Ein Abend unter Freunden
Die Welt um ihn herum drehte sich. Alles schien in Bewegung zu sein. Gespräche wurden wie eine seichte Brandung an ihn heran getragen, umspülten ihn, erreichten ihn aber nicht. Gelächter wurde laut, zog an ihm vorbei, wie ein schneller Zug am Bahnsteig, bewegte ihn aber nicht. Alles schien in Bewegung zu sein, nur er, er saß ganz still. Wie konnte das nur passieren, dachte er, während er betrübt in sein Bierglas starrte. Wer weiß das schon. Wer weiß schon was dieses verrückte Ding namens Leben mit einem anstellt, wenn man nicht auf der Hut vor ihm ist.
Er lächelte schwerfällig, auf der Hut sein vor dem Leben, was für ein beschissener Gedanke. Kalkül, Berechnung, Planung, war das schon alles? Kann das wirklich schon alles gewesen sein? Wo war nur die Kraft, Unbeschwertheit und Stärke der Jugend hin? Früher wo man sich mit Freunden traf, das erste Mal Bier trank und die erste Zigarette rauchte, war das Leben da nicht eine unglaublich starke Sache gewesen? Alles war neu, alles passierte zum ersten Mal, alles schien richtig zu sein, egal was man tat, oder eben nicht tat. Es gab keine ausgetretenen Wege. Vor einem lag das Leben wie ein schönes unbekanntes Land, das nur darauf wartete bereist und erkundet zu werden. Und heute, wo man einen Teil dieser neuen, aufregenden Welt durchwandert hatte, waren Wege entstanden, manche auch schon asphaltiert. Er erfreute sich ein wenig an seiner eigenen, eben entstandenen, blumigen Metapher.
Ja, dachte er, Wege sind ja eigentlich nichts schlechtes, sie führen einen schneller von A nach B, weil man sie kennt. Sie geben Sicherheit, weil sie mit Schildern versehen sind, die einem, zumindest grob, die Richtung weisen. Was aber wenn diese Wege langweilig werden, da sie schon allzu oft beschritten wurden, oder schlimmer noch, wenn sie einen anekeln, weil sie mit mehr Hundescheiße gepflastert sind als die Schönhäuser Allee in Berlin? Diese Metapher gefiel ihm noch besser als die vorherige und er lachte kurz laut auf. Im selben Moment aber wurde ihm wieder gewahr, dass er nicht alleine war, wenn er sich auch so fühlen mochte.
Beschämt sondierte er seine Umgebung auf eine Reaktion seiner Mitmenschen. Er spähte entlang der Theke in den Gastraum der Bar. Niemand schien ihn zu beachten, dennoch fühlte er sich von allen Seiten beobachtet. Schnell zog er sein Basecap tiefer ins Gesicht, nahm einen großen Schluck kühlen Bieres, an dem er sich heute Abend schon reichlich gelabt hatte, und kramte in seinen Hosentaschen nach seinen Zigaretten. Kurz darauf stiegen über seinem Kopf sich kräuselnde Schwaden blauen Rauches auf und er folgte ihrer Wanderung mit seinen Blicken hin zur Decke des Raumes. Komisch wie einem manchmal gespielt wird, dachte er, schon wieder in seine Gedankenwelt versinkend.
Vor nicht allzu langer Zeit, saß ich hier mit Freunden und erzählte, lachte, hatte Spaß. Damals empfand ich immer Mitleid für die Menschen, die an einem Freitagabend allein an der Theke einer Bar saßen und offensichtlich betrunken waren. Allerdings versuchte ich damals noch mir einzureden, dass diese Menschen dennoch ein erfülltes Leben haben mochten. Wer weiß schon so genau, was jemanden dazu bewegt sich volllaufen zu lassen, ohne auch nur die Spur eines Interesses daran zu zeigen, irgendwelche sozialen Kontakte zu knüpfen. Ich habe mir nie ein Urteil über diese Menschen zu fällen gewagt. Aber Mitleid, ja Mitleid, hatte ich schon immer mit den einsamen Trinkern an der Theke. Er nahm einen weiteren großen Schluck Bier, er musste aufstoßen, verzog angewidert das Gesicht, und stellte seinen Krug wieder ab. Der Gedanke kam in ihm auf, dass die Menschen um ihn herum ebenfalls Mitleid für ihn empfinden würden. Das quälte ihn mit einem Male sehr.
