Ein Buch für ein Leben
Traurig nahm Lena Mamis Tagebuch in die Hand. Diese wenigen Seiten billigen Papiers, in Kunstleder gebunden und völlig ohne Zierde sollten ihr ganzes Leben beinhalten? All die Weisheiten, mit denen Mami so freudig aufgewartet hatte, die Herzlichkeit, die Geborgenheit, die sie in jede neue Wohnung der Tochter in so kurzer Zeit zu zaubern vermochte?
Lena erinnerte sich an Vatis Umzug in die große Stadt, vier Stunden entfernt von zuhause. Vier Stunden nur und doch eine Ewigkeit, Mami und er konnten sich nur an den Wochenenden sehen. Das kleine Mädchen Lena war mit Mami kurz nach Weihnachten hingefahren und hatte geholfen, Vati ein Nest zu bauen. Hatte beiden immer wieder Bilder geschenkt, selbst gemalte und auch Fotos von sich, später Fotos von Mami und Vati, die sie gemacht hatte.
Eine Träne stahl sich ihre Wange hinab, als sie die erste Seite öffnete.
Über ihre eigene Geburt, die Trennung ihrer Eltern, Lenas Heirat und die Geburt der Enkel, schließlich den Tod des Stiefvaters, dem Mami so bald gefolgt war, waren nur Stichworte hastig hingeworfen und mit kurzen Daten versehen. So etwas wie: „Mai 2005: nach einem halben Jahr Überreden zum ersten Mal Museumsmarkt. Jetzt sind wir in der Szene.“ und „April 2006: mein erstes Buch erscheint“ stand da, wie im Nachherein erst notiert. Die jüngeren Einträge, schon in zittriger Altfrauenhandschrift. „20.Juli 2027: Geburt Luisa und Juri, die Zwillingsengel“
Kaum eine Zeile über die heftigen Streits, als sie noch Teenie war, die Traurigkeit, die Lena so manches Mal in den grünen, fältchenumkränzten Augen gesehen hatte, kaum ein Zeichen von Gefühl. Die ungefähre Chronologie von Glück und Trauer, Freude und Niedergeschlagenheit verpackt in nüchterne Fakten. Nur selten und ganz gegen die Gewohnheit, ihr Schicksal in Geschichten zu kleiden, hatte die Mutter einen längeren Satz oder gar einen ganzen Text geschrieben.
Diese Sätze drehten sich meist um Lena selbst, ließen den Mutterstolz zwischen nüchternen Zeilen erahnen („November 2007: Lena ist Vereinsvizemeisterin im Judo. Gut gemacht!“) oder ihre Liebe zu Lenas Stiefvater. Mami und Vati waren sich innig verbunden gewesen.
Als er in Ruhestand ging war Lena längst ausgezogen. Erst nach Heidelberg für ihr Studium, dann nach Belgien zur ersten Arbeitsstätte und schließlich nach Kaluga, wo sie heute lebte und arbeitete, wenn sie nicht gerade über die Kontinente flog. Kurze Telefonate und lange Mails voll von guten Ratschlägen und interessierten Fragen nach ihrem Wohlergehen waren geblieben, eine innige Freundschaft, die Mutter, Stiefvater und Tochter trotz der Entfernung verband. „Zu Ostern kommen wir euch wieder besuchen, meine Maus. Wir freuen uns schon sehr darauf. Was können wir den Kindern denn mitbringen?“
Und irgendwann sah Lena den Schmerz in der Mutter Augen nicht mehr, wenn sie sich am Flughafen von den beiden verabschiedete.
Nun war sie nach Jahren wieder an den Ort gekommen, in dem sie aufgewachsen war. Mami lag seit ein paar Tagen unter der Birke im Friedwald, wie es schon immer ihr Wunsch gewesen war. „Keine Arbeit für meine Kinder und Enkel und doch ein Platz, an den sie gehen können“, hatte sie diese Wahl begründet.
Lenas letzte Aufgabe hier war, den Nachlass durchzusehen, und dabei fiel ihr das Buch in die Hände.
Sie schniefte wieder, machte sich einen Tee und setzte sich in das Esszimmer, das sich in all den Jahren nicht verändert hatte. Die Vitrine mit den Gläsern und dem Geschirr in der Ecke. Das kleine Regal in der zugeschraubten Durchreiche, auf dem Mamis gemütliche Teekanne mit den beiden Tassen stand. Lena hätte es als Frevel gesehen, Mamis oder Vatis Tasse zu benutzen, aber die Kanne stand vor ihr auf dem Stövchen und dampfte duftende, heimelige Teewölkchen in das Sonnenuntergangsrot der kühler werdenden Herbstluft. Mami hatte diese Tage geliebt, die bunten Blätter an den Bäumen, den erdigen, pilzigen Geruch des Waldbodens, über den sie so oft mit Vati spaziert war.
