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Ein Buch mit sieben Siegeln
Taris wischte sorgfältig die letzten Blutflecken von seiner magischen Klinge, mit der er den Drachen erledigt hatte. Um die tiefe Wunde an seinem Bein, die immer noch nicht ganz zu bluten aufgehört hatte, hatte er provisorisch ein einstmals weißes Taschentuch geschlungen, was aber trotzdem nicht verhinderte, dass die Verletzung bei jeder Bewegung höllisch schmerzte.
Vor ihm am Höhleneingang lag der erschlagene Drache, ein massiger riesenhafter Körper, bei dessen Anblick Taris erst jetzt bewusst wurde, welch großes Glück er gehabt hatte. Wäre das Scheusal nicht offensichtlich von einer Auseinandersetzung mit anderen Abenteurern vor ihm (deren Überreste ringsum verstreut lagen) noch geschwächt gewesen, hätte er gegen das gewaltige Monster wohl keine Chance gehabt - zauberkräftiges Schwert hin oder her.
Taris riss sich vom Anblick der Bestie los und betrat die Höhle, in der er den größten Schatz der Welt vermutete, dessentwillen er ja seit Jahren durch die Welt streifte und tausende Gefahren auf sich genommen hatte.
Er eilte durch lange, gewundene Gänge, vorbei an den Reichtümern, die der Drache im Laufe der Jahrhunderte angehäuft hatte: Prächtige Rüstungen, kunstvoll gearbeitete Gefäße, Berge von Goldmünzen und Edelsteinen sowie mit magischen Formeln verzierte Waffen. Alldem schenkte Taris jedoch nicht die geringste Aufmerksamkeit, ihn trieb schließlich die Suche nach etwas vollkommen anderem, weitaus Wertvollerem voran. Schließlich, nach schier endlos erscheinedem Umherstreifens durch das gewaltige Labyrinth, stieß er auf eine hell erleuchtete Höhle, die bis auf ein kleines Podest in ihrer Mitte vollkommen leer war. Darauf lag: DAS BUCH.
Taris grinste. Er hatte es endlich gefunden. Das Buch der sieben Siegel. Der Quell ewigen Lebens, unermesslichen Reichtums, absoluter Macht, vollkommenen Glücks.
Er näherte sich dem riesenhaften, in dunklem Leder eingebundenen Folianten, der mit sieben kunstvoll verzierten metallenen Buchschließen gesichert war.
Mit vor Anspannung zitternden Fingern öffnete er das erste Siegel: Es klappte geräuschlos zur Seite. Taris sprang zurück, das Schwert im Anschlag, um sich gegen einen plötzlich auftauchenden Dämonen, oder womit auch immer das Buch gesichert war, zu verteidigen. Doch der Dämon (oder was auch immer der Held erwartet hatte) erschien nicht.
Das ist irgendwie zu leicht, überlegte Taris fast schon enttäuscht. Er dachte an seine vielen Abenteuer, die er bisher bestehen musste, um bis hierher zu gelangen: Die sieben magischen Edelsteine , die er in aller Welt hatte finden müssen, bis der Alte vom Berge ihm schließlich die Lage der Höhle verraten hatte, die gefahrvolle Reise bis hierher (inklusive der Gefangennahme durch den dunklen Fürsten Varwari und die anschließende spektakuläre Flucht aus dem Kerker). Und jetzt nicht mal ein kleiner Bannzauber am Buch der Bücher?
Misstrauisch öffnete der Held ein weiteres Siegel, das Schwert fest in der Rechten, immer bereit auf eine Falle zu reagieren. Die metallene Schließe klappte zur Seite, und nicht das Geringste geschah. Immer noch leicht ungläubig, schob Taris seine Waffe in die Scheide zurück. Während er eine Schließe nach der anderen öffnete, ohne dass er irgendeine Falle auslöste , stellte er sich vor, wie sein Leben in Zukunft verlaufen würde: Die Abenteuer wären endlich vorbei, kein jahrelanges rastloses Umherschweifen mehr, keine Kämpfe mit Ungeheuern, nie wieder wunderschöne Prinzessinnen aus dunklen Kerkern befreien.
Er hatte nun alle Siegel bis auf das siebte geöffnet. Seine Hand lag schon auf dem letzten Verschluss , da zog er sie plötzlich wieder zurück. Wollte er das wirklich? Keine Gefahren, kein Nervenkitzel, keine Herausforderungen mehr? Kein Spaß? Wenn er alles erreicht hätte, wie langweilig würde das Leben werden?
Er trat von dem Podest zurück, warf einen letzten Blick auf das Buch aller Bücher, drehte sich ruckartig um und eilte schnellen Schrittes aus der Höhle. Und je schneller er lief, desto breiter schien auch das Grinsen auf seinem Gesicht zu werden. Schließlich kam er aus der Drachenhöhle, und eilte, ohne sich noch einmal umzusehen, am massigen Drachenleib vorbei ins Tal - hunderten von neuen Abenteuern entgegen.
Als er außer Sichtweite war, öffnete der Drache, der in Wahrheit alles andere als tot war, vorsichtig ein Auge. Als er sicher war, dass der Held nirgendwo mehr zu sehen war, erhob er sich schwerfällig, streckte die Glieder und leckte sich das Schafsblut von der Brust, mit dem er seine augenscheinlich tödliche Verletzung simuliert hatte. Dann blickte er sich um und rief mit tiefer sonorer Stimme: „Kannst jetzt rauskommen, Lucius“.
Lucius, der „Alte vom Berge“, kam grinsend aus seinem Versteck, den Beutel mit Taris´ sieben Edelsteinen schwenkend.
„Du drei, ich vier – wie immer Lucius?“- „Wie immer, Drache“ erwiderte der Alte.