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Ein besonderer Freund
Es hätte auch an jedem anderen Tag im Jahr passieren können.
Aber es war kurz vor Weihnachten. Sehr kurz. Eben war ich noch mit Rika auf einem mittelalterlichen Weihnachtsmarkt gewesen. Dort hatten wir uns von der friedlichen Atmosphäre anstecken lassen - ja geradezu darin gesuhlt. Fernab von Konsumaufforderung im Fernsehen, Einkaufsstraßen mit Lichterketten und dem Jingle Bells Gedudel im Kaufhaus, merkt man doch erst beim ersten Schluck Glühwein, dass etwas Spezielles in der Luft liegt. Und wenn man keine Kinder hat, bleibt es meistens auch dabei.
Vielleicht aber erinnerten mich all diese Düfte und das bunte Treiben auch an das rituelle Bad an jedem Heiligen Abend, als wir Kinder nacheinander in die Badewanne mussten, meine Mutter meine älteren Geschwister abtrocknete und deren Haare föhnte, während ich alles umherstehende dazu zwang sich dem Kampf der Elemente von Luft und Wasser zu stellen. Immer wenn sich die Tür zum Bad öffnete, vermischte sich der Geruch von Seife und diversen Parfüms mit denen der Kochkünste meines Vaters. Etwa so wie am Stand von Tee, Kerzen und allem was duftet mit dem der nebenstehenden Grillhütte für Spanferkel.
Der Genuss eines heißen Liebestrankes, wie der etwas anders gewürzte Glühwein dort hieß, und leckerem Fleisch an kleinen Spießen waren eine ideale Beschäftigung, während man dem Trubel von Gauklern und Feuerschluckern zuschaute. Ringsrum umgeben von Menschen die so gar nicht in die Zeit von Schmieden, Korbflechten und Töpfern passten. Auch die durchgängig verwandte Sprache der holden Frauenzimmer und Recken, deren Ansinnen es war, die Güter einer längst vergangen Zeit des Tausches gegen wenige Silberlinge feil zu bieten, amüsierte mich.
Dann kamen wir zu einer Menschenansammlung hinter der sich ein Arrangement von Strohballen, einer provisorischen Scheune, einigen verlottert gekleideten Menschen und ein echter Esel verbarg. Sich dem Anschein nach selbst nicht ganz ernst nehmend, erinnerten sie lautstark an die Geburt eines Kindes welches vor über 2000 Jahren das Licht der Welt erblickte. Und das obwohl alle zwei Minuten auf der Welt ein Kind geboren wird. Gut, es war wohl eine besondere Geburt. Ich kenne mich nicht so gut aus, vielleicht war es eine Steißlage. Jedenfalls hatte irgendetwas dazu geführt, dass dieses Kind, später, als junger Mann, ziemlich verrückte Ideen hatte. Und wie schon bei Cäsar zuvor und kurz nach ihm bei J.F. Kennedy und John Lennon ging dieses natürlich gewaltig in die Hose. So wurde auch sein Tod etwas besonderes und man feiert heute seine Geburt mit Tannenbäumen und sein Ableben mit Eiersuchen. Komische Welt, irgendwie. Aber Jesus, wie sie das Wollknäuel in den Armen der Frau nannten, kam ja aus dem Ausland. Andere Länder, andere Sitten!
Ich sah mir das Schauspiel an und fragte mich: Was würde er wohl dazu sagen ? Da riechen schon bei der Geburt feine Pinkel Lunte und bringen Gold, Weihrauch und Myrre. Alles was das Kinderherz so begehrt. Obendrein rät ihm ein Engel schnell laufen zu lernen und in Ägypten Asyl zu beantragen. Ich denke er fand das, nachvollziehbarerweise, alles doof und beschwerte sich ein Leben lang über diesen verkorksten Anfang. Die Einen stimmten ihm wohl zu, Andere eher weniger. Vielleicht hätte er alles was er sagen wollte rappen sollen. Dann wären heute nicht nur unsere Gottesdienste amüsanter, sondern möglicherweise wären die Anderen etwas milder mit ihm gewesen. Obwohl...wen überkommt nicht mal der Wunsch einen Rapper ans Kreuz zu nageln, um zu sehen, ob das Gefuchtel der Extremitäten nicht doch nur von seiner schlechten Wohnlage und Arbeitslosigkeit ablenken soll.
