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Ein anderes Leben aus dem Koffer

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07.10.2019
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Ein anderes Leben aus dem Koffer

Linas Küchentisch.
Bunte Ballons zieren den Boden, leuchten von den Zimmertüren. Über dem Fotokalender an der Wand hängt eine große Neun, ausgeschnitten aus rotem Karton mit weißen Punkten. Lina bastelt mit ihrer Mutter Girlanden aus Seidenpapier. Im Ofen steigt ein Kuchen in die Höhe, kleine Kerzen liegen neben Plastikbechern mit Schokoladenglasur auf der Arbeitsfläche.
„Du klebst schon wieder mit den Ärmeln fest“, sagt Linas Mutter und lacht, „sollen wir dich etwa mit aufhängen?“
„Dann hängen wir dich aber daneben“, scherzt Lina.
„Wie? Hab ich mich auch so eingesudelt?“
„Hast du“, Lina drückt ihren klebrigen Daumen auf Mamas Wange und grinst.
„Du kleine Hexe“, zischelt Linas Mutter sanft, bevor sie mit zwei weit ausladenden Monster-Tentakel-Armen ihre Tochter umschließt, um dann zu einem Kitzel-Angriff überzugehen.
Lina hält sich den Bauch: „Aufhören, Mamaaahahaha, biiitte!“
„Also gut, du freche Biene. Heute kommst du davon, weil ich noch was ganz Wichtiges erledigen muss, das nicht für deine neugierigen Kinderaugen bestimmt ist. Aber nächstes Mal, da jage ich dich durch die Wohnung“, Linas Mutter schnellt mit dem Kopf nach vorne und reißt die Augen auf, „und dann schnappe ich dich und kitzel dich von den Füßen bis hoch unter die Achseln.“
„Nein!“, kreischt Lina und kichert. Sie springt auf und bevor sie im Flur verschwindet, ruft ihre Mutter ihr noch etwas hinterher: „Wenn du magst, kannst du später mit deiner Schwester helfen beim Kuchen überziehen.“

