Ein Abendseminar
Knobloch hatte das Seminar zu später Stunde angesetzt. Vielleicht hätte er seiner Frau davon erzählen sollen. Vor ihm tauchte der schlanke Bau des Biologischen Instituts auf, das von Mietshäusern eingezwängt, in die Höhe auswich. Knobloch hastete durch ein schwach beleuchtetes Atrium, dessen Wände sich in der Dunkelheit verloren. Er hörte ein schleifendes Geräusch und sah den Eimer nicht. Metall schepperte, Wasser ergoss sich über Knoblochs Bein.
“Was...!” Knoblich hielt inne. “Hannes, sind Sie das?”
Ein hagerer alter Mann kam hinter einem Pfeiler hervor. Er trug einen grauen Kittel, stützte sich auf seinen Schrubber und sah Knobloch nach.
“Guten Abend, Herr Doktor.”
“Hannes, was machen Sie hier noch? Bei dieser Beleuchtung können Sie doch gar nichts sehen. Tut mir Leid, ich muss weiter.”
“Ich feudel hier schon seit vierzig Jahren”, rief der Mann hinter Knobloch her. “Dazu brauch ich meine Augen nicht.”
Ich feudel hier, ich feudel da. Trarali, trarala”, murmelte Knobloch und verschwand im Seminarraum. Die nasse Hose klebte an seinem Bein.
“Hat jemand einen Föhn?” Knobloch sah auf sechs erstaunte Gesichter, legte seine Arme auf das Pult, stützte seinen Kopf mit den Händen. Er hatte etwas von einem Uhu.
“Ich fasse noch einmal zusammen: Liebe ist Chemie.” Knobloch drehte sich zur Tafel. “Es sind die Hormone. Zum Verlieben gehören Dopamin, Adrenalin, bei blockiertem Serotonin. Zum Sex das Testosteron und zur Bindung Oxytocin sowie das Vasopressin.”
“I had a dream!”, rief er über seine Studenten hinweg, kicherte und fuhr leise fort: “Es war vor einem halben Jahr, als ich in meinem Traum Gene von Blutegeln modifizierte, so dass sie, auf der Haut angedockt, kein Blut saugten, sondern ein Enzym absonderten, das aufgrund seiner molekularen Faltung die Produktion bestimmter Hormone ankurbelte.” Knoblochs nahm seine Brille ab, setzte sie wieder auf.
“Sie kennen es sicher auch, dieses Gefühl, etwas Einzigartiges vollbracht zu haben, ein Zustand, der beim Erwachen mit dem Inhalt Ihres Traumes verpufft.” Knobloch machte eine Pause, dann fuhr er fort: “Doch diesmal blieb die Formel in meinem Gedächtnis haften.” Er griff nach einem Weckglas, hielt es in die Höhe. Vier grüne, zwei blaue Blutegel klebten an der Innenseite.
“Die Herausforderung bestand darin, diese Burschen zur Produktion des gewünschten Enzyms zu veranlassen, und es in tierisches Gewebe zu übertragen.
Ich habe sie eingefärbt. Blau steht für das Gefühl des Verbundenseins, für Oxytocin und Vasopressin. Grün für die Liebe, für Dopamin, Adrenalin und blockierte Serotonin-Rezeptoren.” Knobloch zog sich Gummihandschuhe über.
“Hanne und Albert, machen Sie einen Unterarm frei. Sie haben sich für Blau entschieden. Geht Ihnen Ihre Verbindung nicht tief genug?” Das Paar hatte die Stühle so dicht aneinander gerückt, wie es ihm möglich war. Hanne und Albert hielten sich an den Händen, als wollten sie sich gegenseitig am Weglaufen hindern. Sie trugen Jeans, mausgraue Pullover, einen Ring am rechten Ohr, Kurzhaarfrisuren. Ihr Gesichtsausdruck glich denen melancholischer Beagles. Mit synchronen Bewegungen schoben sie sich den Ärmel ihrer Pullover nach oben. Knobloch griff nach einer Zange und legte einen blauen Egel auf den Unterarm der Frau, die plötzlich sagte: “Um Ihre Frage zu beantworten: Wir haben Angst. Nach Ihrer Aussage, dass nordamerikanische Präriewühlmäuse die einzigen Tiere seien, die sich fürs ganze Leben binden.”