Wie dem auch sei. Immerhin hatte dieser Junge einen kometenhaften Start, ein Leben von kurzer Dauer, aber dauerhaftem Leben. Und die Erklärungsversuche der Gelehrten haben heute fast biblisches Ausmaß. Kein Wunder. Wunder vollbrachte er am Fliesband. Selbst nach seinem Tod hatte er noch Tricks auf Lager. So hat er es tatsächlich geschafft, dass Menschen sich gerne vorstellen, dass man sich auch nach dem Tod noch etwas vorstellen kann. Wer hätte gedacht, dass ich so schnell darauf zurückkommen würde.
Leicht angesäuselt und von der Anstrengung zu entspannen sichtlich gezeichnet, sind wir erst zu mir zurückgekehrt, worauf sich Rika sehr bald verabschiedete und nach Hause fuhr. Es war etwa kurz vor zehn, als sie mich von dort anrief. Bei ihr vor dem Haus läge ein Vogel und rührte sich nicht mehr, aber lebte noch. Sie sagte, es sei definitiv ein größeres Exemplar und da ich an ihrer Kenntnis über Vögel keinen Zweifel hegte, verstand ich auch, dass sie sich nicht so recht daran traute, aber auch nicht wisse was sie machen solle. Sollte man überhaupt etwas machen oder der Natur ihren Lauf lassen ? Wir haben uns diese Frage in ähnlichen Situationen schon öfter gestellt, und wussten aus Erfahrung, dass es uns ohnehin keine Ruhe lassen würde. So hab ich in der Vergangenheit schon eine kranke Ratte und eine angefahrene Katze von ihren eindeutigen Qualen befreien müssen. Was mir übrigens nicht deutlich mehr Ruhe verschafft hat - jedoch das Gefühl das Richtige getan zu haben. In diesen Fällen!
„Regt er sich gar nicht mehr?“ „Nein, aber er hat die Augen auf!“ „Mhhh -
okay, ich komme und wir sehen uns ihn mal gemeinsam an!“ „Was? Du willst jetzt noch kommen?“ fragte sie im Hinblick auf die fortgeschrittene Stunde. „Das wusstest Du doch, als Du anriefst und es mir erzählt hast!“ „Stimmt!“ sagte sie, als wäre sie von sich selbst überrascht.
Also bin ich los. Alle möglichen Gedanken kommen auf. Was findet man vor? Geht’s ihm gut...Kiste drüber und bei Tag zu einer Vogelstation. Geht’s ihm schlecht...muss ich mir jetzt noch einen Vogel auf das Gewissen laden? Wie macht man es überhaupt kurz und schmerzlos bei einem Vogel ?
Bilder aus meiner Kindheit werden wach. Ein Vater-Sohn Ausflug zum Bauernhof, bei dem der Bauer, pädagogisch wertvoll, vorführt wie man gleich zwei Hühnern den Kopf abreißt und sie wegschmeißt. Wohlbemerkt nicht die Köpfe. Die Hühner! Welche dann auch noch ziemlich weit flogen. Mein Vater dachte sicher ich lerne etwas fürs Leben. Hab ich auch. Der
Duft von Seife und Weihnachtspute passt nicht zusammen.
Auf jeden Fall konnte ich es so nicht machen. Jetzt bog ich schon in das Waldstück ein, dann in die Sackgasse mit Wendehammer und rollte schließlich langsam vor das Haus. Ich erinnere mich als würde es gerade geschehen.
Ich sehe den armen Vogel sofort. Er liegt ca. zweieinhalb Meter vor meinem Auto im Scheinwerferlicht. Er ist auch nicht zu übersehen. Ich habe Rikas Anmerkung schlicht verdrängt. Es ist eindeutig ein Greifvogel. Ich sitze einen Moment im Auto und starre auf die Stelle. Für einen Turmfalken oder Sperber, die man ja schon häufiger in Städten sieht ist er, wie Rika schon sagte, wahrlich zu groß.
Die Flügel leicht abgespreizt, wie Vögel es tun um ihrer Brut Schatten zu spenden, liegt er da. Plötzlich, es kam mir danach vor wie eine Ewigkeit, fällt mir auf, dass der Motor noch läuft und sicher nicht gerade beruhigend auf das Tier wirken muss. Ich stelle ihn ab. Das Licht muss leider sein. Es ist stockdunkel. Langsam öffne ich die Tür und steige, ohne den Blick von ihm zu nehmen, aus. Keine Reaktion. Soll ich jetzt die Bauhandschuhe für Pannenfälle aus dem Kofferraum nehmen? Ich kann nicht, starre wie gebannt auf das Tier. Ich sehe noch kurz auf meine auch nicht ganz dünnen Wildlederhandschuhe und gehe Schritt für Schritt näher. Keine Reaktion.