Erneut drängte ihn sein verwirrter, durch den Alkohol schwerfälliger Geist hin zu der Frage, wie das alles nur hatte geschehen können. Miriam, dachte er sehnsuchtsvoll. Mit dieser Frau war alles toll gewesen. Sicherlich, er stand schon vorher des Öfteren vor Problemen, die sich vor ihm auftürmten wie ein riesiges Gebirge, mit schroffen scharfkantigen Felsen und schneebedeckten Gipfeln. Für einen Menschen ohne alpine Erfahrung nicht zu überwinden. Aber Miriam war wie ein kleiner Pass gewesen, den auch ein ungeübter Wanderer leicht hätte überwinden können. Und er hatte ihn überwunden, hatte seine Schwierigkeiten hinter sich gelassen und auf der Spitze des Berges in ein seichtes Tal geblickt, auf Gebirgswiesen, deren saftiges Grün mit allerhand Blumen in den schillerndsten Farben übersät war.
Eine prächtige Zukunft also. Ihre Liebe war ebenso stürmisch, wild und intensiv gewesen, wie sie kurz war. Denn der Abstieg vom Gebirgspass war mit vielen Steinen versehen gewesen, zuerst nur mit ganz kleinen, über die man sich vielleicht ärgern mochte, die aber dennoch leicht überstiegen werden konnten. Letzthin allerdings, wurden die Steine zu Brocken und die Brocken neuerlich zu Felsen, die die Sicht auf das wunderbare Tal versperrten. Miriam und er mussten sich eingestehen, dass ihr gemeinsamer Weg hier endete. Ihm kam, wie immer in solchen Momenten, der Gedanke an einen Text von Olli Schulz Irgendwann gab einer dem Andern zu verstehen, von hier an sind wir wieder alleine. Und so war es dann auch. Zu Anfang machte es ihm auch nicht allzu sehr zu schaffen.
Sicherlich der Schmerz saß tief und er war sehr traurig, dennoch fand er Trost in dem Gedanken, das es ihr ja nicht besser erging. Schließlich sagte sie ihm in zahlreichen Mails, wie schlecht es ihr ging, und, dass er noch immer ihr Herz in seinen Händen hielt. Doch irgendwann wurden diese Mails seltener, versiegten schließlich ganz. Und das war auch in Ordnung gewesen, letztlich musste man eine Sache ja einmal abschließen. Und so schloss er dann auch damit ab, bis zu dem Tag, als er erfuhr, dass sie einen Neuen hätte. Nach nicht einmal 2 Monaten. Wie groß konnte ihre Liebe denn dann für ihn gewesen sein? So eine Scheiße.
Plötzlich änderte sich seine Einstellung zu der vergangenen Beziehung. Von der früheren Gewissheit sich gemeinschaftlich getrennt zu haben, war nicht mehr viel übrig. Er sah sich als Opfer einer Intrige, als Leidtragender einer gemeinen Verschwörung. Seine Freunde wussten natürlich wie es um ihn stand, also wurden Pläne geschmiedet, um ihn abzulenken. Man ging aus. Kneipen, Discos, Clubs. Zu beginn waren auch alle sehr geduldig mit ihm, hörten sich sein Elend an, pflichteten ihm bei. Doch als er auch noch nach Monaten nicht wieder der Alte war, langweilte er sie. Ich kann es ihnen nicht einmal übel nehmen, dachte er jetzt. Schließlich war er zuvor auf jeder Party ein gern gesehener Gast gewesen, der mit seinen Geschichten und Witzen dazu in der Lage war für Stimmung und gute Laune zu sorgen.
Aber wer mag sich schon dauerhaft immer wieder dieselben eintönigen Monologe über die Verflossene anhören, lediglich um die eine oder andere Nuance verändert, die sich sein verletztes Ego in einsamen Nächten zurecht gesponnen hatte? Niemand! Und so wurden die Anrufe seiner Freunde sporadischer, blieben aus. Das einzige, was blieb, war der Alkohol, sein ab jetzt treuester Wegbegleiter. Aber noch war nichts verloren, oder? Er ging weiterhin aus, noch nicht in die Bar mit dem einsamen Tresen, nein, er zog es vor sich in Studentenclubs zu amüsieren, denn er suchte nach Ablenkung bei Frauen. Schließlich war ja nicht zu bestreiten, dass er gut aussah und wenn er wollte, konnte er noch immer einen Funken seines früheren Charmes aus einer Kiste, weit unten in seinem Körper, heraus holen und ihn einsetzen.
Das funktionierte vor allem bei den jungen Mädchen, die sich gerade im ersten Semester befanden. Er erzählte ihnen Geschichten, Geschichten über Reisen die er gemacht hatte, Menschen die er getroffen hatte und über die harte, aber schöne Zeit an der Uni, an der er schon seit Monaten nicht mehr war. Viele der jungen Mädchen, die sich leicht von jemandem beeindrucken ließen der schon im 7. Semester war, kamen mit zu ihm nach Hause. Dann hatte er Sex mit ihnen. Gefühllosen, leidenschaftslosen Sex in seinem Zimmer, in dem es nach kaltem Rauch, Essensresten und schmutzigen Klamotten roch. In den Momenten, in denen es geschah, fühlte er sich gut, hatte er sich doch gerade aufs Neue bewiesen, dass er es noch immer konnte, wenn er nur wollte.
