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Eigengrau
»Die älteste und stärkste Emotion des Menschen ist Angst, und die älteste und stärkste Form der Angst ist die Angst vor dem Unbekannten.«
— H. P. Lovecraft
Nachts liege ich wach und starre in die Leere, die nie ganz schwarz, sondern anthrazit ist, obwohl ein Rollladen das Straßenlicht abschirmt von grellen Werbetafeln und Laternen – und es wird niemals völlig still. Ich höre die Partygänger und Nachtschwärmer an der Dönerbude am Fischmarkt rufen, sie lachen. Früher gehörte ich dazu, jetzt bin ich ein Einzeller ohne Funktion oder ein ferner Planet, der … der … Meine Gedanken kreisen um sich selbst; und bevor ich in den Abgrund falle, stehe ich auf. Im Flur regle ich die relative Luftfeuchtigkeit und stelle die Heizung neu ein.
Ich lebe hinter den Wänden, habe mir einen eigenen Kosmos aus Büchern und Zimmerpflanzen geschaffen, mit einer Couch, vor dem mein Rechner als Fenster zur Welt steht, der immer läuft; ständig surrt der Lüfter, dessen Schlitz ich peinlich sauber halte wie alles andere. Ich hasse Staub, dreckiges Geschirr, Wasserflecken. Mein Bad, meine Küche sind so weiß wie ein Raumschiff. Ich wechsle die Filterpatrone, ehe ich eine Kapsel in die Kaffeemaschine einlege und werfe den Fleischdrucker an: Ich möchte Speck zum Frühstück um halb Sieben. Ich koche selbst, einfache Gerichte … Fertigprodukte sind für mich Anzeichen von Verwahrlosung, sich von Dosenfutter zu ernähren wie ein Köter. Meine Katze musste ich einschläfern lassen, letzten Monat, war nur noch Haut und Knochen.
Sie fehlt mir sehr.
Drei Uhr nachts, aber die Leute sind online, während sich der Globus weiterwälzt, mit seinen Landmassen, Meeren und Zeitzonen; das Internet ist tot, vielleicht noch eine postapokalyptische Einöde, von Robotern bevölkert. Falls Menschen etwas reintragen: handgeschriebene Texte, ein selbstgespieltes Lied, schlägt gleich ein Algorithmus seine Klauen und Zähne rein, um es analysieren, es verwertbar zu machen, es einzuordnen, zu klassifizieren und es schließlich mit Reichweite und Gewinnspanne wieder auszuspucken. Keiner, der davon leben will, schreibt einen Artikel für Menschen, sondern für die Maschine – aber lieber schreibt sie ihre Artikel selbst, macht ihre eigenen Bilder und Filme, ihre leichten Pophits, und es ist so viel besser als von Menschenhand.
Aber es gibt Oasen in der Wüste – wie diese eine Webseite, die bei Tag und Nacht geöffnet bleibt: ein Videostream mit fraktalen Animationen, dazu Loungemusik, mathematisch perfekt wie Fugen von Bach, und sie erfüllt meine Wohnung mit Leben, sobald ich die Boxen einschalte. Neben den Mandelbroten und Julia-Mengen scrollt ein Chatverlauf, und dort, wie Wasser unter Steinen, sind die Leute versammelt, manchmal wenige, oft hunderte gleichzeitig, mit der Zeit kennt man sich:
Wie geht es dir heute, Mona Lisa_12?
Mein virtuelles Pflegeheim, vielmehr eine Irrenanstalt mit Verrückten aus der ganzen Welt, oft Bot verseucht wie alles andere, aber man merkt doch schnell den Unterschied: Einsamkeit, Depression und Trauer kann man schlecht faken. Keine Religion, keine Politik, sonst drücken wir den roten Knopf.
Alles besser als diese Schnulzen, Blues oder Metal, über verlorene Frauen, die man wiederhaben will. Reißt euch zusammen, Leute!