Ich näher mich in einem Bogen, so dass ich das Tier zwischen Lichtquelle und mir habe. Ich bin bis auf einen Meter heran und sehe, dass es etwas erbrochen hat. Ziemlich viel sogar und es zieht sich wie eine Spur in die Dunkelheit. Ich gehe in die Hocke. Er liegt ganz ruhig da, hat sich die ganze Zeit keinen Millimeter bewegt. Dann sehe ich wie er mich ansieht. Er starrt mich an wie ich ihn anstarre. In diesem Moment wird mir klar, ich könnte ihm nichts antun. Nichts um ihm ein schnelles Ende zu bereiten. Er scheint keine Schmerzen zu haben. Aber was hat er dann?
Mein Verstand bemüht sich logisch vorzugehen. Naheliegend bei einem Vogel sind wohl seine Flügel zu kontrollieren. Ich schlurfe, tief hockend, ganz sachte so nah an ihn heran, dass er fast unter meinem Knie liegt. Ich strecke die Hand aus und streiche erst über den einen, dann über den anderen Flügel. Keine Reaktion. Während meine Hand über ihm ist, wird mir erst richtig bewusst, womit es ich hier zu tun habe. Normalerweise wurden alle Vögel, die ich in meinem bisherigen Leben gestreichelt hatte zu einem guten Teil von meiner Hand abgedeckt oder verschwanden gar darin. Nicht so hier. Sie erscheint mir im Verhältnis eher lächerlich.
Er liegt zusammengekauert da. Die Flügel lege ich wieder an seinen Körper und trotzdem wird er immer größer. Meine Sorge vermischt sich mit Faszination.
Was kann er nur haben? Ich muss ihn ganz sehen, rundherum. Langsam schiebe ich meine Finger unter den Körper und als ich merke wie er es sich gefallen lässt, hebe ich ihn an.
Ich halte ihn an fast ausgestreckten Armen hoch. Und dann steht er aufrecht in meinen Händen. Zu meiner Freude hält er den Kopf gerade. Durch die Scheinwerfer meines Wagens ein fast surreales, aber unbeschreiblich anmutiges Bild. Er blinzelt und wir schauen uns auf gleicher Höhe an. Auge in Auge. Auge in Auge mit einem König der Lüfte.
Ich schätze ihn auf gute fünfzig Zentimeter, ohne Schwanzfedern, ohne Beine und Füße. Erst tippe ich auf Habicht, dann auf Bussard. Und wie ich später auf Bildern wiedererkannte, habe ich recht:
Der Bussard, ein habichtartiger Greifvogel ist nach seinem Äußeren die kleinere Ausgabe eines Adlers. Das Weibchen wiegt bis ein Kilogramm und seine Flügelspannweite kann bis zu einmetervierzig betragen.
Und ich halte ein ausgewachsenes Exemplar in meinen Händen.
Ich sehe ihn mir ganz genau an. Ein schwarzer Schnabel wie er für seinen Zweck nicht besser geformt sein könnte. Eindeutig eine Waffe. Ein windschnittiges Gesicht und ein Hemdknopf großes Auge in Braun. Wer hat nicht das Profils eines Adlers vor seinem geistigen Auge. Kaum etwas wirkt entschlossener, zielstrebiger und so Effizient. Was die Haiflosse unter den Fischen, was die Silhouette eines schwarzen Panthers unter den Landtieren, ist dieser Kopf unter den Herren der Lüfte. Wunderschöne Federn, braun, schwarz und wieder weiß kann ich erkennen. Perfekt angeordnet bis unter den Bauch.
Aber auch dort nirgends ein Anzeichen für eine Verletzung. Mein Blick schweift herunter bis auf die Füße. Mich durchfährt ein Schauer bei dem Anblick. Hastig blicke ich gleich noch einmal zum Kopf. Alles ruhig. Er blinzelte nur. Ich schaue wieder an ihm herab. Gelbe kräftige Füße, die für mich jede Diskussion ob Vögel von den Sauriern abstammen erübrigt. Lederartig geschuppt und an ihrem Ende krummdolchartige Krallen, die, verglichen mit den winzigen Krallen meines Katers, geradezu mörderisch wirken. Obgleich ich deren Wirkung jedoch nur allzu gut und mehrfach schmerzvoll kennen gelernt hatte. Er trägt keinen Markierungsring. Und wenn er doch nur gegen die Mauer geflogen war und jeden Moment die Besinnung wiedererlangt? Ich würde ihn keine Sekunde mehr halten können...oder wollen. Zum Schutz meiner Hände hätte ich sie genauso gut auch eincremen können.
