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Ein Abschied
Wo bin ich? Licht; über mir. Ein paar Sekunden lasse ich mir Zeit, dann versuche ich, den Schleier vor meinen Augen zu verdrängen.
Wo bin ich? Die Frage dringt erneut in mein Bewusstsein.
Ich will aufstehen, aber es geht nicht. Jeder Muskel meines Körpers scheint zu schmerzen. "'Hoffentlich ist nichts gebrochen ...", flüstere ich und versuche im gleichen Moment, mich aufzurichten - ohne Erfolg. Es gelingt mir lediglich, mich auf die Seite zu legen.
Neben mir: Nichts! Nur undurchdringliches Dunkel. Ich schaue mich um, so gut es gerade geht. Offenbar liege ich auf einem Felsvorsprung.
Langsam komme ich halbwegs zu Bewusstsein. Meine Kehle ist trocken; meine Augen tränen. Ein eisiger Wind zieht durch den Abgrund. Erst jetzt, frierend und zitternd, bemerke ich, wie kalt es ist. Warum ist niemand da, um mir zu helfen? Was habe ich getan?
Ich sehne mich nach einem warmen Ofen, nach einer Decke und meinen Eltern. Mein Vater soll mich jetzt vor dem Abgrund beschützen wie sonst vor meiner missratenen Schwester Anna. Sie ist neidisch auf mich, will mich ständig bestehlen und heckt eine Intrige nach der nächsten aus. Ich sei das "Lieblingskind" und würde mich für etwas Besseres halten. Natürlich sorgt ihr Verhalten nur für noch mehr Frust und Hass. Wir sind Schwestern und Feinde zugleich.
Mit dem Gedanken an Anna fällt mir endlich wieder ein, was passiert ist. Sie hat mich aus Rache und Neid von einem Felsvorsprung in die Tiefe des berüchtigten "Schwarzen Lochs", einem großen, felsigen Erdloch, gestoßen. Unter einem lächerlichen Vorwand hatte sie mich hierher gelockt. Scheinbar ganz aufgeregt hatte sie mir berichtet, dass sie etwas gefunden habe, was ich unbedingt sehen solle. Erstaunlich, dass ich ihr nicht misstraute. Und als sie mich hinunterstieß ... Gelacht hat sie! Sie wollte gar nicht mehr aufhören. Wahrscheinlich ahnte sie gar nicht, was sie damit angerichtet hat.
Der Fels, auf dem ich liege, ist schrecklich kalt. Der Sturz muss vor Stunden geschehen sein und mein Körper schmerzt, sehnt sich nach Ruhe. Aber Ruhe heißt jetzt: Tod. Langsam richte ich mich auf. Jeder Teil meines geschundenen Körpers tut weh. Das wirst du büßen, Anna!
Aber die Rache kommt später. Erst muss ich handeln, das Schwarze Loch emporklettern. Finden wird mich hier sicher niemand - geschweige denn suchen. Wenn ich oben ankomme, dann ... dann gehe ich sofort zur Polizei und erzähle alles, bis ins kleinste Detail. Anna wird sich wundern. Und mein Vater wird sie windelweich prügeln, ganz sicher! Vielleicht kommt sie dann endlich zur Vernunft.
Mit diesen Gedanken fasse ich neue Hoffnung, fasse Mut, um der Verzweiflung entgegenzutreten, und beginne zu klettern. Ich schaue nach oben - eine zwanzig Meter hohe Felswand muss ich überwinden, um dem Abgrund zu entkommen ...
Eben noch voll Wut und Kraft überkommt mich erneut ein Gefühl der Machtlosigkeit. Was ist, wenn ich es nicht schaffe? Dennoch erlaube ich mir nicht aufzugeben. Mit klammen Fingern und beginne ich, die Wand zu erklimmen. Zentimeter für Zentimeter arbeite ich mich empor. Auf meinem Weg brechen Fingernägel ab, weil ich ständig abrutsche. An den scharfkantigen Steinen ziehe ich mir viele kleine Wunden zu, die unheimlich schmerzen. Ich stoße ständig an. Doch an Aufgabe will ich nicht denken. Unermüdlich klettere ich in winzigen Etappen nach oben. Schon sind zehn Meter geschafft. Anna soll für diese Demütigung büßen! Wenn ich oben bin, dann wird sie sich wünschen, nie geboren worden zu sein! Getrieben, wütend arbeite ich mich voran. Fast ist es geschafft. Nur noch fünf Meter trennen mich von meiner Rache. Nur noch wenige Meter sind zu überwinden, bis ich meinem halbtoten Körper Ruhe gönnen kann.
Langsam werden meine Hände eiskalt und klamm und ich komme immer langsamer voran. Gleichzeitig kostet es mich immer mehr Kraft, meinen Weg fortzusetzen. Aber ich muss es schaffen! Oder zumindest versuchen!
Meine Hände und Beine sind ohne Gefühl. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr. Mittlerweile muss ich jeden Stein sehen, den ich berühre, um sicherzugehen, dass ich ihn tatsächlich benutze. Immer wieder rutsche ich ab. Es wird immer schlimmer! Dabei sind es nur noch fünf Meter. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein! So kurz vor dem Ziel.
Trotz meiner Mühen erfüllt stille Verzweiflung schleichend mein Innerstes. Hoffnungslosigkeit lässt mich schwächeln. "Warum gerade ich?", flüstere ich und schäme mich im nächsten Moment für diese egoistische Frage. Ich will nur noch weinen. Ich komme einfach nicht vorwärts. Egal, wie viel Kraft ich investiere, mein Körper will nicht mehr. "Nur ein paar Zentimeter. Nur ein paar Zentimeter!", flüstere ich mit tränenerstickter Stimme. Der Plan meiner Schwester scheint sich nun doch zu erfüllen. Aber nicht hier, nicht so elend will ich sterben.
Trotzdem ist es vorbei. Meine Wut, mein Hass, mein Wille: Nichts wird mich jetzt noch in Sicherheit bringen können. Mein Körper ist endgültig taub. Ich komme nicht weiter, kann mich nicht mehr lange festhalten. Langsam begreife ich, was das heißt. Nie wieder Freunde, nie wieder Eltern, nie wieder Anna. Erneut muss ich weinen, stärker als zuvor. Ich will an nichts mehr denken. Ein paar Minuten gebe ich mir, bis Angst und Schmerz ein wenig nachlassen.
Auf einmal fühle ich mich seltsam benebelt. Mir ist gar nicht mehr so kalt wie noch vor ein paar Minuten. Wovor fürchte ich mich eigentlich? Mir ist geradezu nach Lächeln; also lächle ich in den Abgrund. Niemand lächelt zurück, aber ich fühle mich trotzdem besser. Kurz verharre ich noch in meiner angespannten Lage, dann lasse ich los.
Schade, dass niemand erfahren wird, wie sehr ich gekämpft habe.