Mir ist gerade nicht nach Reden, deshalb lese ich nur mit, während ich den heißen Espresso aus der Tasse nippe. Ich kann es sowieso kaum beschreiben … wie schwer die Trennung von Julia war; und wie wertlos ich mich fühle. Erst die guten Jahre als Grafikstudent, zehn Semester mit fetten Partys und mancher Bestnote, danach Screendesigner, dann gleich Artdirector bei einer großen Werbeagentur; dann kam die künstliche Intelligenz mit ihren neuronalen Netzen: Wir haben kurz über schielende Augen und die lustig-mutierten Hände mit sechs Fingern gelacht, doch sie wurden schnell besser und dann so perfekt wie Dürer oder Da Vinci.
Alle Klagen gegen Copyrights liefen ins Leere, obwohl man unzählige Werke von den Künstlern geklaut hat, um ihre Netzwerke zu trainieren, doch sie haben im zweiten Schritt neu-generierte Bilder mit ihrer Pinselführung erzeugt, um die Netzwerke zu speisen und die Originale auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Raffiniert … Hätte es auch so gemacht.
Eins, zwei Jahre konnte ich mich als Freelancer über Wasser halten, indem ich diese perversen Bilder für ein Plattenlabel nachbearbeitet habe. Jetzt bin ich arbeitslos – eben noch ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft, jetzt Pöbel und Abschaum. Die Inflation erdrückt mich, Russland marschiert auf Rumänien zu und die NATO in Schockstarre. Im Chat reichen sich alle die Hände, warum nicht im Reallife? Ist doch Scheiße! Auch das schreibe ich nicht.
Was fange ich bloß mit mir an? Etwas Gymnastik gegen Sechs für das schlimme Knie, obwohl ich den Bauch nicht loswerde, danach Duschen. Später zocken. Und davor wandere ich im finsteren Tal auf der Suche nach … nach –
Da sehe ich im Postfach, dass meine Ex mir nach langer Funkstille gestern Abend, sicher in Sektlaune, eine Nachricht geschickt hat. Ich öffne sie und falle! Eine Rundmail an alle, ein kurzer Absatz, als Bilddatei ein Foto vom ersten Kind.
Heute wurde unser Wonneproppen geliefert! Julian. 4,2 Kilo. Wir sind so glücklich. <3
Erst will ich die Nachricht löschen, bleibe erwachsen, ich kann das verkraften, sodass ich auf Reply klicke und schreibe: Süßer Fratz. Alles Gute für euch.
– auf der Suche nach Artikeln, warum man bloß keine Kinder in diese gottverdammte Welt setzen sollte, egal, ob natürlich oder von Amazon, und finde erstaunlich viele Quellen, allen voran bei Extinction Rebellion und VHEMT, beide mittlerweile als schräge Religion anerkannt: Mögen wir lange leben – und aussterben. Durchaus sympathisch. Ein paar Apokalyptiker. Viele Aluhüte. Okay.
Ich arbeite mich durch die gängigen Untergangsmythen, Ragnarök und Atlantis, alles so: nach mir die Sintflut … Besser wäre eine Welt ganz ohne Menschen, nur die wilden Tiere bleiben, die durch Betonruinen streifen und auf verlassenen Autobahnen grasen. Oder man rottet alles aus, mit einem einzigen, atomaren Blitz oder danach in einer neuen Eiszeit. Die Bedrohung ist realer denn nie.
Dann stoße ich auf den übersetzten Eintrag einer koreanischen Suchmaschine für antike Bücher und klicke ihn an:
Bücher für das Ende der Welt. 299 $ // 277,46 €.
Auch als Scan verfügbar für 29 $ // 26,91 €.
