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Ein Abendessen
"Du kommst spät", sagte Aries. Er öffnete die Klappe und wartete ein paar Sekunden. Dann fasste er in den Herd und nach der Auflaufform, stellte sie auf den Tisch und nahm den Deckel herunter - noch buk der Käse und blubberte.
Ich horchte nach Zwischentönen in "du kommst spät", aber da war nichts missgestimmt, er hatte es schlicht festgestellt. Das war besonders arg. Jetzt ärgerte mich, heute nicht pünktlich gewesen zu sein, noch mehr, dass er mitten in der Woche mein zeitaufwändiges Lieblingsessen machte, vor allem, weil er es selbst nicht besonders mochte. Auf dem Tisch Rotwein und ein bestückter Kandelaber, sogar die niedliche Decke mit Schottenmuster und ein Strauß frischgepflückten Unkrauts. "Der Neue hat noch eine ganze Menge Arbeit reinbekommen, die unbedingt erledigt werden musste. Damit wollte ich ihn nicht allein lassen. Dein Telefon war aus."
Aries' strich mit dem Backhandschuh über meinen ummantelten Unterarm, seine blassblauen Augen suchten meinen Blick und vögelten ihn zärtlich. "Wein, Mascha?", fragte er rau. Ich verbiss mir ein Lächeln und nickte. "Bin gleich wieder da." Ich legte den Mantel ab und zog die Schuhe aus. "Was war denn mit dem Telefon?"
"Es lädt nicht. Vielleicht ist der Akku kaputt." Seine Welt, ein Land vor unserer Zeit, umringt von Nebelbergen: Vielleicht, möglicherweise, ich bin nicht ganz sicher und ähnlichen Vagheiten. "Das war schon vor zwei Wochen die Ausrede. Lass das mal reparieren!", sagte ich. "Und sei mir nicht böse. Ich hab' den Neuen auf ein Gläschen eingeladen – er heißt übrigens Martin. Dann lernst du ihn auch mal kennen."
"Warum sollte ich böse sein?", fragte er. Dabei huschten kleine Schatten über sein Gesicht. "Na, du hast es so gemütlich gemacht. Aber ich würde ungern jetzt noch absagen. Er müsste gleich da sein. Du kannst ja deine Überraschungsessen mal ankündigen!" Ich lachte. Aries teilte die dampfende Masse in vier Stücke, unterfasste eins mit dem Auffüller und hob es über meinen Teller, wo das Lasagnestück beim Ablademanöver ins Rutschten geriet und als fieser Fleck auf weißem Grund landete. "Hoffentlich schwätzt Martin nicht so viel Blech wie deine anderen Kollegen." Sein eigenes Stück landete in voll erhaltener Schichtung auf dem Tellerboden.
Er probierte den Wein, Aries kann sich den ganzen Abend an einem Glas festhalten, Schlückchen um Schlückchen. Stundenlang. Er bewegte den Roten im Mund und sah mir in die Augen, bis ich fragend die linke Braue hob.
"Was war denn wichtiges zu tun?", fragte er. "Holgers Hinterlassenschaften", winkte ich ab. "Die verlier'n ja nicht an Relevanz, nur weil er krank ist. Ich will das gar nicht ausbreiten. Ist zu banal." Aries nickte, nippte und stellte die richtigen Fragen. Er brachte mich zum Reden über die Kompatibilitäts-Probleme der letzten Updates von Firewall und Bildbearbeitungssoftware und von den neusten Sprach-Scharmützeln mit der ollen Kaak. Danach war's mir gleich leichter und das Glas leer und die Stirn heiß. Ich stützte mich auf den Tisch und beugte mich im Kerzenschein zu ihm hinüber. Er kam mir ein kleines Stückchen entgegen, aber kurz bevor die Lippen kontakteten, musste ich aufstoßen. "Ferkel", sagte er und schüttelte den Kopf. Über sein ernstes Gesicht habe ich gelacht und auch, weil mir das schnell getrunkene Glas zu Kopf gestiegen war. "Mit dir bleibt einem nichts erspart." Das machte es nur noch schlimmer, ich lachte und lachte und wusste selbst nicht mehr warum, da schellte es an der Tür.