Aber wollte er es denn überhaupt noch? Was brachte ihm denn das ganze Rumgevögel? Die Liebe und Zuneigung, die er bei Miriam gefunden hatte, auf jeden Fall nicht. So verließ er seine Wohnung meist am nächsten Morgen sehr früh, unter dem Vorwand zu einem Seminar zu müssen. Die Mädchen schienen auch nicht gerade böse darüber zu sein, dass er so früh ging und sie einen würdevollen Abgang hinlegen durften, denn die meisten guckten sich in der Früh schon etwas angewidert in seinem kleinen, schmutzigen Zimmer um. Ja, dachte er jetzt, auch das scheint alles schon verdammt lang her zu sein. Und was machte er jetzt? Er ging nicht mehr auf Partys, er hatte keine Lust mehr zwischen den ganzen motivierten Erstsemestern zu stehen und auf eine Frau zu warten, die es vermutlich, zumindest für ihn, nicht mehr geben würde. Schließlich hatte er seine Chance gehabt, nicht wahr?
Er hatte es versaut und nun musste er mit all den hässlichen Konsequenzen dieses Versagens leben; und zwar allein. Aber trotzdem sehnte er sich nach den Menschen, nach ihren Gesprächen, ihrem Lachen, ihrem Duft und nach der Wärme, die an Orten entsteht, an denen sich viele Menschen aufhielten. Quod erat demonstrandum, Ende der Beweisführung, der Kreis war geschlossen. Nun saß er also hier an der Theke. Umringt von Menschen, deren Gespräche er nicht hören konnte, umgeben von Gelächter, das ihn nicht ergriff eingehüllt in einen Duft, der ihn schwermütig machte. Plötzlich hatte sich irgendetwas verändert, ein paar Worte waren zu ihm durchgedrungen. Er wusste weder wer da gerade gesprochen hatte, noch was gesagt wurde, aber die Worte waren ziemlich sicher an ihn gerichtet gewesen. Waren vielleicht ein paar seiner alten Freunde in der Bar aufgetaucht, bereit sich mit ihm zu versöhnen?
Konnte es etwa alles wieder so werden wie früher? Ja, das konnte es, bei Gott, ich bin noch nicht am Ende, noch nicht gänzlich verloren. Benommen sah er sich in der Kneipe um, konnte allerdings niemanden entdecken, bis jemand mit der Hand auf die Theke klopfte. Es war Robert, der Wirt.
„Hä? Was?“
„Ich sagte, dass wir jetzt schließen! Du musst bezahlen!“
Verdammte Scheiße. „Schreib es bitte an Robert, ja?“
„Verdammt nochmal, ich weiß überhaupt nicht mehr warum ich dich eigentlich noch rein lasse, du hast ja doch nie Kohle dabei.“
„Hey jede Bar braucht doch ein Wahrzeichen, oder?“
Er stand auf, zog sich seine Jacke an und ging hinaus. Er stellte fest, dass die Nächte allmählich wieder kalt zu werden begannen, stellte den Kragen seiner Jacke auf, suchte nach einer weiteren Zigarette und lief los.
Während des Heimwegs, merkte er, dass er ziemlich angetrunken sein musste, er schwankte stark. Nachdem er den letzten Zug an seiner Zigarette getan und den Filter weggeschnippt hatte, wurde ihm übel. Er musste anhalten und sich an ein Geländer lehnen. Sein Atem ging stoßweise und hinterließ kleine Dunstwolken in der winterlich kalten Nachtluft. Zum Kotzen, dachte er, beugte sich vor und erbrach sich auf den Gehweg. Die Kotze brannte wie Feuer in seinem Hals.
Es ist nicht der Alkohol, den ich da hochwürge, es ist all die Scheiße, die ich mein ganzes Leben lang geschluckt habe, dachte er. Das ganze Gift, das auf meiner Seele lastet. Lieber Gott, lass es doch bitte so sein, nimm diesen ganzen Dreck von mir, alles was ich will, ist eine zweite Chance.
Keuchend kam er wieder nach oben, sah sich verschämt um und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab. Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens, na vielen Dank auch. Ich freue mich schon sehr darauf am ersten Tag vom Rest meines Lebens allein aufzuwachen, um als erster festzustellen, dass ich noch am Leben bin. Er ging weiter den dunklen Weg entlang, einem kalten Winter entgegen.