Zimmer 356.
Lina kratzt sich den Schorf vom Knie und isst ihn auf.
Irgendwann wird sie es geschafft haben. Irgendwann. Vor dem Fenster lichten sich die Wolken. Ein Sonnenstrahl fällt auf ihren Fuß; hastig zieht sie die Beine an ihren Körper. Zusammengekauert verharrt sie in der Stille, verharrt ihr Blick auf der weißen Raufasertapete gegenüber, einer Wand ohne Bild, ohne Ausblick. Ein Raum ohne Bewegung, bis jemand von außen die Türklinke betätigt. Ein Mann in weißem Kittel tritt herein und stellt einen Plastikbecher ab.
„Morgen, Lina. War die Nacht mal etwas ruhiger für dich?“
„Mittendrin wurde ich wach und konnte nicht mehr einschlafen.“
„Wieder die Träume von deiner Schwester?“
Lina nickt mit dem Kopf, dann reißt sie den Mund auf und gähnt. Sie starrt an ihrem gegenüber vorbei ins Nichts, überlegt, wann sie zuletzt die Löcher in der Deckenverkleidung gezählt hat, gähnt noch einmal.
„Nimmst du bitte noch deine Tabletten?“
„Muss ich die wirklich nehmen?“
„Müssen wir das jeden Tag wiederholen? Besprich’ das doch nachher mit deinem Arzt.“
„Den kann ich nicht leiden.“
„Und das am besten auch.“ Er lächelt das verschmitzte Lächeln, das Lina so mag und das nur auffällt, wenn man genau hinsieht.
„Ach Lina, pass auf: du nimmst die Tabletten und ich komme nach meiner Runde nochmal bei dir vorbei. Soweit ich weiß, schuldest du mir noch eine Revanche beim Damespiel.“
Jetzt entweicht auch ihr ein Schmunzeln, obwohl sie sich eigentlich gar nicht danach fühlt. Widerwillig greift sie nach Wasser, nimmt eine Pille, öffnet den Mund und schluckt. Mund auf. Zunge hoch. Pille zwei. Wasser. Schlucken. Mund auf. Zunge hoch. Bis zur letzten.
„Na also. Dann bis nachher, ich schau nochmal vorbei“
Der Pfleger geht hinaus durch die Tür und ohne es zu wissen, lässt er einen riesigen, weißen Saal mit einer winzigen Lina darin zurück.
„Wenn ich von dir träume, habe ich das Gefühl, du bist immer noch da“, spricht sie in den leeren Raum, während sie ihren Blick über den Nachttisch schweifen lässt: Jack London »Der Ruf der Wildnis«, zerfleddert und abgegriffen. Darunter ragt das Foto ihrer Schwester hervor, schnürt sich um ihren Hals. Schnell lässt sie es zwischen den Seiten des Buches verschwinden. Die Erinnerung an das schmerzhafte Vermissen. Und während die Stimmen in ihr verblassen, schlummert in der Tiefe ein bedrohliches Nichts, das alles zu schlucken und eine lähmende Leere in ihr zu hinterlassen droht. Wenn die Tabletten wirken und sie sich zu vergessen scheint, rückt auch ihre Wut in unerreichbare Ferne und die Hoffnungslosigkeit senkt den Kopf. 'Ich komme hier ja doch nicht raus.' In Lina kriecht eine Angst empor, als beobachtete man sie durch die Wände, als läge jemand unter ihrem Bett. Sie schlurft raus ins Bad, dreht den Wasserhahn auf und sperrt sich in einer Kabine ein. Einen Finger im Hals startet sie einen weiteren Versuch, Freiheit zu erlangen.
Und die Tage vergehen.
Magisch depressiv, genau wie ihre Mutter. Ganz gleich, wie oft die Ärzte Lina die Manie erklärten, es ist ein Umstand, den sie nicht verstehen will. Den sie nicht verstehen kann. Das alles ergab keinen Sinn und nun sollte sie auch so sein? Wie ihre Mutter, die mit einem Lachen im Gesicht zu lauter Musik durch die Wohnung tanzte, während sie tags darauf bei heruntergelassenen Jalousien geistesabwesend das Bett hütete? Wie an der Feier zu Linas neuntem Geburtstag, die nie stattgefunden hat, weil ihre Mutter an diesem Morgen die Mütter der anderen Kinder angerufen und von Linas hohem Fieber erzählt hat, bevor sie sich wortlos in ihr Schlafzimmer verzog und eine kerngesunde Lina weinend neben dem Telefon zurückblieb. Das waren Erlebnisse, die Lina anders nie begreifen wollte, als dass ihre Mutter mit einem bösen Fluch belegt war. Hilflos ausgeliefert. Ein verheerender Zauber, der sich nun ausbreitet, um auch Lina fest zu umklammern und in seinen Bann zu ziehen.