Der würde glatt mit ihnen davon rauschen ohne vorher auch nur daran zu denken sie loszulassen.
Der Name Mäusebussard kommt von seiner Hauptnahrung, aber mit seinen scharfen Krallen hat er auch strampelnde Hasen und junge Füchse fest im Griff.
Doch die Faszination ist stärker als der gerade schlagartig höllisch angestiegene Respekt vor Schnabel und Krallen.
Langsam, ganz langsam drehe ich ihn. Dort, wo auf der anderen Seite das Auge war, hat er hier nur eine kleine leere Augenhöhle. Er ist wohl nicht das erste Mal in Bredouille. Aber die Verletzung war gut verheilt und wirkt nicht sonderlich abschreckend. Dennoch denke ich, wie mag es sein für ein Lebewesen, welches sprichwörtlich Adleraugen besitzt, nur eines davon zu haben? Es sind bekanntlich Wunderwerke.
Damit ein Mensch aus einhundert Metern Entfernung zwei Punkte noch als zwei getrennte wahrnehmen kann, muss der Abstand zwischen den Punkten 10 Zentimeter betragen. Für einen Greifvogel aus eintausend Metern, also zehn mal so weit entfernt, reicht nur ein Zentimeter Abstand.
So scharf kann einen kein Schwiegervater der Welt ansehen!
Rika kommt. Sie hat mich anscheinend von ihrem Fenster aus gesehen. Ich lege ihn wieder sanft ab. Ich sage ihr sie hat nicht untertrieben. Es ist ein mächtiges Teil. Wir diskutieren die Ursache unter Betrachtung der Umstände, aber nichts macht auf uns Laien einen Sinn. Wäre er gegen die Wand geflogen, wäre er entweder tot, bewusstlos oder hätte auffallend Schmerzen.
Nein, er hier hat was anderes. Was auch immer. Fakt ist, ich kann ihn nicht erlösen. Nicht nur weil ich dieses Tier viel zu sehr bewundere. Ich kann meinem Verstand auch nicht erklären warum dies sein letztes Stündlein sein soll. Aber mein Gefühl ist sich darin sicher. Es wusste es von dem Moment an, als ich realisierte, dass dieses Wildtier einem Menschen sicherlich niemals näher als zehn Meter kommen würde und ich hielt ihn in beiden Händen. So sage ich es auch Rika. So stehen wir in der Kälte und starren abwechselnd uns und das Häufchen Elend wieder an.
Mir ist kalt, es war wenig über Null Grad und Regen liegt in der Luft. Ich sehe wieder auf das Erbrochene. Wenn er Gift oder eine vergiftete Ratte gefressen hat und seine Kräfte schon so gut wie geschwunden sind, dann müsste auch ihm kalt sein. Außerdem muss jetzt etwas geschehen. Anstarren macht es nicht besser. Ich hole eine klappbare Einkaufskiste aus dem Auto und lege ihn auf etwas Zeitungspapier hinein. Stelle sie dann noch kurz zur Seite und untersuche was er ausgespien hat. Es ist weder Fell, noch Knochen, noch Blut. Es sieht irgendwie...künstlich aus. Ich nehme ein Stöckchen und stocher es etwas auseinander. Es erinnert mich an Bauschaum. Jenes Zeug mit dem man Fenster bei ihrem Einbau abdichtet. Sehr zäh und gelb. Mich schaudert es erneut. Was mag passiert sein? Wie lange liegt er wohl schon dort?
Wir tragen ihn ins Haus, stellen die Kiste ins Wohnzimmer und hocken uns daneben. Meine Hilflosigkeit schnürt mir den Atem zu. Es muss etwas passieren. Ich nehme mir ein Telefonbuch. Wir hatten schon einmal Gebrauch vom einzigen nächtlichen Tierarzt gemacht. Ich glaube nachts verwandeln sie sich in Bauhandwerker, so wie die Zahnärzte, die ich als Kind regelmäßig an Wochenenden kennen gelernt hatte. Und das hier ist kein Stadthund oder eine streunende Katze. Der Bussard gibt keinen Mucks von sich, aber atmet ruhig. Nach einigen Überlegungen steht für uns fest, ein Arzt würde ihm eine letzte Spritze setzen und falls man um Elf abends noch ein Tierheim oder irgendwoher jemand auftreiben würde, der mehr Ahnung davon hatte, fiel dem sicher auch nichts besseres ein. Man muss nicht studiert haben, um zu sehen, dass alle Bemühungen nur noch in unnötigem Stress für das Tier ausarten würde. Aber wenigstens liegt er nicht mehr in der Kälte auf der Strasse. Und allein ist er auch nicht. Oder besser, Rika und ich sind es nicht.
