Mitglied
- Beitritt
- 05.10.2007
- Beiträge
- 2
Ein abgefuckter Tropfen
Mein Kopf schmerzt. Scheiße. Diese gottverdammte Migräne. Einfach Höllisch. Zuviel Alkohol, zu wenig Schlaf. Zu wenig Kaffee, zu viel Schmerzmittel. Eine böse Mischung. Mein Hirn droht mit der Explosion und mein Magen tanzt dazu. Diese Scheißkopfschmerzen. Und dennoch sitze ich im Zug. Auf dem Weg in die City. Auf dem Weg ins Büro. Verdammt.
Zusammengekauert lehne ich in einer dieser Viererbänke; darauf wartend, dass der Zugführer eben selbigen in Bewegung zu setzen gedenkt. Genervt, verkatert und in Selbstmitleid versinkend. Ich versuche mich abzulenken, versuche nachzudenken. Ich blicke starr aus dem verschmierten Fenster. Doch bei einem Druck im Kopf, als versuche jemand mit einem Presslufthammer die Schädeldecke von innen heraus zu spalten, ein nahezu unmögliches Unterfangen. Dir Bahn ist fast menschenleer – zum Glück. Ein flüchtiger Blick auf die Uhr. Es ist kurz vor neun. 8 Uhr und 42 Minuten um genau zu sein. Schon wieder Verspätung.
Dir Tür springt auf und lässt mich hochschrecken. Ich bin ein Nervenbündel. Aus dem Augenwinkel kann ich eine vollbepackte Gestalt in den Zug hetzten sehen. Die Tür beginnt sich umgehend wieder zu schließen und das dazugehörige Pfeifen des Warnsignals macht sich in meinem Kopf breit und arbeitet sich in die entlegensten Winkel meines Gehirns vor. Eine schauderhafte Tortur. Selbst im nicht angeschlagenen Zustand, also wesentlich relaxter und mit deutlich weniger Aggressivität, Wut und Alkohol im Bauch, ist mir der tiefere Sinn dieses unvermeintlichen Rituals an technologischer Tyrannei, das bloße Vorhandensein dieses vermeintlichen Heilbringers der Moderne ein Rätsel. Sind Stadtmenschen wirklich so dämlich, so entmündigt, dass es einer audio-visuellen Unterstützung bedarf, wenn eine Türe der einen Hälfte ihrer Bestimmung nachkommen will und sich schließt? Aus Sicherheitsgründen? Sicher. Und aus demselben Grund, mit demselben Argument könnte man zukünftig alle Fußgänger mit einer gelben Signalweste ausgestattet, einer Trillerpfeife aus dem Mundwinkel hängend und einem Blaulicht auf dem Kopf geschnallt durch die Straßen jagen. Alles nur Terror. Krank… Bescheuerte Gedanken… Idiotisch… Obwohl… Ein rotes Licht blinkt Ein sich durch sämtliche Poren meines Körpers schlängelnder Pfeifton ertönt. Die Türe schließt sich langsam. Der Zug fährt ab. Endlich!
Die auf den letzten Drücker in den Zug gestolperte Type schleicht schlurfend an mir vorbei. Ordentlich beladen mit zwei Rucksäcken hinten, einem vorne und jeweils zwei Plastiktüten in den Händen. Was für ein Penner. Er setzt sich ausgerechnet in den Viererblock neben mir. Falsch, er sitzt nicht, noch steht er. Seine Rucksäcke abschnallend, die Plastiktüten auf der Bank trapierend, ist er gerade dabei sich aus seinen Habseeligkeiten ein neues Refugium zu basteln. Ich hab aber auch ein Glück.
Es ist schon bemerkenswert. Immer wieder das gleiche Spielchen. Im Zug sind kaum Fahrgäste – erfreulicherweise –, daher wären noch so viele Plätze frei – nicht weniger erfreulich –, und dennoch schafft es immer wieder einer dieser verdammten Wichser sich genau in meiner Nähe niederzulassen – typisch. Verdammt. Die physische wie psychische Situation in der ich mich gerade befinde, lässt einfach nicht mehr Toleranz gegenüber meinen Mitmenschen zu. Besonders dann, wenn mir so ein versüffter, abgefuckter Penner auf die Pelle rückt. Alle Menschen sind gleich, manche gleicher als gleich, aber alle gehen mir gleich am Arsch vorbei! Man könnte sagen, mein aktueller Zustand sensibilisiert das Defizit an personal space immens. Sich umsetzten, nachgeben, mal wieder davonlaufen? Nein, Dinge, die man nicht ändern kann, muss man hinnehmen. Mit Gelassenheit.