Nein, Mami hatte jeder Jahreszeit etwas Schönes abgewinnen können, korrigierte sich Lena in Gedanken und lächelte, als sie das Buch erneut aufschlug. Sie blätterte die Seiten durch und blieb an einem Text hängen, der sich zwischen den kurzen, datierten Einträgen seltsam ausnahm. Er war zwei Seiten lang und trug keinerlei Datum. Lena begann zu lesen.
Manchmal, wenn meine Welt mal wieder im Schwarz versinken möchte, male ich mir aus was gewesen wäre, wenn ich diesen oder jenen Weg eingeschlagen hätte. Weit ab von meinem jetzigen Leben. Weit ab von den ewig gleichen Tagen im Büro, von der Leere in meinem viel zu großen Haus. Weit ab von dem Schmerz der noch immer nicht verarbeiteten aber vergangenen Ehe, wie auch der langsam schreckliche Routine werdenden allsonntäglichen Trennung.
Angefangen haben diese gedachten Wege, als ich in die Schule kam. Wie so viele andere Mädchen auch wollte ich Ärztin werden, anderen helfen können. Dass ich dafür bessere Noten hätte haben müssen, übersah ich geflissentlich.
Viel wichtiger als die Hausaufgaben in der fünften und sechsten Klasse waren mir meine Instrumentalstunden, der Schulchor, das Schulorchester. Musik bestimmte mein Leben so sehr, dass ich sie studieren wollte. Oboe und Gesang als Hauptfächer, nebenher Gitarre und Klavier. Selbst musizieren mit anderen, wunderschöne Kompositionen schreiben. Mich, wie ich es in den ersten Pubertätsjahren so oft tat, in die Musik versenken können, nur für mich allein spielen und singen oder für ein großes Publikum. Doch Begabung allein reicht für ein solches Studium nicht aus und zum Üben hatte ich erst keine Lust und später keine Zeit mehr.
Wäre ich zum Beispiel Goldschmiedin geworden, wie ich es mir mit der unschlagbaren Überheblichkeit des Teenageralters vorstellte. In einem eigenen kleinen Geschäft neue Schmuckstücke kreieren, edle Metalle bearbeiten, Steine einsetzen. Kundenwünsche in wahre Träume aus Gold, Silber, Platin, Edelsteinen und Perlen verwandeln. Zu den großen Börsen fahren und mit vor das Auge geklemmter Lupe die Reinheit der angebotenen Diamanten schätzen.
Oder bei einem Juwelier im Hinterzimmer sitzen, bei schlechtem Licht Uhrenbatterien tauschen und Eheringe gravieren? Nein, das kam in diesem Traum nicht vor.
Dann die Schauspielerei. Auf der Bühne stehen, mich selbst hinter so vielen verschiedenen Masken verstecken, die Welt Welt sein lassen. Hier konnte ich prahlen und protzen oder leiden und weinen, nie wusste jemand anderer als ich, was echt und was nur gespielt war. In der Theater AG lebte ich das aus, was ich zuhause nur meinem Tagebuch anzuvertrauen wagte.
Kurz vor dem Abitur hatte ich Biologin werden wollen. In England studieren, die beiden Leistungskurse in einem Beruf vereinen. Das jedoch war immer verschwommen, wie die klaren Wellen der weiten, weißen Strände die Korallenriffe darunter verschwimmen lassen. Die scharfen Klippen der Stellenarmut für Biologen zerstörten schließlich die Wellen.
Danach kümmerte mich eher die Natur des Menschen. Aus einer Schulzeit heraus geboren, in der ich die seelische Müllhalde vieler Klassen- und Jahrgangskameraden war, wollte ich entweder als Journalistin über die Fehltritte anderer berichten oder mich ganz im Stillen als Psychologin um ihr Seelenheil kümmern. Von Religion hielt ich auch da schon nicht mehr viel.
Als Schneiderin und später dann Modedesignerin hätte ich die wildesten Kreationen auf die großen Laufstege der Welt gebracht. Angehaucht vom Charme vergangener Jahrhunderte wären meine Modelle in einer modernisierten italienischen Renaissance, den Reifröcken, Korsetts und Schnürmiedern des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, den dünnen Hemdchen des Empire über die Bretter geschwebt. Königinnen haben keine Beine. Jedenfalls niemals solche, die man sehen kann. Nur das Biedermeier hätte ich ausgelassen, diese hochgeschlossene Gutbürgerlichkeit stößt mich heute noch ab.
