Faust und bellte den Fahrern wüste Worte hinterher, doch keiner von ihnen tat ihm den Gefallen und stellte sich seinen verbitterten Vorwürfen, sondern verschwand wieder im Nebel, ehe das Schimpfen verklungen war.
Missmutig stieß er seinen Rechen gegen die nassen Blatthaufen, die faltigen Hände eng um den hölzernen Stiel geschlossen, sodass blassblaue Adern auf der bleichen fleckigen Haut hervortraten. Die kleinen Augen blinzelten, vom eisigen Wind gepeinigt, verschwommen blickte er genässten Blickes zur Straße, das fahle Gesicht von lähmend kaltem Schmerz verzogen. Noch immer und nun wohl erst recht dachte kein Mensch aus der Siedlung von Backsteinreihenhäusern daran, dem alten Mann zur Hand zu gehen, vermutlich saßen sie alle in ihren warmen Stuben, lauschten, wie sanfte Regentropfen an den milchig beschlagenen Fenstern zerplatzten, der Wind heulte und der Nebel die nur wenige Meter entfernte Straße verschluckte und vor neugierigen Nachbarsaugen verbarg.
Noch lange ging es so weiter, stürmische Windstöße und vorbeifahrende Autos machten dem Alten das Leben schwer, zerstörten, was er mühselig zusammengekehrt hatte, und mit jedem mal verschlechterte sich seine Laune zusehends, während der Nebel sich immer weiter verdichtete und wie ein leichenfahler Arm aus Dunst tiefer in die Eichenallee kroch. Bald schon brach die Dunkelheit über der Vorstadtsiedlung ein, wie Schatten ragten die kahlen Äste der Eichen schwarz in die Höhe über den dunkelgrauen Himmel. Immer wieder erklang das Geräusch von Metall, das auf Asphalt knallte, durch die feuchte Luft, hallte von den rötlichen Backsteinwänden wider, verhallte schließlich so langsam wie sich die Feuchte auf die blassen, jedoch akribisch kurz gemähten Rasenanlagen legte. Da blitzte in der Ferne das zweifache Leuchten von Nebelscheinwerfern auf und das ausgemergelte Gesicht des alten Mannes verzog sich zu einer verärgerten Grimasse, als sich ein weiterer Unruhestifter ankündigte, der seine Arbeit erneut vergebens machen sollte. Vor Zorn zitterten die knochigen Hände, welche sich um den Rechen klammerten, und ohne nachzudenken hob er die trotz der vielen Jahre, die sie bereits zählten, mit erstaunlicher Kraft gesegneten Arme, und als die Lichter näher kamen und der Wagen schließlich einhergehend mit einem leisen Brummen vollständig auszumachen war, schmiss der Mann sein Gartenwerkzeug wortlos und von Wut getrieben von sich.
Die Krallen der Harke kratzten geräuschvoll über die Frontscheibe, Blätter, die noch zwischen den Zähnen hingen, verteilten sich auf dem nassen Glas und blieben dort kleben. Die Reifen quietschten gedehnt, wild tanzten die Zwillinge der Nebellichter, welche sich auf der von Regen benetzten Straße spiegelten, über den grauschwarzen Untergrund und kamen erst zum Halt, als mit ohrenbetäubendem Knirschen und Krachen eine der Eichen erzitterte, die der Wagen nach seinem haltlosen Schleudern abseits der Straße getroffen hatte.
Nun trat Stille ein. Eine ekelerregende Stille, die sich nicht einmal der Alte wünschte. Sein erster Gedanke galt dem Laubhaufen, den das Auto erwischt hatte, und seiner sorgfältig gepflegten Eiche, und sogleich verachtete er sich selbst dafür, als er unsicher auf das Wrack zu humpelte. Noch immer zitterte er, jedoch nicht mehr aus Zorn, sondern aus Furcht davor, was sich seinen Augen gleich bieten würde. Unsicher griff eine Hand nach der Türe auf der Fahrerseite und öffnete sie mit einem Ruck. Das Licht des Innenraums schaltete sich ein. Auf der Stelle stolperte der Greis rückwärts über den Rechen, der neben dem zerstörten Wagen lag, und Übelkeit schwoll in ihm an.
Der Fahrer, ein junger Mann, hing schlaff und in einer unwirklich wirkenden Haltung in seinem Gurt, eine Stange, die er wohl auf dem Rücksitz und im Kofferraum abgelegt hatte, bohrte sich nun durch seinen Brustkorb und trat einige Zentimeter weit aus der Haut. Der Bauch war weit aufgeschnitten, wovon, konnte der Alte nicht ausmachen, doch was da aus dem Pullover quoll, sah verdächtig nach Teilen des Verdauungstrakts aus. Am Kopf klaffte unter dem rabenschwarzen Haar eine gewaltige Delle, weiße Knochensplitter waren am Ansatz zu sehen, und im von Entsetzen gelähmten Gesicht fehlten dem Kiefer offenbar einige Zähne. Hitze stieg in dem alten Mann auf, als ein Röcheln von dem Unfallopfer ausging und ein klebriger Faden aus dem Mund triefte.