Er ruht diagonal in der Kiste, auf dem Bauch. Den Kopf auf dem Schnabel abstützend. So wie Küken das machen. Nur ohne das Kopfzittern. Ganz ruhig, wie seine Atmung. Jetzt schauen wir uns ihn gemeinsam noch einmal intensiv an. Sein Auge blinzelt ab und an. Jedes Mal, wenn er es schließt, denken wir er würde es nicht mehr öffnen. Dann streicheln wir seinen Kopf. Ganz vorsichtig. Es scheint ihn nicht mehr zu stören. Er ist wohl im Begriff sich auf seinen letzten großen Flug einzustellen. Ich ziehe die Handschuhe aus, streiche über seinen Rücken und sein Gefieder herunter bis zur Schwanzspitze. Hier, bei besserem Licht, sieht es noch viel schöner aus. Für jede einzelne dieser Federn, aus diesem genialen Leitwerk, hätte ich mich auf der Strasse sicher gebückt. Vereinzelt bemerke ich, womit ich gerechnet habe, kleine Mitbewohner des Gefieders. Aber harmlos und wenige im Vergleich zu jedem kleinen Igel.
Ich schiebe meine Finger zwischen den Flügeln hindurch unter das Deckgefieder. Es fühlt sich einfach nur toll an. Es wird immer weicher und schließlich, zwischen den Daunen, spüre ich direkt seine Haut. Sie ist sehr warm und ganz weich. Die Knochen sind spürbar, geradeso, wie sich der Rücken meines Katers anfühlt, und man Rippen und Wirbelsäule deutlich ertasten kann. Ich streichle ihn. Rika holte die Trinkflasche von ihrem Hasen, womit wir testen wollten, ob er noch auf Wasser reagiert. Während ich meine Hand wieder zurück ziehe entweicht ihm ein leichter, aber längerer Seufzer.
Sein Atem geht weiter ruhig und sein Auge immer mal wieder für ein paar Sekunden auf und zu. Den Halm der Trinkflasche an seinem Schnabel und das herausfliesende Wasser kann ihn aber auch nicht mehr aus der Reserve locken. Wir probieren es zweimal im Abstand von zehn Minuten. Es läuft seinen Schnabel entlang und er kann es sicher wittern. Ich drehe ihn noch mal leicht auf die Seite und wir betrachten die Füße noch einmal genau.
Ehrfurchteinflössende Krallen. Aber unverändert geschlossen. Wie verkrampft ohne jedoch sichtbar Krämpfe zu zeigen. Vielleicht ist es aber auch einfach ihre Haltung, wenn sie ganz entspannt sind. Wir sind beide gleichermaßen von der Schönheit dieses Tieres fasziniert. Ich frage, ob sie einen Fotoapparat habe, was sie bejaht. Traurig neben der Kiste sitzend, hoffe ich auf ein Wunder. Rika telefoniert mit ihrer Schwester. Danach hat sie eine Adresse einer Vogelstation, allerdings eine Autostunde entfernt. Würde er doch nur bis morgen durchhalten. Und Ärzte gäbe es dann auch genug. Wie gern würde ich ein Foto machen und zusehen wie er sich von „was auch immer“ erholt.
Aber ich kann es nicht. Und die Tatsache wie teilnahmslos er sich anfassen lässt, machen den Wunsch seiner Genesung sehr fromm. Ich weiß auch nicht wie sehr ich mich erschrocken hätte, gefreut hätte oder was auch passiert sein möge, wenn er einmal geschrieen hätte. Hat er aber nicht. Heut weiß ich, dass ihr Ruf ein sehr wohlklingendes, unter Greifvögeln seltenes Miauen ist. Eben kein Schrei. Einer der vielen Namen für ihn ist deshalb auch Katzenaar. Im Internet fand ich später eine Hörprobe. Ebenso wie Daten über ihre Flugkünste.
Wer wie Rika und ich, einmal mit einen Gleitschirm geflogen ist, und weiß das Luft nicht nichts ist, sondern gewaltige, schwer zu kontrollierende Kräfte hat, der erkennt auch hier wie armselig der Mensch neben so einem Wunderwerk der Natur erscheint. Natürlich sind auch unsere Fähigkeiten nicht ohne. Aber von der geistig-kreativen einmal abgesehen, haben wir es in Tausenden von Jahren unserer Entwicklung gerade einmal geschafft aufrecht zu gehen. Müssen es aber mühevoll lernen, machen dazwischen Rückenleiden zur Volkskrankheit Nummer eins und kaum kommen wir in die Jahre, brauchen wir Stöcke dazu.