Doch ich habe den sicheren Weg gewählt. Keine hochtrabenden Träume, die mich am Hungertuch nagen lassen, stattdessen einen bodenständigen Beruf, der mir das tägliche Brot und die Butter darauf bezahlt. Und Glück hab ich damit gehabt. Ein Kind und eine große Liebe, die mein Leben begleiten, ein Haus mit Garten und ein Auto, das ich mir leisten kann. Hobbys, die mich so manches Wochenende in Atem halten. Liebevolle Freunde, die auch für mich da sind, wenn ich nicht mehr weiter weiß.
Auf der anderen Seite eine gescheiterte Ehe, stetige Gleichförmigkeit, viel zu wenig Zeit und immer öfter Leere. Meine Musik verfolge ich nur noch in den allmontäglichen Chorproben, die Psychologie erschöpft sich in der völlig unzureichenden Erziehung Lenas, die mehr und mehr einem Machtspiel gleicht. Nähen kann ich, aber neue Kleider erfinden? Dafür ist keine Zeit. Und immer wieder die drehenden Gedanken, die Schwärze, die Traurigkeit, die Angst, das Gefühl der Unzulänglichkeit …
Der Text brach ab. Lena weinte bittere Tränen um die Mutter, die ihr meistens so fröhlich und optimistisch erschienen war. Die schwarzen Tage tat Mami nur mit einem „Tut mir Leid, Mausi, mir geht’s heut nicht so gut“, ab.
Sie erinnerte sich daran, dass Mami ihr ab und zu von ihren Berufswünschen erzählt hatte, besonders als sie selbst Tierärztin werden wollte. Neun Jahre alt war sie gewesen und hatte keine Lust auf Rechnen in der Schule gehabt. Mami hatte ihr immer wieder gepredigt, wie viel sie auch als Tierärztin würde rechnen müssen.
Am nächsten Tag fuhr Lena zur Birke hinaus. „Hallo Mami, ich hab dein Tagebuch gelesen. Hätte ich es nicht tun sollen? Doch, ich bin mir sicher, dass du genau das gewollt hast. Weißt du“, Lena setzte sich neben die Birke und lehnte ihren Kopf an den Stamm, „du bist all das gewesen, was du immer hattest sein wollen. All das und mehr. Wenn ich krank war pflegtest du mich wie eine Ärztin. Du kauftest mir ein Lupenglas, damit ich Käfer und Insekten beobachten konnte, du brachtest meine Pflanzen immer wieder durch. Wie oft hab ich mir gewünscht, deinen grünen Daumen geerbt zu haben!
Mein Schultag war stressig, ich hatte Ärger mit Freunden, aber du warst immer für mich da und hörtest mir zu, gabst mir so manchen guten Rat. Erinnerst du dich, was du mir früher immer gesagt hast? Versuch diese Tricks gar nicht erst, ich kenne sie, denn ich hab sie selbst probiert. Wie oft haben Luisa und Juri diesen Satz schon zu hören bekommen.
Deine Erziehungsmethoden mögen nicht gerade die Höhenflüge der Psychologie gewesen sein, du warst oft genug gereizt und genervt und hast mich auch häufig abgekanzelt, als ich noch klein war. Aber du hast mich zu einem starken Menschen gemacht. Und das ist vieles mehr, als so manch einer dieser Manager von sich behaupten kann.
Und die Journalisterei? Wie oft hast du meine Aufsätze korrigiert, hast Artikel für die Schülerzeitung und unser Dorfkäseblättchen geschrieben.
Ein Faschingskostüm oder eine Verkleidung für die Feste des Literaturvereins musstest du nicht kaufen, du machtest sie selbst. Aus Stoffen, die mir immer wieder die Augen übergehen ließen, die Schnitte mindestens abgewandelt, meistens erfandest du sie allein. Selbst die ersten Bühnenkostüme hast du mir genäht!
Schmuck machtest du nicht immer aus edlen Metallen und Steinen sondern auch aus Glas- und Tonperlen. Ohrringe, Broschen, Ketten. Was wir beide brauchten oder haben wollten.
Deine Liebe zur Musik hat mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Hätte ich nicht schon als kleines Mädchen mit dir singen und spielen dürfen, wäre das nicht mein Beruf.
Geschauspielert hast du dein ganzes Leben lang. Ich hab mit Vati darüber gesprochen, sonst wüsste ich gar nicht, was du alles befürchtet und beweint hast. Wie oft ich dir Kummer bereitete, welche Sorgen du dir um Vati und mich machtest. Du hast mich gelehrt, dass viele andere das eigene Seelenleben nicht im Geringsten interessiert.
Bitte verzeih, dass ich die Angst und den Kummer nie sehen wollte. Ich verstehe sie jetzt, glaub mir.“
Lena legte die weißen Lilien an den Baum und wandte sich schweren und doch leichten Herzens ab. „Bis bald, Mami“, sagte sie, „das schwarze Büchlein hat noch ein paar leere Seiten“.