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Ein Brief der Reue
Ein Brief der Reue
von Frank Wendel
Ich schreibe Dir diesen Brief aus tiefster Trauer und Verzweiflung heraus. Der Schmerz in meiner Seele ist so unerträglich, dass ich nicht mehr sein will. Ich möchte mich hiermit für all dies entschuldigen, was Dich hat an mir zweifeln lassen. Ich wollte Dir nie ein schlechter Sohn sein. Es tut mir leid, dass ich solch hohe Ansprüche gestellt und es nicht respektiert habe, dass Du auch nur ein Mensch bist; ständig unter Druck und um Arbeit bemüht.
Ich weiß, Du hattest es sehr schwer, als Vater uns verlassen hatte. Und dann kam auch noch das Baby, mein Bruder, hinzu und alles wurde schlecht. Ich war es nicht anders gewöhnt, als dass Du Dich um mich gekümmert, mich regelmäßig mit Mahlzeiten versorgt hast und mir jeden Tag sagtest, wie sehr Du mich lieben würdest. Und ich wollte diese neue Situation der Armut nicht akzeptieren, wollte Dich so haben, wie Du früher warst, habe mich dagegen gesträubt, Vaters Arbeiten zu übernehmen. Oh Mutter, ich war so dumm, zu glauben, es würde uns nichts ausmachen. Ich weiß nicht, ob Du mir dies jemals verzeihen kannst.
Als Du mich damals das erste Mal zum Gehorsam züchtigen musstest, habe ich gegen Dich protestiert, obwohl ich doch genau wusste, dass es das nur noch schwerer macht. Du sagtest: „Hör auf zu heulen, das bringt uns nicht weiter. Benimm dich wie ein Mann! Männer haben nicht zu heulen.“
Doch ich konnte nicht aufhören. Oh Mutter, so verzeih mir, ich konnte es nicht. Selbst als Du mir anschließend den Hintern mit dem Knüppel versohlt hast, konnte ich nicht aufhören. Ich habe dich einfach nicht wieder erkannt. Ich sah nicht die, die ich eigentlich liebte.
Doch warum konnte ich nicht begreifen, welche Last Dir mit Vaters Flucht und einem zusätzlichen Kind auferlegt wurde?
Ich weiß nicht, ob Du mir dies je vergeben kannst.
Die Zeit hat auch keine Besserung gebracht. Im Gegenteil, es wurde nur noch schlimmer. Wenn ich mich Deinem Willen widersetzt hatte, so wurde nicht mehr großartig herumdiskutiert, sondern gleich zum Knüppel gegriffen. Deine Schläge wurden immer heftiger, Deine eigene innere Verzweiflung größer.
Als nächstes hast Du mich nackt im Kellergewölbe für viele Stunden eingesperrt. Es waren kalte und dunkle Stunden. Ich habe gefroren und viel geweint – natürlich nur so laut, dass Du es nicht hören konntest, aus Angst vor dem Knüppel.
Später mussten wir unsere damalige Wohnung verlassen und in eine viel kleinere und hässlichere wechseln. Die Wände waren grau und von Schimmel zerfressen; Teppiche gab es nicht, wir mussten sie verkaufen; die Nächte waren dunkel, weil uns das Licht fehlte und die Nachbarn waren von ihren Streitereien laut.
Das Baby war oft krank und wir verloren noch mehr Geld durch Medikamente und durch den Arzt, der diese verschrieb. Ich weiß, dass Du oft geweint hast, auch wenn Du mich jedes Mal gezüchtigt hast, wenn ich Dich dabei erwischte. Dein Kummer ließ sich nicht verbergen. Und es tut mir so leid, dass ich Dir darin nicht helfen konnte.
Doch ich hatte ebenfalls Kummer. Und die Arbeit war mir mehr als zuwider. Ich wollte nicht Holz hacken oder einkaufen gehen. Die Menschen vom Markt haben mich immerzu ausgelacht oder zumindest schief angeschaut, wenn ich mit meinen Lumpen (oder manch einmal auch ganz ohne) allerlei Ballast auf meinem Rücken herumtrug und noch nicht mal wusste, wie viel ich für was zu bezahlen hatte. Es tut mir leid, falls ich mich von manchen Verkäufern habe ausnehmen lassen. Ich wusste einfach nicht, wie man mit Geld umzugehen pflegte.
Und weißt Du noch damals? Ich habe heimlich vom Brot genascht und Du hast es bemerkt. Ich muss so dumm gewesen sein, wenn ich glaubte, Du würdest nicht dahinterkommen. Oh Mutter, verzeih, aber ich hatte doch so großen Hunger. Umso mehr verstehe ich Deine Bestrafung, die Du angewendet hast. Du hast angeordnet, ich solle im Schweinestall des Herrn Neubert schlafen, der, als er mich des Nachts erwischte, fortjagte, zurück zu Dir. Ich habe sehr lange an die Türe geklopft und nach Dir geschrieen. Aber das hätte ich nicht tun sollen, denn ich weckte nur das Baby. So kamst Du raus, brachtest mich mit dem Knüppel zum Schweigen und holtest mich am nächsten Morgen von der Straße ab.
Erst jetzt kann ich Deinen Zorn, Deine Bestrafungen und Dein Leid vollends nachempfinden. Und ich kann Dir gar nicht sagen, wie schwer mir das Herz wird, wenn ich daran zurückdenke. Doch nun wurde es mir klar. Ich kann Dir mein Gefühl der Reue nicht verständlich genug machen, ich weiß nicht ob Du mir verzeihen kannst. Wenn Du dies liest, so lass Dir gesagt sein, geliebte Mutter, dass es mir leid tut und ich von nun an ein treu ergebener Sohn sein will, der stets das tut, was Du mir aufträgst und erklärst, denn ich weiß nun, dass es das Richtige sein muss. Ich will mich nie wieder Deinem Willen widersetzen, denn er verhilft mir nur zum Besten.
Ich wollte dafür sorgen, dass es uns beiden besser geht und dass wir zusammen in wohleren Umständen leben können. Das, was ich getan habe, soll dazu beitragen, dass wir einen neuen Anfang in eine bessere Zukunft wagen können.
Oh bitte, Mutter, so sage mir, dass Du mir verzeihst und ich werde nie wieder ungehorsam sein und immer der Sohn, den Du haben möchtest. Bitte verzeih mir, all meine Misse- und Schandtaten, sei auch Du zu mir wieder eine gute und wohl sorgende Mutter. Auf dass wir uns lieben, bis dass das Schicksal uns trennen wird.
In ewiger Liebe
Dein Sohn Raffael
Postskriptum: Verzeih, diese Anmerkung, aber es mag Dich vielleicht interessieren: Das Baby habe ich in einem weißen Baumwollbündel verpackt von der Augustusbrücke in die Elbe geworfen. Möge diese Tat unsere Misere erleichtern.