- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Ein Adoptivkind
Ein Adoptivkind
Der ältere Herr im Anzug und Krawatte rutscht unruhig auf seinem Sitz hin und her. Immer wieder springt er auf, geht den Gang hinunter, macht unten kehrt, um wieder an seinen Platz zurückzukehren. Dann setzt er sich, schlägt die Beine übereinander – um im nächsten Augenblick wieder unruhig auf dem Sitz hin und her zu rutschen.
´Er macht mich nervös´, denke ich.
Um dem Ganzen ein Ende zu bereiten, unterbreche ich die Stille.
„Sie warten wohl schon lange.“ frage ich ihn.
"Ja, schon sehr lange. Die Herrschaften lassen sich Zeit.“ Er ist sichtlich verärgert.
„Worum geht es denn, wenn man fragen darf.“
Er sieht mich skeptisch an.
„Wissen sie, das glauben Sie mir sowieso nicht. Niemand glaubt mir das. Und niemand versteht es.“
Noch bevor ich antworten kann, bricht es aus ihm heraus. Ja, er scheint froh zu sein, endlich jemanden gefunden zu haben, dem er sich mitteilen kann.
"Da wird immer soviel davon geredet, anderen Menschen zu helfen, Mitgefühl zu zeigen, Barmherzigkeit zu üben. Aber wenn es dann darauf ankommt, auch Taten folgen zu lassen, wollen die meisten nichts mehr davon wissen."
Er macht eine kurze Pause, sieht zum Amtszimmer hinüber - vielleicht in der Annahme, dass dort nun endlich jemand herauskäme, der sich seiner annahm - und spricht weiter.
"Und wenn es denn doch Menschen gibt, die das Unmögliche möglich machen, die ihr über ihren Schatten springen, um einem einzigen Menschen eine wahre Hilfe zu sein, sich seiner anzunehmen, ihm eine Familie, ein Dach über dem Kopf zu geben, dann werden nur verständnislos die Köpfe geschüttelt - ja sogar Vorwürfe gemacht, wie man nur so handeln könne."
Ich weiß nicht, wovon er spricht, verstehe nicht den Sinn dieses Gespräches, jedoch schweige ich. Es scheint ihm sehr wichtig zu sein, mir seine Geschichte mitzuteilen. Ich will ihn daher nicht unterbrechen. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass es etwas ganz und gar Ungeheuerliches ist, was dieser Mann mir zu erzählen versucht.
"Hab meinen Jungen verloren ... vor einem Jahr ... bei einem Unfall ....
So ein Bengel, knapp ein Jahr älter als meiner, hat ihn über den Haufen gefahren ... betrunken soll der gewesen sein ... wollte nach der Disko nach Hause.
Mein Junge stand an der Bushaltestelle, kam gerade vom Training, als der andere ihn umfuhr ... "
Er macht eine Pause, fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Mir wird die Geschichte unangenehm. Was soll ich ihm auch sagen?
Doch da fährt er auch schon fort.
"Dieser Jugendliche hat nur ein paar Schrammen davongetragen ... Mein Junge überlebte es nicht ... der Aufprall war so heftig, dass er gegen die eisernen Pfosten des Wartehäuschens gestoßen wurde ... Schädelbruch ... drei Tage hat er noch im Koma gelegen ... wir hatten immer die Hoffnung, er würde es schaffen ... "
Die letzten Worte spricht er sehr leise. Ich muss mich anstrengen, sie zu verstehen.
"Meine Frau erlitt danach einen Zusammenbruch ... dachte, ich würde sie auch noch verlieren ... "
Er reibt die Handinnenflächen aneinander, kann aber das leichte Zittern nicht verbergen. Er steht auf, geht zum Fenster und schaut hinaus. Ohne den Blick zu wenden, spricht er weiter.
"In der Gerichtsverhandlung kam heraus, dass das Motorrad gestohlen war und der Junge aus einem Heim kam.
Ich konnte kaum glauben, dass dieses schmächtige Bürschchen älter als unser Junge war. Und wie er da so saß, zusammengekauert, in der viel zu großen Sportjacke, wie ein kleiner Hund - ohne ein Wort zu sagen, den Kopf nach unten gesenkt - da tat er mir plötzlich unendlich leid."
Er dreht sich zu mir hin.
"Verstehen Sie! Niemand hat diesen Jungen jemals richtig geliebt. Das, was er am Leibe trug, waren gespendete Sachen. Seine einzigen Bezugspersonen waren seine Erzieher, die ihn abwechselnd betreuten.
Er konnte nicht zu jemanden ins Bett krabbeln, wenn er nachts Angst hatte. Niemand machte ihm ein Brot, bevor er nachmittags rausging. Niemand fragte, ob er warm angezogen sei, ob er sich die Ohren gewaschen, die Haare gekämmt hatte ... Sie verstehen, was ich meine?"
Ich nicke stumm.
"Wie gesagt, als ich ihn dort so kümmerlich sitzen sah, kam mir der Gedanke ...
... was wäre wenn ...
... aber ich verscheuchte ihn gleich wieder. Denn dieser Bengel dort hatte meinen Jungen getötet. Für mich war er ein Mörder und für die Leute im Gerichtssaal auch. Und ein Mörder gehörte hinter Gitter ... "
Wieder schweigt er. Er steht immer noch am Fenster. Doch diesmal lehnt er sich, den Kopf am Unterarm, dagegen.