Behandlungszimmer 11.
„Seit drei Tagen kennen wir uns jetzt. Frau Doktor Neumann hat mir berichtet, dass du mit ihr bereits Fortschritte gemacht hast. Dass du dich ihr gegenüber öffnen konntest. Möchtest du mir nicht auch mal etwas von dir erzählen?“
„Was soll das bringen?“
„Das könnte bewirken, dass du dich besser fühlst.“
„So? Wirklich? Ist mir bisher nicht aufgefallen.“
„Das geht ja auch nicht von heute auf morgen. Mit der Zeit wird es aber besser. Man muss nur auch bereit sein, Hilfe anzunehmen.“
„Und das hab ich ja! Ich hab Frau Neumann von mir erzählt. Und ihr vertraut. Und mich endlich mal besser gefühlt.“
„Und was spricht dagegen jetzt weiterzumachen?“
„Was dagegen spricht? Frau Neumann hat gesagt, dass sie mir hilft. Und jetzt ist sie weg. So wie immer alle plötzlich weg sind. Und ich soll immer wieder von vorne anfangen. Warum kann sie nicht einfach hier sein?“
„Nun, sie ist ja nicht weg. Frau Doktor Neumann und ich arbeiten Hand in Hand miteinander, alle Kollegen verfahren so. Was ich entscheide, geschieht in Absprache mit ihr.“
„Aber …“, platzt es aus Lina heraus, die sich in diesem Augenblick die Nagelhaut ihres rechten Daumens einreißt und kurz zusammenzuckt - nicht wegen des Schmerzes, sondern weil sie sich geschworen hat, damit aufzuhören – doch ihr Gesprächspartner lässt sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Hin und wieder kommt es vor, dass ein Arzt auf eine andere Station versetzt wird. Das ändert nichts daran, dass wir vertrauensvoll mit den Berichten unserer Patienten umgehen. Da brauchst du dir keine Sorgen machen.“
„Aber ...“, haucht Lina dazwischen.
„Und am Ende macht es keinen Unterschied, ob du nun mit ihr oder mit mir sprichst. Wir alle sind gleichermaßen gut ausgebildet.“
Lina verschränkt die Arme und dreht den Kopf beiseite. Goldene Bilderrahmen mit Diplomen hängen neben unzähligen Auszeichnungen wie Tapetenbahnen an der Wand, davor steht eine von unten beleuchtete Skulptur und drängt sich auf, verstanden werden zu wollen, doch Lina steht der Sinn nach Kunst, wie nach allem anderen: „Es macht aber für mich einen Unterschied! Ich bin doch kein Auto. Ich habe es satt, durchgereicht zu werden. Ich bin ein Mensch! Ich hatte nicht das Glück, studieren zu dürfen. Ich kann nicht auf einem Thron sitzen und bestimmen, wie die Dinge laufen. Ich bin die Einzige, die noch nicht über mein Leben entscheiden durfte! Ich will mit Frau Doktor Neumann sprechen, sonst sage ich kein Wort mehr.“
Der Arzt nimmt seine Brille von der Nase und beugt sich ein kleines Stück zu Lina vor. Als er zum Sprechen ansetzt, ist der strenge Einschlag in seinem Ton verschwunden. Seiner Stimme wohnt der Hauch einer Umarmung inne, der Lina berührt und sie aufhorchen lässt.
„Wenn ich das richtig sehe, wirst du bald fünfzehn. Wenn du hier raus willst – wie du ja immerzu sagst – dann müssen wir gemeinsam Erfolge erzielen. Solange die Gefahr besteht, dass du dir wieder etwas antust, wirst du wohl hierbleiben müssen.“
Im Flur ertönt ein ohrenbetäubendes Gekreische: „Sie haben mir versprochen, dass ich heute hier rauskomme!“ Ein Wimmern steigt zu lautem Weinen an: „Ich will jetzt hier raus!“, doch die Schreie verhallen im Flur.
Der Arzt runzelt seine Stirn zu tiefen Furchen, seine Augenbrauen verdichten sich: „Ich denke, wir kommen heute nicht weiter. Dann machen wir an der Stelle erst mal Schluss. Ich sehe dich dann morgen wieder.“
Eine Tür reiht sich an die nächste, wie man sich auch dreht. Spiegelverkehrt, niemals endend.
Oft hat sie sich verlaufen, aber das ist lange her. Ein schmaler, weißer Tunnel ins Nichts, den Lina mutlos entlang schlurft, bevor sie in ihr Zimmer abbiegt. Sie öffnet die Türen zu ihrem Kleiderschrank, sinkt auf den Boden nieder und schaut gedankenverloren hinein.
„Irgendwann“, spricht Lina zu ihrem Koffer und streichelt seinen Rücken.