An die Wand gelehnt und mit dem Kopf in die Hand gestützt beobachte ich den Penner wie er in seinen Taschen herumkramt. Mittlerweile sitzend. Unruhig, hektisch, irgendetwas suchend. Das permanente, unrhythmische Geraschel erinnert mich qualvoll an meine Kopfschmerzen. Ich wende meinen Blick ab. Beschließe, mich wieder der Landschaft auf der anderen Seite des verschmierten Fensters zu widmen. Eine öde Landschaft. Wenig Wald, viel Feld, flach, mit hässlichen Ortschaften. Kein Land mehr, nichts mehr natürlich gewachsenes. Sterile und konstruierte kalte Wohnsilos. Eine Station wie die andere. Typische Suburbs. Massenkompatibel und pendlerfreundlich. Repräsentative Vorstadtgettos für die New Economy. Die Grenzen sind fließend. Nein, ich lehne dankend ab.
Lautes Geraschel und Gekrusche zerstört meine schön zurechtkonstruierte Ablenkung. Mein unfreiwilliger Nachbar ist gerade dabei aus einem der verschlissenen Rücksäcke, der nicht weniger fertig ist als sein Besitzer, eine Semmel zu ziehen und packt einen Apfel und eine Karotte dazu auf die Ablage. Aus einer der Tüten kramt er ein Päckchen Wurst – Salami, wie ich denke. Der Typ schneidet seine Semmel in zwei Hälften, beginnt sie mit der Salami zu belegen und sie anschließend mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck zu verspeisen. Irritiert wende ich mich ab, krampfhaft versuchend meine Kopfschmerzen, meine Übelkeit, meine Gereiztheit, mein Selbstmitleid zu verdrängen.
Ich gehe die Liste der Personen durch, die ich heute noch anzurufen habe, ordne sie nach Dringlichkeit. Nach Wichtigkeit die Termine, die ich nicht vergessen darf. Hilft alles nichts. Der Penner fängt jetzt an, die Karotte zu schälen. Mit einem alten, wackeligen Schälmesser. Dessen Klappern klingt wie ein unbarmherziges Schlagen. Lässt er die Klinge über das Gemüse laufen, ist es, als kratze er mit seinen zerfransten Fingernägeln über eine Schiefertafel. Herr, gib mir die Kraft, Dinge, die ich nicht ändern kann hinzunehmen!
Ich rufe mir Bilder vor mein geistiges Auge. Lasse den gestrigen Abend noch einmal Revue passieren. Die zahllosen Drinks mit Frank. Die komischen Typen, die Sid verarschte. Das absolute Chaos, das Paddy verursachte, als er sternhagelvoll versuchte – was heißt eigentlich versuchte, er hat das straight durchgezogen –, als Paddy also sternhagelvoll die Bar abräumte, sie von allen störenden Gläsern befreite, sich an die Zapfanlage gekuschelt auf die Theke legte, und in ein dreistündiges Koma verfiel – unaufweckbar. Der verzweifelte Wirt. Der Terror. Die endlosen Diskussionen. Der ausufernde Streit mit Nancy. Die tumultartigen Verbrüderungsszenen der Versöhnung. Ablenkung!
Doch mein Gegenüber lässt mir keine Chance. Lautstark kramt er in seinen Beuteln und zaubert eine Tüte Gummibären hervor, die umgehend seiner Bestimmung zugeführt wird. Ich weiß nicht, was größer ist. Meine Verwunderung über und meine Bewunderung für seinen Magen oder ist es der Hass. Der Hass auf diesen steten Quell der Unruhe, diese konstante Monotonie des Lärms. Wie kleine Nadelstiche, unaufhörlich. Ein Tropfen, der einem permanent auf die Stirn tropft. Das ist mehr als Wehtun. Scheiß auf die Gelassenheit!
Das Sackgesicht liest ein Buch und ich beginne mich nach Ruhe zu sehnen. Einfach nur Ruhe, Isolation, ein Vakuum der Stille, eine Oase der Abgeschiedenheit, intellektuelle Zurückgezogenheit. Nur ein Wunsch durchflutet mich: in Ruhe gelassen zu werden. Keine Fragen. Keine Antworten. Keine Störungen. Keine Spielchen. Nur Ruhe. RUHE!
Keine Gnade. Der Zug fährt gerade wieder los, noch zwei Haltestellen für mich und der Penner kümmert sich um seinen nächsten Imbiss, den auf der Ablage zwischendeponierten Apfel. Ein riesiges, grünes Teil. Er isst es. Besser: Er frisst den Apfel und schmatzt genüsslich unrhythmisch mit seinem verfaulten Maul. Erst jetzt fällt mir auf, wie abscheulich es von gegenüber rüberstinkt. Und dieser Kerl isst den Apfel nicht wie es wahrscheinlich jeder andere Mensch machen würde – eben mit langsameren, größeren Bissen. Nein, der stinkende Haufen Scheiße knabbert seinen Apfel in kleinen hektischen Bissen, vier, fünf, sechs hintereinander – wie eine Ratte. Lärmtropfen prasseln unaufhörlich auf meine Stirn. Über was man sich alles aufregen kann/soll/darf, wenn einem so ziemlich alles auf den Arsch geht. Krank!