In den Einkaufskorb. Bestellung absenden! Sowas kaufe ich eigentlich nur besoffen, um es am nächsten Tag zu bereuen, doch mir ist gerade alles total egal …
#
Mein Postkasten blinkt: angehängt eine komprimierte Datei, die ich durch einen Virusscanner ziehe, dann entpacke: Es ist ein Konvolut aus PDFs, ich lege sie im Neuen Ordner ab; öffne das erste, bin aber noch zu müde, um ein Dokument zu studieren, also lade ich eins in meine Sprachmaschine hoch, die mir alles prosaisch zusammenfasst:
In uralten Hallen, verloren im Nebel der Zeit, klettern sie ins Okkulte: Mit vergilbten Schriften beschwören sie etwas herauf, dessen Name niemals oder nur flüsternd ausgesprochen werden darf. Torheit, diese Fäden zwischen den Welten zu weben, um das Wesen herbeizurufen, das jenseits des Verstandes lauert.
Ach, wie der gute Lovecraft. Irgendwo habe ich alte Hörbücher als Mp3. Ich klicke aufs nächste Kapitel, lese die ersten Zeilen, doch mein Magen knurrt. Also gehe ich zur Küche, nehme den Speck aus dem Drucker, brate ihn mit Zwieback und einem Eier-Konzentrat, das in der fettigen Soße verläuft. Kein Training heute. Später duschen. Es wird schon hell.
Interessante Literatur; eingescannte, okkulte Diagramme und komplexe Zeichnungen und Notenblätter – viele Fabelwesen, später erschreckende Abbildungen wie aus chinesischen Gore-Filmen. Ich schicke die Sprachmaschine ins Wochenende, will mich auf den Balkon setzen, der heute Morgen sonnig ist, um selbst etwas zu lesen, als ich auf Passagen in einer fremden Sprache stoße, die weder ich, noch die gängigen Übersetzer kennen.
Ich werfe alle Zauberbücher in einen Topf, lasse eine KI nach dem Stein von Rosette suchen … und nach wenigen Sekunden spuckt sie mir folgende Passage aus:
N'yurag s'ithraeoth x'yulnath k'athalus.
Die Zungen der Lichtwesen rufen.
Bull's Eye! Mitten ins Schwarze. Ist das gefährlich, H.P.? Ach, nur ein Spiel. Ich drucke mir beide Zeilen aus.
Habe doch ein paar Sit-ups gemacht, geduscht, während sich die Worterkennung in alle Dateien gräbt und die markierten Stellen übersetzt. Jetzt sitze ich draußen und beobachte den Fischmarkt: wie die Lastwagen abfahren, die Stände sich öffnen, Publikum und Käufer kommen. Ich kann die Makrelen, Scampis und Krabbentiere bis hierhin riechen: Algen, Salz und feuchter Sand. Als Attraktion wird heute ein ganzer Thunfisch von japanischen Metzgern filetiert.
Hunger, aber nicht auf Meeresfrüchte. Bestelle mir tiefgefrorene Kost via Drone. Manchmal reicht mir das billige, künstliche Zeug einfach nicht. Sie landet gerade auf dem Balkon, neben dem Korbsessel und dem Lavendel, der längst grau ist, und der Gießkanne aus weißer Emaille. Ich nehme die Lieferung entgegen, quittiere mit Fingerabdruck, und während sie zum Himmel aufschwebt, reiße ich die Verpackung weg:
Es liegt in der goldenen Schale wie ein Engelsflügel: ein Hähnchen aus biologischer Tierhaltung, was auch immer das heißen mag. Im Ofen auf 200 Grad für 45 Minuten knusprig lecker braten. Mehrmals wenden.
So hat Julia also ihr Kind gekriegt, gebracht vom Storch von Amazon. Ich lache bitter!
Ach, ich vermisse ihre Nähe, das Parfüm, das nach Vanille und Sex riecht; und gemeinsam Pferde zu stehlen, den Ausblick über ein Tal im Frühling.
War ich zu egozentrisch? Ja. Ich hatte keine Zeit für sie. Musste arbeiten. Dinge ans Laufen kriegen … Heute dreht sich nichts mehr um mich: ein toter Mond abseits der Sonne im Schatten der Erde.
