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Eigentlich ein schöner Tag
Eigentlich ein schöner Tag
Er lenkte den Van von der Straße auf den großen, von dichten Bäumen und Sträuchern umgebenen Parkplatz. Der Schotter knirschte unter den Reifen, während er langsam an den parkenden Autos vorüber fuhr. In der ersten Reihe, parallel zur Straße fand er eine Lücke und ließ den Wagen vorsichtig rückwärts auf den freien Platz rollen. Er parkte immer so, dass er, ohne rangieren zu müssen wegfahren konnte und hatte sich nie überlegt, warum er das tat.
An diesem Tag kam ihm der Gedanke an Flucht, doch das war Unsinn.
Er setzte den Wagen wieder ein kleines Stück vor, bis die Sicht durch das dichte Blattwerk der Bäume frei war, auf das große Gebäude auf der anderen Straßenseite. Der Himmel war wolkenlos. Die Mittagssonne ließ die riesige, gepflasterte Fläche vor den breiten Treppen des mächtigen Eingangsportals hell, fast golden glänzen. Blühende Sträucher, die weiter oben das schwere, hölzerne Tor umsäumten, leuchteten in den prächtigsten Farben. Es war eigentlich ein schöner Tag. So schön, wie man sich ihn nur wünschen konnte.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass sie in wenigen Minuten kommen müsste. Es war nicht ihre Art, Jemanden warten zu lassen.
Er ließ den Fahrersitz ein wenig zurückgleiten und machte es sich bequem. Oft hatte er sich ausgemalt, wie sie an diesem Tag wohl aussehen würde. …Wunderschön würde sie aussehen. Vielleicht trug sie die langen Haare hochgesteckt, so wie sie es schon einmal gemacht hatte. Sie zeigte ihren schlanken Hals, aufrecht, majestätisch und stolz.
Oft war er vor Geschäften stehen geblieben und hatte sich die Kleider angesehen. Wenn ihm eines gefiel, hatte er die Augen geschlossen und sich vorgestellt, sie würde es tragen.
Wie eine Königin stand sie dann da. Sie sah ihn an, und ihr Lächeln war so warm und voller Liebe, dass er danach den ganzen Tag wie auf Wolken schwebte.
Sie würde bald kommen. Vielleicht noch fünf Minuten, mehr nicht.
Es war wenig Verkehr auf der Straße. Eine alte Frau mit Einkaufstüten war gerade um die Ecke verschwunden, und ein kleines Mädchen schob sein Fahrrad vorbei.
…Er mochte kleine Mädchen, lieber als Jungen. Oft hatte er sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn sie Kinder hätten. Eine kleine Tochter, die dann um ihn herumhüpfte, die er zum Spielplatz begleiten und die er aufwachsen sehen würde...
Eine große, schwarze Limousine ließ ihn aufmerksam werden. Ganz langsam glitt sie die Straße entlang, und mit jedem Meter den sie zurücklegte wurde das Brennen in seiner Brust heißer. Der Wagen hielt vor dem großen Haus, nahe den Treppen.
Schweiß stand ihm auf der Stirn und ein leichtes Zittern zog durch seinen Körper.
Doch dann stieg eine ältere Frau aus, verschwand in einem Nachbargebäude und das Auto fuhr davon. In Gedanken schalt er sich einen Narren, zu glauben, das hätte ihr Wagen sein können, denn der würde ganz anders aussehen. Er war fast erleichtert, dass sie es nicht war. Ihretwegen wartete er, doch er hatte Angst vor dem, was passieren würde.
In der Zwischenzeit war eine ganze Anzahl Autos auf den Parkplatz gerollt, die Lücken schlossen sich nach und nach. Festlich gekleidete Leute stiegen aus und fanden sich in kleinen Gruppen auf dem Platz vor der Treppe zusammen.
Wieder kam eine Limousine die Straße herunter gefahren.
Diesmal war sie es.
Ein heller Mercedes, weiß oder beige, so genau konnte er das noch nicht erkennen. Auf der Motorhaube thronte ein prächtiges, buntes Blumenbukett, und an den Antennen flatterten weiße Bänder sanft im Fahrtwind.
Wieder kam das leichte Zittern und sein Herz schlug ihm bis zum Hals hinauf. Von der Mittelkonsole nahm er das Fernglas. Die Hände klebten.
Die Limousine rollte aus und kam vor der breiten Treppe zum stehen.
Sie saß hinten. Die Vergrößerung war so stark, dass er den Glanz in ihren Augen erkennen konnte. Mein Gott, war sie schön!
Eine ganze Weile tat sich nichts. Sie wartete. Er konnte sehen, dass sie sich mit dem Mann, der neben ihr saß unterhielt. Er wusste, dass es ihr Vater war. Er kannte auch ihn gut.