Aries morphte zum aufmerksamen Gastgeber, warf sich das Philantropenkostüm über und kriegte sogar dieses Strahlen in die Augen, nachdem misstrauische Menschen suchen, wenn sie wissen wollen, ob man sich auch wirklich freute, sie zu sehen.
Tür öffnen. Großes Hallo. Händeschütteln. Von meinem Platz sah ich nur die Tür. "Oh, sie müssen Martin sein. Und wer ist ihre fulminante Begleitung, wenn ich fragen darf?"
"Erika", sagte die Tür und streckte eine Hand aus, die Aries ergriff und schüttelte.
"Kommt doch rein", sagte er. "Ich bin Aries."
"Wie bitte?", fragte Erika.
"A-R-I-E-S", buchstabierte er.
"Das ist ja gar kein echter Name!", kicherte sie. Er seufzte leise, zwang ein dünnes Lächeln aufs Gesicht, ging einen Schritt beiseite und bedeutete Erika, in den Flur zu kommen. Sie war jetzt im Profil zu sehen, ihre Fülle beeindruckte mich. Schwanger oder Schleckermaul, dachte ich. Entschied mich für Schleckermaul, es fehlte die besondere Anziehungskraft. Aries half ihr aus dem Mantel.
"Oooh, siehst du Martin? Das ist die alte Schule! Merk dir das."
Martin schob sich ins Blickfeld. Tolle und Kreativenbrille, braune Lederjacke über dem T-Shirt und Röhrenjeans.
"Hallo!", kam ich auf die beiden zu, umarmte erstmal Erika, mit einem "Ich bin Mascha. Freut mich!" und gab Martin die Hand. Er mag nämlich nicht umarmt werden. Händeschütteln aber auch nicht besonders gern - die Hand hält er immer hin, als wäre sie nicht die eigene. Von seinem Shirt grinste mich ein unternehmungslustig wirkender Maulwurf mit Spitzhacke und Eimer an. Schnell entzog ich mich dem schlaffen Kontakt und dirigierte sie in die Küche. Drei Stühle waren um den Tisch gruppiert, dessen eine Seite an der Wand stand.
"Kurzen Moment", sagte ich, "da kommt jetzt noch ein Stuhl hin und dann schwups: kriegt ihr Lasagne und Wein!" Ich zog den Tisch in den Raum. Die Beine schubberten ohrenerfüllend über das Parkett. "Ich hoffe, das macht keine Umstände. Ich hätte fragen sollen, ob Erika mitkommen kann", sagte Martin. "Was – ihr wusstet das gar nicht?", fragte Erika. "Das ist ja mal peinlich."
"Papperlapp", mischte Aries sich ein und schob Erika den Stuhl in die Kniekehlen, die auf die Sitzfläche plumpste.
"Bei uns sind alle willkommen," sagte Aries, "vor allem in deinem Zustand, da lassen wir uns doch nicht lumpen." Martin schaute fragend zu Erika.
"Zustand?", fragte die. Aries' Blick auf dem Weg zur Lasagne streifte ihren Rubensbauch. "Du bist doch sicher in froher Erwartung", sagte er. Erika versuchte ein Lächeln. "Nicht dass ich wüsste."
"Oh, Verzeihung. In dem Fall nehme ich an dir ist das kleinste Stück recht?", murmelte Aries und bugsierte es vorsichtig auf ihren Teller. "Schau mal, wie schön das geschichtet ist." Ich ärgerte mich, dass Scharfzähne und Neandertaler gemeinsam durch unser Abendessen expedierten. Das musste mal aufhören. "Aries!", sagte ich, "Schtobbit!"