“Und das nach einem 24-Stunden Sexmarathon”, fügte Albert hinzu. “Wie oft haben wir das probiert. Es klappt nicht. Wie kann unsere Verbindung dann von Dauer sein?!”
“Halten Sie ihren Arm über den Tisch”, bat Knobloch. “Wenn es die Hormone in die Haut übertragen hat, fällt das Tier ab.” Er wiederholte die Prozedur an Albert.
“Die Wirkung zeigt sich in gut zehn Minuten”, rief er den Beiden nach, als sie durch die Fronttür verschwanden. Knobloch zog das Glas mit den Egeln zu sich heran, und zu den verbliebenen Studenten gewandt: “Nun zum Liebes-Experiment. Machen auch Sie sich bereit.”
Bald darauf hielten die vier übrigen Studenten ihre Arme mit den grünen Blutegeln über dem Tisch. Knobloch drückte ihnen zusammengeknüllte Zettel in die Hand.
“Auf jedem von ihnen steht eine Nummer von eins bis vier. Ungerade für Frauen, gerade für Männer. Wenn die Egel abgefallen sind, verlassen die Frauen den Raum durch die linke, die Männer durch die rechte Tür. Lesen Sie Ihre Zettel und bleiben Sie hinter Ihrer Tür stehen, bis ich die Nummer aufrufe. Außer, dass es eine Frau oder ein Mann ist, werde ich nicht wissen, wer in diesen Raum zurückkommt. Versuchen wir, den Beweis anzutreten, dass Liebe ein chemischer Vorgang ist.”
Vier Türen. Die Fronttür verband das Labor mit der Eingangshalle. Eine Tür an der linken Wand, durch welche die Studentinnen verschwanden, eine an der rechten für die Männer. Sie führten zu Korridoren. Die in der Rückwand zu einem kleinen Raum, in dem ein Schreibtisch stand, an den sich Knobloch setzte, um seinen Blick abwechselnd auf einen Monitor und auf seine Uhr zu richten. Auf dem Schreibtisch stand ein zweites Glas. An seiner Innenseite klebte ein flammend roter Egel, zu einem ‘S’ gekrümmt. ‘S’ wie Sex. Es drängte ihn, diesen Test an sich selbst auszuprobieren. Er wusste nicht wann, er wusste nicht mit wem. Knobloch sah wieder auf die Uhr. Zehn Minuten. Monika, Clara, Heinz, Alois. Warum machten sie mit? Er hatte sie gefragt. Monika. Große, blassblaue, und unschuldig blickende Augen, rosiger Teint, Stupsnase, entzückendes Lächeln.
“Ich habe mich noch nie verliebt”, meinte sie. “Liebe. Ich möchte sie endlich kennen lernen.”
“Und ich glaube nicht daran. Liebe ist nicht Chemie, sie ist Magie.” Alois, schwarzgelockt, athletisch, romantisch. “Ich werde es Ihnen zeigen, in dem ich mich nicht verliebe.”
Heinz, der zweite Proband, Knoblochs Sohn. Er nahm seine Brille ab und putzte sie. “Ich will nichts dazu sagen.”
Knobloch hatte Heinz zu diesem Experiment überredet, nachdem sich Clara eingetragen hatte. Clara, mit blassem, teigigem unter einer Sonnenbrille verstecktem Gesicht, in dem das linke Auge zwinkerte, als wolle es eine verschlüsselte Botschaft übermitteln. Clara, Tochter des Institutsleiters, der Knobloch wider Erwarten dazu gedrängt, mit seinen Versuchen fortzufahren und seine Tochter in dieses Experiment geschickt hatte. “Wenn ich helfen kann, dass sie sich verliebt und geliebt wird? Was hat sie zu verlieren?”