 

Hallo @Frieda Kartell

Mein letzter Kommentar war etwas kurz angebunden.
Also: Für meinen Geschmack wird die Intensität der Geschichte an einzelnen Stellen durch die fleißige Verwendung von Adjektiven gestört.
Zum Beispiel:

Die Erinnerung an das schmerzhafte Vermissen. Und während die Stimmen in ihr verblassen, schlummert in der Tiefe ein bedrohliches Nichts, das alles zu schlucken und eine lähmende Leere in ihr zu hinterlassen droht. W
Das sind gar nicht so viele, aber es fühlt sich an, als trautest Du dem Inhalt selbst nicht genug Wirkung zu und versuchst ihn zu verstärken. Das ist die übliche Methode in der Trivialliteratur und hat für bestimmte Genres auch seine Berechtigung. Hier stört es aber das ernsthafte Anliegen der Geschichte, das ich voraussetze.
[...] von Linas hohem Fieber erzählt hat, bevor sie sich wortlos in ihr Schlafzimmer verzog und eine kerngesunde Lina weinend neben dem Telefon zurückblieb. Das waren Erlebnisse, die Lina anders nie begreifen wollte, als dass ihre Mutter mit einem bösen Fluch belegt war. Hilflos ausgeliefert. Ein verheerender Zauber, der sich nun ausbreitet, um auch Lina fest zu umklammern und in seinen Bann zu ziehen.
Viele Attribute sind unnötig, wie der böse Fluch oder das hohe Fieber. An anderen Stellen nehmen sie den Lesern die Möglichkeit zur Interpretation der Situation. Also den Freiraum für die eigene Fantasie. "bevor sie sich wortlos in ihr Schlafzimmer verzog", zum Beispiel. Sicher ist es ein wichtiger Punkt, dass sie das wortlos tut. Aber wenn keine wörtliche Rede im Spiel ist, dann sollte der Leser von selbst dieses Bild erschaffen.
Was ich mit "Plattitüden" meinte, kann ich gar nicht mehr genau sagen. Ich glaube der Eindruck entstand bei mir durch solche Wortkombinationen, wie "böse Fluch", die etwas abgedroschen klingen

Mit meiner "Verballhornung" habe ich etwas daneben gegriffen. Ich meinte nicht, dass es dadurch albern klänge. Mir hat einfach diese Wortkreation gefallen, da sie in ihrer neuen Bedeutung auch einen Einblick in die Gedankenwelt eines Kindes gibt.

Auch der Eindruck der Langatmigkeit, kommt eventuell durch die Adjektive. Du hast sicher Recht: Ich habe oft zu rigoros gekürzt und dann die Kritik erhalten, dass meine Figuren zu wenig Hintergrund haben. Also: Wenn kein anderer Leser das empfindet, vergiss es einfach.

Zum unfähigen Arzt: Ich hatte "Psychiaterin" geschrieben, weil ich irgendwie verpeilt hatte, dass das ein ER ist. Sorry! Trotzdem bleibe ich dabei.

Und am Ende macht es keinen Unterschied, ob du nun mit ihr oder mit mir sprichst. Wir alle sind gleichermaßen gut ausgebildet.“
Wenn ein Fachmann nicht weiß, dass es für Psychos sehr wohl einen Unterschied macht, mit wem sie reden, dann arbeitet er im falschen Job. Und erst recht, wenn es um so junge Patienten geht.
Ich würde auch nicht sagen, dass sich der darauffolgende Arzt durch "Unfähigkeit" auszeichnet, wenn dann eher durch Empathie, die zu wünschen übrig lässt.
Empathie ist ja wohl die erste Voraussetzung für diese Arbeit. Wenn das nicht stimmt, dann sollte man so eine Wurst nicht auf Kinder loslassen. Und ein ausgebildeter Therapeut wird wohl wissen, dass man nach drei (!) Tagen noch keinen intensiven Zugang zum Patienten bekommt. Er macht im Prinzip das Falscheste, was man in dieser Situation tun kann: Er erzeugt Druck. Aber Druck ist genau das, was Patienten mit psychischen Störungen, und Menschen allgemein, dazu bringt, sich zu verschließen.
Ich dachte, Du wolltest gerade diese fehlende Kompetenz darstellen.

Meine Hinweise zur Textgestaltung entsprechen natürlich meinem persönlichen Geschmack und der Vorstellung, dass Du dadurch einen ohnehin guten Text noch besser machen könntest.

Schönen Gruß!
Kellerkind

 

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