Solch ein Vogel übt ein wenig und stürzt sich dann mit 120 Stundenkilometern auf seine Beute. Und einen Älteren mit Fallschirm habe ich auch noch nicht gesehen. Berichte von Gleitschirmflügen in Begleitung von neugierigen Greifvögeln lesen sich atemberaubend. Verständlich, wenn man sich vorstellt, wie Otto Lillienthal sich gefühlt hätte neben einem modernen Kunstflugzeug zu fliegen. Zu sehen wie sie in ihrem Element sind. Mühelos in Thermik hochschrauben, auf der Stelle stehen und dann in den besagten Sturzflug übergehen. Den Inbegriff von grenzenloser Freiheit verkörpern.
Doch dieser hier liegt in der Kiste. Im Begriff seine irdische Freiheit gegen eine noch viel größere einzutauschen. Dem Anschein nach in einem sehr ruhigen Segelflug.
Wir haben unseren Wunsch, der Natur in der ein oder anderen Weise ins Handwerk zu pfuschen, vorerst zurückgestellt. Er liegt zwar jetzt nicht irgendwo auf dem Boden, wie es seine Natur bestimmt. Aber wir anerkennen sein Recht allein und ohne weitere Störung, durch ihm artfremde Gestalten, seinen Frieden mit sich und der Welt zu machen. Samt Kiste in die leere Badewanne sicher ein warmes und stilles Plätzchen respektvoll abzutreten. Zumindest im harten Vergleich in Kälte und mittlerweile Regen mitten auf einer, ebenso unnatürlichen Strasse zu liegen.
Wir entschließen uns zu schlafen. Aber an Schlaf ist nicht zu denken. Im Bett gehen mir so viele Gedanken durch den Kopf. Hat nicht jeder schon einmal überlegt, wie es wäre als Vogel wiedergeboren zu werden ? Und würde man sich lieber als Wachtel oder als Adler sehen? Wer hat nicht überhaupt schon einmal überlegt was danach kommt? Und da bin ich wieder auf dem Weihnachtsmarkt, der Geschichte mit dem hyperaktiven Kind dessen Geburt wir die Tage feiern - oder zumindest so tun. Woran hält man sich denn, wenn man machtlos ist, das Schicksal nicht beeinflussen kann und dieser Scheißvogel einfach nur vor sich hin krepiert?
Ich denke es hat mit Hoffnung zu tun. Nicht die Art von Hoffnung welche man hat wenn man einen Lottoschein abgibt. Oder mit dem letzten Kleingeld des Nachts einen Zigarettenautomat sucht. Nein, ich meine eine, die nach größeren Lösungen strebt. Die etwas tröstendes hat. Die einem Hilft die Dinge zu akzeptieren.
Ich wälze mich von einer Seite auf die Andere. Wenn Du bis morgen durchhältst...fahre ich Dich wohin Du willst. Also zeig mir was in Dir steckt. Kämpfe dafür oder stirb, aber nerv mich nicht mit meiner Unfähigkeit. Ich kann Dir nicht helfen, also lass mich auch in Ruhe. Was fällt Dir ein so kurz vor Weihnachten mein Gemüt durcheinander zu wirbeln. Ich versuche besinnlich und friedlich zu sein. Aber Du meinst, Du müsstest hier rumsterben und bildest Dir auch noch etwas auf Dein Äußeres ein. Ja. Du bist wunderschön. Majestätisch. Und ich würde nichts lieber tun als Dich aufzupeppeln. Obwohl ich mir sicher beim ersten Flügelschlag in die Hose machen würde.
Also - abgemacht, schlaf friedlich ein oder zeig mir bei Tageslicht, dass Du uns noch Hoffnung machen kannst. Die stirbt bekanntlich zuletzt. Es ist Deine Entscheidung. Nacht!
Sechsuhrdreißig. Der Wecker verliert vorprogrammiert die Nerven und wir brauchen einige Minuten um wieder zur Besinnung zu kommen. Wer schläft denkt nicht. Jetzt denk ich an ihn. Doch ich liege da, unfähig mich seiner Entscheidung zu stellen. Aber noch schlimmer ist die Ungewissheit.
Ich sehe nach. Das Köpfchen leicht zur Seite gelegt, wieder dieses Erbrochene daneben und das Auge zu. Für immer. Für immer erlöst.