"Was bitte ist Aries überhaupt für ein Name?", fragte Martin scharf. Aries sagte das sei eine gute Frage und hob das letzte Stück mit Schwung auf Martins Teller. Die letzten Zentimeter machte die Lasagne in direkter Luftlinie. Gelandet ähnelte sie einem Fallschirmspringer, der ohne Schirm gefallen war.
"Es reicht!" Ich holte und befeuchtete schnell einen sauberen Lappen und reichte ihn Martin. "Für dein Hemd", sagte ich und deutete auf ein paar Bechamel-Spritzer, die auf dem Bauch des Maulwurfs gelandet waren. "Was ist eigentlich los, Aries?"
"Das kann doch mal passieren!", sagte er, und mit einem Blick zu Martin "ich würde mich beeilen, die Sauce scheint von der Schwerkraft gehört zu haben." Ich erwiderte nichts, registrierte aber seinen etwas flügellahmen Blick auf meine angespannte Kinnmuskulatur und wusste, er wusste, ich hatte das wahrgenommen. Währenddessen rieb Martin mit kreisenden Bewegungen über die Spritzer und verschmierte sie über Oberkörper und Gesicht des Maulwurfs. "Sollen wir besser gehen?", fragte Erika. Ich gab Aries einen kleinen Moment Zeit, etwas kluges zu sagen, den er lächelnd verstreichen ließ. "Auf keinen Fall! Ihr kriegt jetzt erstmal Wein und dann stoßen wir an. Den Wein schenk' ich ein!"
Aries setzte sich. "Tut mir leid, heut' ist halt einer dieser besonderen Tage", lächelte er entschuldigend. "Zu eurer Frage kann ich sagen, mein Name ist ein Anagramm. Paps hat die Figurennamen in einer Geschichte verwechselt und die Buchstaben der vermeintlichen Hauptpersonen auf mich und Mascha aufgeteilt. Sie ist dabei etwas besser weggekommen."
"Ihr seid Geschwister?" Erika und Martin sahen sich an.
"Also bitte. Ich rede von unserem geistigen Vater."
"Aha!" Mittlerweile hatte ich den Wein eingegossen und hob mein Glas. "Stößchen!", sagte Martin. Aries hob das große bauchige Glas schnell an die Lippen, um eine verdächtige Mundbewegung zu verbergen, machte leere Schluckbewegungen und leise -geräusche.
Zwei Stunden später auf dem Balkon. Martin trank den letzten Schluck seines dritten Glases und erzählte Aries von eleganten Formen und geschwungenen Kurven, von der Erotik der neuen XY-Klasse. Der blickte ab und an zweifelnd zu Erika oder verzweifelt zu mir herüber und sagte endlich, dass er über das Fahren eines Rasenmähertraktors nie hinausgekommen sei. Martin klöpfelte ihm tröstend auf die Schulter und kam auf ein konkretes Problem seines vor der Tür parkenden Wagens zu sprechen. Ich hörte von einem Defekt in der Automatik einer Einspritzanlage und Aries' Rat, auf Öffentliche umzusteigen.
"Wann habt ihr euch überhaupt kennengelernt?", fragte ich Erika. Sie erzählte von einem Ball der einsamen Herzen, der sich an ein Speedating-Event angeschlossen hatte. Dass Martin damals so witzig gewesen sei und zuvorkommend. Erikas Wangen wurden ganz rosig, als sie davon erzählte. Sie ging zu Martin und legte den Kopf von hinten auf sein Schulterblatt. In ein paar Tagen jähre sich das freudige Ereignis zum dritten Mal, sagte sie.
"Super - dann ist das jetzt unsere gemeinsame Feier!", sagte Aries, und nach einer kurzen Pause "Mascha und ich sind heute vor zwei Jahren zusammengekommen."
"Echt? Stark! Herzlichen Glückwunsch", sagte Erika und strahlte mich an. Ich sagte nichts, suchte in meinen Hosentaschen nach einer der Zigarettenschachteln, die ich seit fünf Jahren nicht mehr kaufte.