Ein Abend um Nichts
Mir ist schlecht, ich habe Mühe zu stehen.
Der Zug rüttelt, schwankt und kaum ist das seltsame Geschöpf mit Brüsten damit beschäftigt, mein Glied auszupacken, hole ich das beste aus mir heraus und überschütte sie damit.
Das Mädchen, dessen Namen ich nichteinmal weiss kreischt auf, fällt nach hinten und landet sitzend auf der Kloschüssel. Ich habe das Bedürfnis zu lachen, doch sogleich stösst ein weiterer Schwall hervor und begräbt ihr Elfenbeingesicht unter einer Mischung aus zersetztem Instantessen, gefärbtem Vodka und Magensäure.
Ich bin betrunken, sie ebenso. Auch der Rest der Menschheit. Sogar die Welt. Sie dreht sich. Tagelang. Und ich habe das Ziel, schneller zu drehen als sie.
Das Mädchen beginnt zu heulen, doch ich reagiere nicht. Sie wollte es so. Sie wollte das Risiko eingehen, den Schritt ins Ungewisse wagen. Sie wollte die Heldin der Nacht sein, die Wahrheit finden.
Nein, die Wahrheit des Lebens manifestiert sich nicht in Erbrochenem, eher darin, dass es keine Fragen mehr gibt.
Wir tun, damit es getan ist. Wir suchen nichteinmal mehr nach den Fragen, sondern versuchen einfach nur noch zu überleben. Leben ist uns scheinbar zu nutzlos geworden.
Es gibt keine Fragen mehr, also auch nichtsmehr zu sagen. Ich drehe mich um, verlasse sie und einen Teil von mir in ihrer Erinnerung, verärgert darüber, dass sie nicht verstanden hat und nun die letzten Stunden als einen verschissenen Tag abstempelt. Für mich war er okay. Nichts gelernt, nichts getan, nicht gelebt. Mich nur von Freizeitpassivitäten gelenkt gelassen zu haben. Das ist in Ordnung, es war wie immer.
Ich sitze wieder hier, an meinem Sitzplatz, den ich mit meiner Tasche für ein paar Minuten erhoffter Sexualität verlassen hatte.
Die Tasche ist nichtmehr da, doch im Moment kümmert es mich wenig. Ich stelle mir vor, wie ein mit Kotze überströmter Gruftie aus der Toilette herauskommt und das Gefühlt erlebt, vor dem ganzen Abteil von mir ausgelacht zu werden. Doch die Tür öffnet sich nicht. Eher ist das Klicken des Türschlosses zu hören. Sie hat sich eingesperrt, denkt vermutlich darüber nach, ihr Scheissleben zu beenden. Doch wird sie es nicht tun, denn eines lernt jeder von uns einmal: Das Leben ist schön. Schön, weil es Sonnenaufgänge gibt, die den Arbeitsweg erträglich machen. Schön, weil es Bier und gutes Essen gibt. Und die Dinge, über die wir so herzhaft lachen können. Auch, weil noch eine innige Liebe zweier Menschen existiert. Und ich spreche von gemeinsamer, geteilter, nicht gleichzeitiger Liebe.
Natürlich, all diese Dinge werden auf den meisten “Was-ich-noch-erleben-will”-Listen völlig vergessen oder nur über den Rand hinaus erwähnt, doch sind sie es, welche die wirklich schönen Momente ausmachen.
Die Lichter ziehen draussen vorbei und werden so Teil eines Klischees über gedankenverlorene Nächte, denen ein einsamer Morgen voller Reue folgt.
Die Menschen sind mir egal, doch ist das zurückgelassene Mädchen vermutlich der Grund meiner nun langsam aufkommenden Schuldgefühle. Trotz ihrer Gewöhnlichkeit hat sie etwas zum Ausdruck gebracht, dass ich nicht sehr oft sehe. In jenem Moment, als sie sich daran machte, mir einen zu blasen, schaute sie auf und ihre Augen sagten mir, dass sie auf der Suche nach etwas ist. Etwas, dass keine Grösse, keine Form besitzt. Etwas, das in keinster Weise beschrieben werden kann. Was es auch war, nun ist es vermutlich zerstört. Oder nicht?
Der Zug wird langsamer, die Lautsprecher beginnen zu rauschen. Endstation Bern.
Eine schüchterne Schwuchtelstimme verabschiedet sich von den Fahrgästen, wobei ich mir die arme Sau im Führerabteil vorstelle, die sich auf den Feierabend freut, um dem eigenen Treiben nachzugehenen, Leidenschaften zu leben, die der Menschen wortwörtlich Leiden schaffen. Ein nutzloses Nichts, ein nutzloses Niemand in Uniform.
Ich frage mich, woher dieser Hass auf die Menschen kommt, doch sogleich wissend, dass wir alle jemanden degradieren, um unseren eigenen Status zu verbessern.
Langsam, gleichend der Geschwindigkeit des haltenden Zuges kommt in mir die Sorge um das Mädchen auf. Ist sie vielleicht längst tot?
Ich habe nicht vor, es herauszufinden. Eine Mischung aus Mittelmässigkeit und Angst hält mich davon ab. Auch habe ich nicht vor, mich um die verschwundene Tasche zu kümmern.
Es ist zu spät für belanglose Sorgen. Ich versuche mir zu sagen, dass mich beiderlei Dinge in keinster Weise betreffen.
Ich gehe den Gang entlang, drücke den Knopf um die Tür zu öffnen und trete hinaus in die Stille des zeitlosen Bahnhofs, wo weder Tag noch Nacht, sondern nur Billighalogenlicht herrscht.
Ja, es ist zu spät für Sorgen, zu spät für betrunkene Jugendliche oder hetzende Pendler. Der Bahnhof ist fast leer, keine lärmenden Rekruten oder Feierabendreisende. Ein Blick zurück verrät mir, dass das Mädchen nicht ausgestiegen ist. Ich gehe schneller, habe das Bedürfnis, diesen Ort zu verlassen.
Noch während ich die Treppen zum inneren Bahnhof hinabsteige, vibriert mein Hodenverstrahler.
“Selbst wenn der Klügste aller Vögel nicht mit den Schwärmen zieht,
so fliegt er doch wie alle Anderen.”
Wir sind Menschen, denke ich mir, und selbst wenn wir Dinge tun, die kein anderer tut oder der möglichst grössten Herde hinterher trotten, so bleiben wir doch, was wir sind. Mit all diesen Facetten, die man weder verstellen noch verdrängen kann, was man auch tut. Ich begreiffe, dass nicht sie es war, die etwas zu verstehen hat.
Ich kaufe mir ein Brötchen am 24-Stunden-Kiosk und schreite hinein in die dunkle Nacht.
Der Mond leuchtet hell, der Wind rauscht durch die Blätter der Stadtbäume. Ich pfeife das Lied eines alten Schamanen, der vom traurigen, doch schönen Leben singt.