Ich betrachte den Penner jetzt genauer. Ein rothaariger Rübezahl, ein Berg von einem Mann mit kleinen, hervorstechenden Augen. Nichtssagend, hohl, kalt, sein Gesicht hinter einem Vollbart versteckend. Das ganze Bild wird abgerundet, gekrönt von einer standesgemäßen Beatles-Gedächtnis-Frisur. Eine Hippievisage. Und ich dachte bisher, John Lennon sitzt auf einer einsamen Insel und spielt `nen flotten Poker mit Lady Di, Marilyn Monroe und Kurt Cobain. Wenigstens er sollte seine Ruhe haben. Wohl falsch. Lennon ist weder tot, noch spielt er irgendwo irgendwas. Er sitzt im Zug, direkt neben mir, frisst und geht mir tierisch auf den Sack. Verdammt.
Johnny-Baby legt sein Buch zur Seite und quittiert das Ganze mit einem herzerfrischenden, durch Mark und Bein dringenden Rülpser. Eine Flasche Bier wird geöffnet. Der Herr hat Durst. Klischee as Klischee can.
Gleich ist es Geschafft. Meine Haltestelle naht. Meine Kopfschmerzen sind bereits da. Der Gedanke jetzt erst ins Büro zu gehen, einen langen Tag noch vor mir habend, all der Stress, die Hektik, der Kontakt zu Menschen, zu anderen, Fremden, macht mir Angst. Bringt mich zum Schaudern. Kalter Schweiß ummantelt mich, panisch streiche ich mir übers Gesicht. Es hat keinen Zweck, ich muss jetzt Aufstehen. Es geht nicht anders. Der Geist, mein Geist, wäre willig, willig und fähig alles stehen und liegen zu lassen, auf alles zu pfeifen. Auszubrechen und davonzulaufen. Er sagt es mir jeden Moment, mit jedem Atemzug. Unaufhörlich. Erneut peitscht mich der kalte Schweiß. Das Fleisch. Mein Fleisch ist das Problem. Automatismen, gewohnte Verhaltensweisen, die auf Knopfdruck vorgeführt und/oder angewandt werden. Angepasst. Wie eine Art mechanisches schlechtes Gewissen, das jeden Ausbruchsversuch im Keim erstickt und einen in der Warteschleife festhält. Warten. Unbewusst unterbewusst.
Wie an Bindfäden hängend stehe ich auf. Meine Knie sind wie Gummi – wackelig und weich, feige und ängstlich. Ich drehe mich um und gehe an dem stinkenden Haufen Scheiße vorbei. Ein Haufen Scheiße, der wahrscheinlich glücklicher und zufriedener lebt, als ich es jemals werden könnte. Neid kommt in mir hoch, beginnt mich zu verzehren. Ich bleibe stehen.
„Hey, Arschloch! Hast Du mal `ne Mark?“
Die fahlen Augen des Hippie-Penners blicken verwundert zu mir hoch. Fast hilflos tastet er seine Hose ab, kramt in seinen Taschen. Er grinst debil und offenbart dabei sein verfaultes Gebiss, während er wie wild mit den Achseln zuckt. Milde lächelnd sehe ich ihn an, fische aus einer meiner Hosentaschen eine Mark und drücke sie ihm in die Hand. Und aus purer Geberlaune gebe ich ihm noch eine – diesmal direkt aufs Maul.
Irgendwann sollte endlich ein Leitfaden für richtiges Schnorren erscheinen, ein Knigge für sozialdarwinistische Außenseiter, ein Regelwerk für Manieren und Umgangsformen beim sich durchfressen in der Gesellschaft. Aber das ist mir in diesem Augenblick scheißegal.
Die Tür springt auf und ich gehe raus. Frischluft. In meinem Kopf pocht es. Nach zwei, drei Schritten höre ich, wie sich die Türe wieder schließt. Das Pfeifen hämmert ebenso erbarmungslos in meinem Kopf wie zuvor. Immer das Gleiche. Jeden Tag. Dieselbe Scheiße. Keine Ruhe.
Kopfschüttelnd mache ich mich auf den Weg und lasse die Bahn in meinem Rücken davonfahren. Manchmal frage ich mich nach der Existenzberechtigung für solche Menschen, für solche Penner und Scheißhaufen. Gestalten, die sich über jede noch so kleine Kleinigkeiten so herrlich lächerlich aufregen können und selbst doch nur feige sind…
Gibt es die überhaupt? Krank!