Aber er hat nichts von seiner Pracht verloren. Ich decke ihn mit einer Zeitung zu. Rika kommt dazu und fragt ob er es geschafft hat. Die Betonung ihres „geschafft“ war mir nicht entgangen. Sie meinte das erlöste Geschafft. Sterben ist auch ein Geburtskanal und es kann sehr anstrengend sein an das andere Ende zu gelangen. Ich habe einen Kloß im Hals, aber ringe mir ein leises „Ja“ hinaus. Wir sind froh das er erlöst ist, uns eine Entscheidung
abgenommen hat.
„Willst Du noch ein Foto machen?“ fragt sie. Ich suche nach den richtigen Worten. Er ist mir ans Herz gewachsen und ich kann es nicht mehr. Es käme mir respektlos vor. Rika sieht die Antwort in meinen Augen. Dann frage ich sie nach einer Schaufel, etwas zum Buddeln. Während sie nachsieht, ziehe ich mich langsam an.
Kurze Zeit später steh ich auf der anderen Straßenseite in einem Wäldchen. Es ist immer noch stockdunkel. Im schwachen Schein einer Straßenlaterne grabe ich ein Loch. Der Boden ist weich, aber von Wurzeln durchzogen. Ich bin eine Weile beschäftigt und fühle eine innere Leere. Hätte man doch mehr unternehmen sollen? Nein, etwas sagt mir, es sollte genauso sein. Mein Handy klingelt und ich denke es ist Rika. Statt derer aber ein Interessent für ihren Tisch. Ich hatte eine Anzeige für sie aufgegeben. Da steht man morgens um Sieben in einem Wald, buddelt ein Loch für einen Bussard, fragt sich nach dem Sinn des Lebens und wird gefragt ob der Glastisch noch zu haben ist. Komische Welt. Nein, um Drei haben schon welche angerufen, und um Vier klingelten einige an der Haustür, um Fünf hat ihn dann jemand mitgenommen...natürlich ist er noch da, die Zeitung ist ja noch warm. Idiot, dachte ich. „Um Neun abholen? Ok! Heideweg 30”.
Leicht zu finden. Gleich gegenüber ist ein frisches Vogelgrab.
Ich lege eure Majestät in das fertige Loch, schön eingehüllt in den Sonderangebotsprospekten von letzter Woche. Ich spüre die feuchte Erde in meiner Hand. Sie fühlt sich gut an. Das ist der Stoff aus dem alles entsteht und ich bereite gerade weitere Zutaten vor. Noch etwas Erde, leicht andrücken, etwas Laub darüber, fertig ist das Reisebett für seine anmutige Hülle. Aber ich sehe ihn vor mir. Weit oben am Himmel zieht er seine Kreise. Irgendwo wo der Himmel immer blau ist und die Sonne immer scheint. Sein Empfangskomitee, bestehend aus meiner Mutter, meinem Collie und allerlei anderen Tieren, die schon zuvor von mir verbuddelt wurden, wissen bescheid. Ich habe ihnen vor dem Einschlafen gesagt, dass eventuell jemand neues kommt. Sie werden ihm helfen sich zurechtzufinden. Dort. Wo es keine Nahrungskette mehr gibt, der Stärkere nicht mehr gewinnt und alle Lebewesen friedlich zusammenleben. Ich gehe. Aber etwas hab ich vergessen. Ich gehe noch mal zurück und lege zwei Hölzchen übereinander. Gerade so das man ein Kreuz erkennen kann. Und staune über mich selber.
Den Rest des Tages bin ich sauer, stocksauer. Und traurig. Obwohl mir der Ausgang vorher schon nahezu klar war - mir gefällt er nicht. Ganz und gar nicht. Abwechselnd will ich es nicht akzeptieren oder hänge dem Wunsch nach, wie schön es gewesen wäre ihn einmal fliegen zu sehen. Die Sache mit dem Tisch kommt mir gerade recht. Es lenkt ab. Und als er raus ist, gibt es ne Menge zu räumen. Und zu basteln. Und zu putzen. Irgendwie bin ich den ganzen Tag in Zwiesprache mit mir. Und dem Bussard. Ich frage mich wie er das erlebt hat, hat er noch etwas mitbekommen? Hat er jemals damit gerechnet mal Menschhände zu riechen? Es war ne Begegnung der dritten Art, na ja, eigentlich der zweiten, aber es kommt mir so vor.