Was hatte er nur getan? Hastig blickte er sich um. Vielleicht hatte es niemand gesehen, der Nebel war dicht genug. Doch dann sah er, dass eine weitere Gestalt sich im Nebel erhob. Ein Mantel umwehte die Silhouette, als plötzlich die Straßenlaternen flackerten und aufleuchteten, das Licht diffus im Dunst verschwimmend und einen matten Schein über die Straße legend. Ein fragendes und entsetztes Gesicht einer Frau starrte den Greis aus großen Augen an. Erneut dachte der Alte nicht nach, als er handelte. Er griff eilig nach dem Rechen, hob ihn an, und noch bevor der weiblichen Kehle ein Schrei entfahren konnte, bohrten sich die Zähne der Waffe in den Hals der vor Schreck wehrlosen Frau. Die rostigen und abgenutzten Zähne verharkten sich zu sehr im Fleisch, sodass der Alte den Rechen nicht mehr aus dem Leib zu ziehen vermochte und nur zusehen konnte, wie das warme Blut in Stößen aus dem Hals hinab in den Pelzkragen des Mantels quoll. Der Körper blieb einige Sekunden lang reglos stehen, bevor er in das Laub am Straßenrand kippte, der hölzerne Stiel makaber gegen das schwache Licht der Straßenlaternen ragend. Einige Male zuckte der Leib, bevor er erschlaffte.
Den Greis konnte nichts mehr hier halten. Er schlängelte sich humpelnd vorbei am zweiten Wagen, der auf der Straße stand, und aus dem die Frau wohl unbemerkt ausgestiegen war. Offenbar hatte er die Ankunft nicht bemerkt. Schwer schnaufend schleppte er sich zu seinem Haus, erwischte nach mehreren Versuchen zitternd mit dem Schlüssel das Schloss und sperrte sich selbst, durchnässt von kaltem Schweiß, in seiner Wohnung ein, schaltete kein Licht mehr ein und verharrte die ganze Nacht durch in der Finsternis.
Erst in den frühen Morgenstunden durchdrang Blaulicht flackernd den Nebel und sein Wohnzimmerfenster und beleuchtete die altmodisch eingerichtete Wohnung, an deren Wänden überall Waffen und Abzeichen aus zwei Weltkriegen hingen. Es dauerte nicht lange, da klopfte es auch schon lautstark an seiner Türe aus dunklem Eichenholz. Erneut stieg der Angstschweiß auf die Stirn des Greises, doch er konnte wieder klar denken und wusste, dass er nicht davon kommen könnte, er war alt, die Polizeibeamten vermutlich jung und keinesfalls dumm. Zwar hatte er oft bei sich gedacht, dass er gerne einmal seine Schaufel über die Köpfe seiner faulen und untätigen Nachbarn schlagen würde, und auch wenn er nie ernsthaft Mord oder dergleichen vorgehabt hatte, so befürchtete er doch, dass dies dem Gericht völlig egal sein würde angesichts dessen, was nun tatsächlich geschehen war. Es schien also, als wäre ein Entkommen unmöglich.
Es klopfte noch einmal, etwas ungeduldiger, fordernder. Tief und zittrig durchatmend humpelte der Greis zur Türe und öffnete sie knarrend, um zwei uniformierten Polizisten ins Gesicht zu blicken, die mit betont neutralen Mienen auf ihn hinab starrten. Gerade wollte er bereits gestehen, bevor die Vorwürfe auf ihn niederprasseln konnten, vielleicht konnte er so ein mildes Urteil herausschlagen (und, wie er anbei dachte, war dies wohl auch das mindeste, was er seinen Opfern schuldete), doch einer der Beamten erhob die Stimme, ehe er dazu kam, heiser alles frei heraus zu erzählen, was in der Nacht geschehen war. Er fragte den Alten, ob der Rechen, den sein Kollege in der Hand hielt, ihm gehöre, wie die Nachbarn behauptet hätten. Der Mann nickte. Er fragte, ob er gestern Laub zusammengekehrt hatte, wie die Nachbarn behauptet hätten. Der Mann nickte. Er fragte, ob er den Rechen denn nicht vermisst habe. Der Mann schüttelte den Kopf.
Da seufzte der Polizist und erklärte ihm, dass er ihn offenbar draußen habe liegen lassen und nach einem Unfall, den eine Frau – soweit man die Lage zu diesem Zeitpunkt einschätzen könne - eigentlich unverletzt überstanden habe, gestolpert und mit der Kehle unglücklich auf den Rechen gestürzt sein müsse. Entsetzt und blass starrte der Greis dem Beamten ins Gesicht und bejahte, als dieser sagte, er müsse den Rechen mitnehmen, lediglich der Formalitäten wegen, er würde ihn auch wieder bekommen.
Als sie von der Türschwelle verschwunden waren, die Türe knarrend verschlossen war und mit einem Klicken ins Schloss einrastete und der Alte wieder zu seinem braunen Sessel humpelte, war seine Miene unergründlich. Er ließ sich in das weiche Polster sinken und beobachtete, wie ein einsames Blatt am Fenster vorbei auf seinen erst kürzlich gemähten Rasen sank.
Hoffentlich würde er seinen Rechen bald wieder bekommen. Es wartete noch eine Menge Arbeit mit dem Laub auf ihn.