Ich fürchte die Zukunft.
Mit einer Gabel schäle ich das glänzend, fettigweiße Fleisch vom Knochen, schiebe es mir in den Mund, dann greife ich zu: dieses wohlig archaische Gefühl, in einen Hühnerschenkel zu beißen, mit fettigen Fingern einen Streifen vom Knochen abzuziehen. Ich bin ein Höhlenmensch, bete die Sonne und den Mond und den schwarzen Monolithen an!
Angeekelt schiebe ich die Reste in den Mülleimer, wasche mir gründlich die Hände mit Flüssigseife, ehe ich die VR-Brille aufsetze, den Controller in die Hände nehme und das Computerspiel starte:
Flugmodus.
Mein Gott. Diese Texte sind krank, obwohl sie Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende alt scheinen – selbst in der Bibel, die echt nicht zimperlich ist, bleibt alles schaurig schön. Jesus wird ans Kreuz genagelt. Halleluja! Danach die Apokalypse. Aber das hier, das ist anders … Sollte alle Dateien wie Pornografie löschen. Aber eine seltsame Neugier lässt mich weiterlesen … über … das kann ich nicht sagen. Wenn man es aufschreibt, ist es billig und schal wie der Bierrest in der Flasche am nächsten Morgen: all diese wunderbaren Küsten mit silbernen Leuchttürmen, deren Treppen wie Muscheln sind … Ich sehe sie. Und höre die Sirene singen wie Brandung. Und in der Tiefe: ein Schatten.
Kopfschmerzen.
Ich lege mich hin. Und träume, wie abgetriebene Föten aus meinem Fleischdrucker krabbeln wie Schaben.
In unauslotbaren Gründen lauert eine Kreatur von uraltem Grauen. Mit schuppiger Haut, die von Meeresalgen bedeckt ist, schlängelt sich ihr monströser Leib durch die Fluten.
Abends sitze ich in der Küche bei einem Tee, esse einen Toast mit ausgedruckter Salami und denke über die Bücher für das Ende der Welt nach: Was, wenn das nicht nur esoterischer Unsinn wäre, sondern wirklich ein meeresdunkler, tiefer Schatten zwischen den gedruckten Zeilen lauert und heraufbeschwört werden könnte: ein uraltes, kosmisches Wesen, das alles verschlingt wie die Sonne unsere Erde in fünf Milliarden Jahren.
Kann ich es rufen? Will ich es überhaupt?
Was wäre, wenn Lovecraft tatsächlich auf etwas gestoßen ist? Sein Necronomicon ist Fiktion, es existiert kein Cthulhu und wie sie alle heißen, und die Berge des Wahnsinns …
Oder etwa doch?
Mathematische Klänge, danach ein neues Lied.
Wenn du am Abgrund stehst, schau bloß nicht runter, sagen sie, sondern dreh dich um: Siehst du das Gras, das der Wind zerzaust und die schönen Wildblumen am Hang? Die Grille zirpt, der Vogel singt. Du lebst! Es gibt Liebe in der Welt.
Aber niemand schenkt mir ein Lächeln. Ich saß letzte Woche in der U-Bahn auf dem Weg zur Arbeitskaserne und habe meine Mitbürger betrachtet: starre, genormte Gesichter, ständig überwacht von Kameras, die jedes Fehlverhalten registrieren, keine Menschen, sondern verkörperte Zahlen. Konsumenten. Fleisch. Nur Tiere, die fressen, sich vermehren und sterben – in der Erde verscharrt oder verbrannt.
Meine Jugend, die Mädchen, ich will alles zurück, alles, was das Leben mir abgenommen hat. Ich werde alt und will meine Katze im Arm halten. Und meine Frau. Ich brauche keine Falten, keinen Fettbauch, keine Gicht im Knie – ich will frei sein. Leben, anstatt halbtot zu sein. Ich hatte dieses Grundvertrauen in mich und die Welt, dass alles gut werden wird, wenn man sich nur richtig anstrengt: dass Talent gleich Erfolg ist; nichts davon ist wahr.