War es Zufall oder gibt es keine Zufälle ? War es sein letztes großes Abenteuer oder wollte er uns nur in Erinnerung rufen wie vergänglich wir alle sind. Ist ein solches vor Kraft strotzendes Tier, ein solcher Meilenstein der Evolution den gleichen umbarmherzigen Regeln unterworfen wie wir Menschen? Oder ist es vielleicht gar nicht unbarmherzig, sondern genau das Gegenteil? Sowie der Tod absoluter Bestandteil des Lebens ist und trotz aller Bemühungen sich eben nicht immer nur als unangenehmes Ende darstellt? Sind wie vielleicht alle nur Egoisten, weil wir nur sehen zurückgelassen zu werden? Ist es vielleicht gar kein Ende, sondern ein Anfang? Weiß man’s?
Mir fällt ein wie ich wenige Tage zuvor einen Bericht im Fernsehen über gestrandete Wale in Neuseeland gesehen hatte. Ich kann die Gefühle dieser Menschen verstehen, die von der Anmut der Natur überwältigt sind und bis zur Erschöpfung einen aussichtslosen Kampf kämpfen. Zufällig herbeigeeilte Passanten, Anwohner und Touristen. Würden dieselben Menschen auf die Strasse gehen um gegen Walfang zu protestieren? Unwahrscheinlich.
Erst die unmittelbare Berührung macht den Unterschied. Die Berührung, die unter normalen Umständen nicht stattfinden würde. Warum ist der einzelne Mensch intelligent, aber die Menschheit in ihrer Mehrzahl so dumm? Und wie kann ein einzelner Vogel mein ganzes Dasein plötzlich in Frage stellen?
Gegen Abend werde ich ruhiger. Rika kommt von der Arbeit und wir sprechen uns noch einmal gut zu. Auch sie hat sich den Tag über gefragt, ob wir das Richtige getan haben. Auch sie spürt den Zwiespalt zwischen der traurigen Situation seines Sterbens einerseits und der Freude über die Begegnung mit diesem stolzen und anmutigen Tier, also seines Lebens, andererseits. Gerade wir beide, die wir im vorletzten Sommer noch einen Greifvogelpark besucht hatten, diese Arten in Aktion erlebt hatten und nur wenige Meter vor größeren Exemplaren standen, waren damals nicht annähernd so beeindruckt wie jetzt. Es ist einfach etwas anderes. Wer würde im Zoo seine Aufmerksamkeit den Enten schenken? Kaum ist man aber Zelten und so eine Ente kommt sich zweimal täglich, immer zur gleichen Zeit, bis ins Zelt ihr Brot abholen, verschmelzen die Welten.
Ja - er war apathisch, aber er hat sich auf uns eingelassen. Er hätte schon vor Schreck sterben können als ich ihn hoch hob, oder als ich ihn hoch trug und streichelte. Aber er hat uns einfach machen lassen und ist uns damit in gewisser Weise entgegengekommen. Ist es nicht das was der Junge mit den verrückten Ideen erzählt hat? Achtung und Respekt vor dem Leben, der Andersartigkeit und dem Tod zu haben? Den Kreislauf zu akzeptieren? War er nicht der erste bekannte Politiker der sagte alle Geschöpfe sind gleich, und hat er nicht die Hoffnung auf ein Danach in sein Parteiprogramm aufgenommen? Eins steht mal fest. Von dem Greifvogelpark habe ich noch vier Wochen erzählt, aber von dem Bussard, der mir ans Herz gewachsen ist, mit dem wir gelitten haben und durch viele Antworten, die er mir im Laufe der folgenden Tage noch gegeben hat, ist er mir in den wenigen Stunden seines Sterbens noch zu einem Freund geworden. Einem Freund von dem ich noch im Altersheim erzählen werde.
Solange Menschen denken, dass Tiere nicht fühlen, fühlen Tiere das Menschen nicht denken. Ich denke, wir haben uns gefühlt. Er unsere Zuneigung und wir sein Leid. Ich freue mich darauf, wenn er eines Tages, als Teil meines Empfangskomitees, wieder über mir fliegt und mich mit seinem Ruf vom Himmel her begrüßt. Davon bin ich überzeugt. Er hat Rika und mir ein sehr trauriges, aber gleichzeitig unheimlich schönes Geschenk gemacht.
Und das zu einer Zeit an dem man sich daran erinnern sollte das Menschen, Tiere, Dinge oder einfach nur ein Augenblick, alles was einem wirklich am Herzen liegt, nie verliert. Es wird nur für das Auge unsichtbar- egal wie gut es sehen kann. Dieses Wissen und dieser Trost schreibt man dem vielleicht gar nicht so verrückten Ideen dieses Jungen zu. Und ich denke, wenn man das Wesentliche daran nicht vergisst, ist es doch den ganzen Weihnachts-
oder Osterzirkus wert, oder?