Dann geht die Tür des Amtszimmers auf.
"Herr Weigelt bitte!" Die Sachbearbeiterin hält die Tür offen. Der Mann am Fenster dreht sich um und folgt eilig dieser Aufforderung.
Ich bleibe draußen sitzen und grübele. `Wie geht die Geschichte weiter?`Plötzlich habe ich Sorge, das Ende nie zu erfahren.
Ich werde ebenfalls nach ein paar Minuten aufgerufen. Der Sachbearbeiter schaut sich mein Anliegen an, macht ein paar Notizen und legt den Antrag beiseite.
"Sie bekommen Bescheid!" meint er lakonisch.
Mehr habe ich auch nicht erwartet. Ich bedanke mich und gehe. Draußen traue ich meinen Augen nicht. Dort wartet der ältere Herr - und wie es aussieht, auf mich.
"Ich sehe es Ihnen an der Nasenspitze an, dass Sie wissen wollen, weshalb ich nun hier war." Er lächelt.
"Setzen wir uns. Ich will es kurz machen."
Ich setze mich zu ihm, schaue ihn erstaunt und dankbar an. Ja, ich brenne darauf zu erfahren, wie die Geschichte weitergeht und warum er hier ist.
"Der Junge bekam vom Richter 1 Jahr und 6 Monate Jugendstrafe wegen fahrlässiger Tötung. Wir waren fassungslos ... hatten erwartet, dass er für mehrere Jahre eingesperrt würde.
So wenig ist ein Menschenleben wert, dachten wir damals. Doch die Monate vergingen und mit der Zeit legte sich bei uns die Wut und die Enttäuschung, nicht aber unsere Trauer."
Er atmet ein paar mal tief durch. Es fällt ihm offenbar immer noch schwer, darüber zu reden.
Ich sage nichts, will ihn nicht ablenken.
Dann fährt er fort.
"Niemand von uns getraute sich zuerst, den Gedanken auszusprechen - so unglaublich war er ...
... doch eines Nachmittags fragte meine Frau so ganz nebenbei, wie es wohl dem Jungen gehen würde, der unseren Jungen auf dem Gewissen hatte.
Ich sah sie an und wußte im gleichen Augenblick, dass sie das Gleiche dachte, wie ich."
Er sieht mich prüfend an. Wahrscheinlich erwartet er irgendeine Reaktion, die ihm bestätigt, dass ich auch nicht besser als die anderen bin.
Doch ich weiß nicht, was er mir sagen will und schaue ihn erwartungsvoll an.
"`Lass uns ihn besuchen fahren.` schlug ich ihr vor. Wir besorgten uns beim Richter eine Besuchserlaubnis, gaben als Grund an, dass wir so die ganze Sache besser verarbeiten könnten.
Und dann kam der Tag, wo wir dem Jungen nach Monaten wieder gegenüberstanden ...
...
Er war abgemagert, hatte dunkle Augenringe und sah auch sonst nicht gut aus.
Natürlich kam alles wieder hoch. Meine Frau hielt sich die Hand vor den Mund. Aber die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Ich wollte wieder gehen, doch sie hielt mich zurück.
`Jetzt oder nie mehr!` sagte sie nur und ging auf den Jungen zu."
Er hält kurz inne und fährt dann fort.
"Wir haben uns lange mit ihm unterhalten. Eigentlich hatten wir nur zwei Stunden, aber die Beamten dort zeigten sich großzügig, servierten uns sogar Kaffee und Gebäck. Sie merkten wohl, wie wichtig diese Aussprache wahr."
Wieder macht er eine Pause.
"Wissen Sie, er hätte sich jederzeit wieder in seine Zelle bringen lassen können. Er musste nicht mit uns reden. Es fiel ihm sichtlich schwer, uns in die Augen zu schauen. War ihm doch bewußt, was er getan hatte.
Aber er blieb, beantwortete all unsere Fragen, beteuerte immer wieder, wie leid ihm die ganze Sache tat.
Wir glaubten ihm."
Nach einer längeren Pause dreht er sich zu mir hin, schaut mir in die Augen, zögert ...
"Als wir wieder nach Hause fuhren, trafen wir eine Entscheidung - gemeinsam.
Unseren Jungen konnte nichts und niemand wieder lebendig machen. Wir werden ihn immer vermissen.
Aber wir konnten etwas tun, was unserem Leben wieder einen Sinn gab.
Wir beschlossen, diesen Jungen dort im Gefängnis, den Mörder unseres Sohnes ...
... zu adoptieren."
Ich bin sprachlos. `Was hatte dieser Mann dort gerade gesagt? Er will den Mörder seines Kindes adoptieren?`
Ich bin fassungslos, finde keine Worte zu antworten. Unwillkürlich rutsche ich ein Stück von dem Mann weg.
Er steht auf.
"Ja, so reagieren sie alle. Aber ich hatte die Papiere bereits eingereicht. Es fehlte nur noch die Unterschrift des Familienrichters. Und die habe ich heute bekommen."
Er schwenkt eine Mappe.
Dann reicht er mir die Hand.
"Leben Sie wohl."
Er dreht sich um und geht, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, den Gang hinunter zum Ausgang.