Meine Familie am Sonntag beim Kaffeetisch; mich geborgen zu fühlen in dieser eiskalten Welt.
Ich will die Kontrolle zurück!
Drei Kreuze auf Golgotha, jetzt als Vogelscheuchen im Kornfeld … davon träume ich. Und Jesus weint. War das wirklich ein Traum? Meine Bettdecke ist klamm, das Kopfkissen auch, durchgeschwitzt. Ich liege wach und starre in die Tiefe: grau, nicht schwarz; da ist immer ein Leuchten wie Quallen, die über Korallen schweben.
Später kann ich die Lastwagen hören, die wieder Tonnen an Lachs, Forellen und seltsamem Meeresgetier zum Markt bringen.
Dieser Gestank.
In der Dämmerung sehe ich Phantome aus einer anderen Welt – nein, bloß Muster wie Verunreinigungen im Glaskörper meiner Augen: Schlieren, die schwimmen und schwarze Punkte wie Fische.
Mittlerweile empfinde ich die Sonne als störend: Man sieht den Staub auf dem Spülkasten, die Bartstoppeln auf und neben dem Waschbecken – die Spritzer von Zahnpasta und Flecken am Spiegel, in den ich ungern schaue … Kann meine wundroten Augen nicht länger ertragen, diese blasse Nase und den wilden Bart. Einmal habe ich zu lange in mich reingestarrt, dass Äderchen zu fraktalen Flüssen aus Blut wurden in der schneeweißen Landschaft der Lederhaut, die Iris ein aschgrauer Vulkan: Droneshot, und die Kamera sinkt, sinkt und zeigt mir … zeigt …
Konnte mich rechtzeitig wegreißen.
Von der Außenwelt abgeschottet: Mein Raumschiff bleibt für immer in Quarantäne, und grüne U-Boot-Lampen blinken. Die letzte Meldung im Newsfeed vor drei Tagen: Russische Truppen an der rumänischen Grenze. NATO reagiert.
Heureka! Ich habe den Fehler erkannt! Ihr müsst es verstehen: Alle Kulte, alle Religionen sind – tippe ich in den Chat, um gleich blockiert zu werden. Der Spamfilter kennt keine Gnade.
Die Musik stoppt abrupt. Stille rauscht in meinen Ohren.
Okkultisten. Akolythen. Priester. Schamanen. Zelte, Höhlen, Tempel, göttliche Kathedralen, deren Buntglasfenster in der Sonne erstrahlen: der Goldene Schnitt! Weihrauch. Kerzen. Kreuze. Knochen und Gedärme, aus denen sie die Zukunft lesen.
Dein Reich komme!
Dabei ewig gestrig. Wie lange schon haben sie versucht, die Vorzeit, das Vergangene ans Tageslicht zu zerren wie einen abgemagerten Hund. Aber sie haben etwas übersehen: die zeitliche Distanz zwischen dem Schatten der Urzeit und heute: Äonen. Äonen! Und das bedeutet, schreibe ich hastig auf einen Block, damit ich meine Gedanken nicht gleich vergesse, dass die Atmosphäre auf der Erde eine andere war, eine andere – und andere Wesen gelebt haben, deren Körperbau, deren Stimmen anders waren, wenn auch vielleicht schon menschlich, humanoid. Alle Versuche laufen ins Leere, wenn man das nicht bedenkt!
Ich stelle die Heizung auf tropische 30 Grad und warte … warte, dass die Luftfeuchtigkeit auf 100 Prozent steigt.
Zahlen, Zahlen.