Jede Hoffnung. Knobloch sah auf die Uhr und beugte sich zum Mikrofon: “Nummer drei!”
Eine Seitentür öffnete sich und Monika stand verlegen lächelnd im Seminarraum.
“Nummer zwei!” Es kam niemand. “Nummer zwei!” Monika blieb allein. Knobloch sah auf den Korridor hinaus. Die Männer waren fort. Auf dem Boden lag ein Zettel.
“Papa. Es hat gewirkt. Ich ziehe zu Alois.” Konsterniert schlurfte Knobloch in seinen Raum zurück und ließ sich auf den Sitz fallen. Monika wartete. Die Männer waren gegangen. Das Experiment gescheitert. Oder? Er sah auf das Glas mit den grünen und blauen Egeln. Sie brauchten einen Tag, um sich zu regenerieren. Blieb nur der rote übrig .... Sex. Mit fahrigen Bewegungen zog Knobloch das Glas zu sich heran, krempelte seinen Hemdärmel hoch, griff nach der Zange.
“Monika, warten Sie noch zehn Minuten!”, rief er ins Mikrofon. Er würde zu ihr in den Seminarraum gehen. Würde sie sich in ihn verlieben? In ihn, vierzig Jahre älter als sie? Und wie würde er, Knobloch, reagieren? Sex. Seine Frau hatte schon vor Jahren die Luken dicht gemacht. Ostern war öfter. Nervös sah er auf die Uhr, den Monitor, auf seinen Arm, die Uhr, den Monitor und erschrak, als sich die Tür zum Atrium öffnete, Hannes mit Eimer, Schrubber, Feudel in den Seminarraum trat und zu wischen begann.
Erstarrt klebte Knobloch auf seinem Sessel, sah Monikas verklärten Blick. Die Minuten zogen sich dahin und Hannes wischte. Zehn Minuten. “Monika, der Mann ist über siebzig”, stöhnte Knobloch ins Mikrofon. Er hörte, wie sie rief: “Darf ich auch mal?”, sah, wie sie Hannes den Schrubber abnahm und feudelte.
“Vergiss die Ecken nicht”, rief dieser. “Die sind das Wichtigste.” Dann verschwanden die beiden im Atrium.
Knobloch sprang hoch und rief: “Nummer eins.” Clara, um Himmelswillen. Clara, mit dem zuckenden Auge. Was mach ich da? Ich stehe hier, und kann nicht anders. Knobloch sah an sich hinab. Wer hatte das gesagt? Er oder ich?
Als Clara im Seminarraum stand, gab er sich einen Ruck und ging hinein, auf sie zu, die ihre Arme ausbreitete. Ihre Sonnenbrille hatte sie abgenommen. Das Auge! Das Auge! Es starrte ihn an, unbeweglich, während das Fleisch um den Augapfel herum zuckte, eine Botschaft aussandte, und Knobloch verstand. “Ich bin dein, wenn du mich willst. Ich bin dein, wenn du mich willst. Und er wollte. Und wie er wollte.
Als Clara und Knobloch durch das dunkle Atrium dem Ausgang zustrebten, sah Knobloch zwei Schatten dicht hintereinander stehen, hörte er Hannes sagen: “Wischologie wird etwas Wunderbares, bekommt durch dich eine neue Qualität. Den Feudelkoeffizienten kannst du dadurch erhöhen, indem du den Schrubber in einem Winkel von fünfundvierzig Grad hältst.” Eine weibliche Stimme kicherte, ein Tuch wurde in den Eimer getunkt.
Vor der Tür atmete Knobloch kräftig durch und zog mit Clara ins nächste Hotel.