Die Zeit verging und mit jeder Minute wurde ihr Lächeln blasser.
Die Hochzeitsgäste beobachteten den Mercedes und warteten. Sie unterhielten sich, lachten, Kinder im Sonntagsstaat spielten herum und wurden von den Müttern zur Ordnung gerufen. Hin und wieder wurde eine Hand gehoben und gewinkt. Die Braut winkte zurück.
…Endlich stieg ihr Vater aus, ging auf die andere Wagenseite und öffnete dort die Tür. Die Unterhaltung der Gäste verstummte.
…Und dann …trat ein Engel in den Sonnenschein.
Sie war so wunderschön, der Eindruck auf ihn so stark, dass ihm beinahe das Fernglas aus den Händen geglitten wäre.
Kurz setzte er das Glas ab und wischte sich mit einem Ärmel über die Augen.
Ihr Kleid war ein Traum aus weißem Wolkennebel. Der Schleier erwuchs aus einer matt glänzenden Krone und umspielte sanft die nackten Schultern. Bei jeder Bewegung spielte das Sonnenlicht mit winzigen Sternen und ließ sie in den vielfältigsten Farben aufblinken.
Sie war noch viel schöner, als er es sich je vorgestellt hatte.
…Und mit der Bewunderung kam die Bitterkeit.
So schön sollte sie für ihn sein, nicht für den anderen, der sich in ihre gemeinsame Welt gedrängt hatte. In diesem Moment wurden alle Gefühle, gegen die er seit Monaten erbittert kämpfte wieder hervorgetrieben: Wut, Verzweiflung und Enttäuschung brachten ihm körperlichen Schmerz. Seine Schultern bebten und dann weinte er hemmungslos.
Es dauerte eine Weile, bis der Druck in seinem Innern nachließ, bis in ihm wieder Ruhe einkehrte und er das Glas erneut aufnehmen konnte.
Sie stand immer noch in der Mitte des großen Platzes. Ihr Vater hatte liebevoll seinen Arm um ihre zarten Schultern gelegt. Auch die Gäste hatten sich dazugesellt, diskutierten und schauten des Öfteren auf die Uhren.
Das Quietschen von Reifen zerriss die Atmosphäre. Alle Blicke trafen das Auto, das aus einer Seitenstraße geschossen kam und kurz hinter dem Brautwagen abbremste. Ein Mann mittleren Alters sprang heraus, lief auf die Gruppe zu, grüßte kurz und zog den Vater beiseite. Die Unterhaltung der Übrigen schien verstummt und alle Blicke ruhten auf die Beiden Männer.
Durch das Fernglas konnte er ihre ernsten Gesichter erkennen. Einen kleinen Moment standen sie noch schweigend nebeneinander, tauschten sich dann kurz mit wenigen Worten aus und traten wieder zu der wartenden Gruppe.
Ganz vorsichtig justierte er das Fernglas nach und erschrak, als er die Unsicherheit und Sorge in ihren Augen erkannte. Sie wurde von ihrem Vater und dem anderen Mann in die Mitte genommen. Der Vater schien sie fest zu greifen und sprach zu ihr.
…Und dann änderte sich alles.
Aus der strahlenden Königin wurde ein Bündel aus grenzenlosem Leid. Als sie gleich darauf in die Arme der Männer sank, meinte er, ihren Schrei bis über die Straße hinweg zu hören. Er hatte sich vorgenommen, sie so nicht anzusehen, doch er hatte das Fernglas zu spät heruntergenommen und ihre Verzweiflung brannte sich tief in sein Innerstes.
Es tat weh, mehr als er es sich vorgestellt hatte.
Auch ohne das Fernglas zu benutzen konnte er erkennen, dass man sich um sie bemühte, sie zum Auto geleitete und gleich mit ihr davonfuhr. Die Gäste liefen aufgeregt umher, sprachen miteinander, einige weinten in den Armen ihrer Partner.
Nach und nach leerte sich der große Platz. Viele kamen über die Straße und er schaute sie nicht an, als sie an ihm vorübergingen. Sie stiegen in ihre Wagen und fuhren davon.
Es musste sein und die Schmerzen würden vergehen.
Tief atmete er durch und wischte sich die klebrigen Hände an seinem T-Shirt ab. Aber auch das war noch voller Blut.
Mit einem dezenten Grollen sprang der Motor an und bevor er losfuhr, schaute er noch einmal hinüber.
Der Himmel war immer noch wolkenlos, noch immer ließ die Mittagssonne die riesige, gepflasterte Fläche vor den breiten Treppen golden glänzen. Auch die Sträucher blühten noch in den prächtigsten Farben.
Eigentlich hatte sich nichts verändert.
Eigentlich ein schöner Tag. So schön, wie man sich ihn nur wünschen konnte.
Er würde ihr helfen, solche Tage bald wieder zu genießen.