Mit einer Liedmaschine habe ich die exakten Noten aus den Texten extrahieren können und die höchste Oktave bestimmt: Sie liegt über allem, was der menschliche Kehlkopf oder ein Tier hervorbringen könnte …
Also habe ich mir im Darknet eine verbotene Blaupause für nackte Waifus im Mangastyle besorgt und ausgedruckt. Sie ist niedlich, hat zarte Stimmbänder. Und ihr Gesang wie Sirenen, die Boote und Galeeren und Fregatten seither zu den Riffen locken. Obertöne, die ich nicht hören kann – aber die streunenden Hunde, die am Markt herumlungern, schlagen an und kläffen wie verrückt!
Ich hoffe so sehr, dass wir mehr als nur Fleisch aus dieser archaischen, genetischen Kopiermaschine sind – mit diesen Augen, die kein eigenes Organ, sondern Teil des Gehirns sind und wie irre aus dem Knochenschädel glotzen. Dass wir eine Seele haben, etwas Schönes, etwas Kostbares, etwa Reines in uns selbst ist.
Das Klima ist mittlerweile sehr gut, aber so feucht, dass meine Wände schimmeln. Und es zieht wie Hechtsuppe, weil ich die Luft mit kleinen Standventilatoren umwälzen muss; ein Geruch von verrottenden Algen und toten Quallen am Strand. Versuche es mit Reinigungsschaum, der nach Katzenpisse stinkt – werde alles in den Griff kriegen! Dieser elende Kampf gegen mich selbst und den Verfall.
Eine Tropenpflanze blüht.
Ernähre mich von Dosenfutter: das Hühnchen in Aspik und Erbsen mit Möhren, die ich gierig in mich reinschlinge und die Finger abschlecke. Ein Kilo an Thunfisch ist teurer als Gold. Wie krass … oder?
Wem schreibe ich das?
Habe Schleim in der Lunge, rasselnden Husten; und mein Ausschlag auf der Haut wird schlimmer: silbrige Fischschuppen, die als Perlmutt in tausend Farben glänzen. Bin ich auf Droge? Ist das meine Hand mit fünf Fingern‽
Die Waifu ist tot, im Klo runtergespült … Ich trauere hart, aber es muss weitergehen. Ich habe den Tod meiner Katze verkraftet, also auch das hier – es ist so erbärmlich.
Nehme Omas Kochtopf, den mit den eingestanzten Blumen, und rühre die Ursuppe an: ein rosanes Gelee wie Wackelpudding – und trage ihn ins Wohnzimmer.
Ich habe Dinge ausgedruckt, die jeder Beschreibung spotten! Blind kriechen sie durch meine Wohnung, betasten die Wände, die nassen Türen oder mein Gesicht zaghaft im Schlaf, elende Homunkuli, obwohl ich kaum schlafen kann; bis es mir gelingt, aus einem Zellhaufen einen Fortsatz sprießen zu lassen, der wie die Vene eines Rauchers in der Inkubationslache liegt: Er schaut mich traurig an.
Kein Wunder, dass Gott sich am achten Tag angeekelt von seiner Schöpfung abgewandt hat: Ich sehe ihn, wie er das schwere Tuch über den Käfig breitet und wartet, bis das fröhliche Zwitschern aufhört; alle Vöglein schlafen, verdursten. Und Gott erschuf den Krebs, der uns von innen auffrisst. Arthrose, Ausschlag, die vielen Krankheiten und Gebrechen, Pest und Cholera. Und den Tod.
Und er sah, er sah, dass –
Sehet! Hört es euch an, diesen infernalischen Chor aus … aus … und wie sie SINGEN!
»Eigengrau, visuelle Empfindung ohne äußeren Reiz. Hält sich eine Person längere Zeit in einem völlig dunklen Raum auf, so erscheint ihr das Gesichtsfeld nicht schwarz, sondern in einem mittleren Grau. Das Gesichtsfeld enthält räumlich und zeitlich veränderliche hellere Schleier, Lichtpunkte […] veranlagte Personen können in diesen Strukturen Gesichter oder menschliche Gestalten sehen […] die Ursache für das Phänomen der Gespenster.«
— Spektrum der Wissenschaft