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Ein Buch mit sieben Siegeln
Meine Erinnerung an ihre Augen ist noch sehr lebendig. Und immer, wenn ich das Buch in den letzten Tagen ansah, habe ich mich gefragt, wer sie eigentlich war und warum sie gewollt hatte, dass ich es bekam. Ich fühle mich ihr seltsam nahe nach all den Jahren, obwohl ich sie überhaupt nicht kannte.
Man hatte sie gegen Mittag in mein Zimmer geschoben. Ich war dort ein paar Tage allein gewesen, mit dem Geruch nach grüner Seife, mit den lieblos ausgesuchten Gardinen vor dem Fenster, das sich nicht ganz öffnen ließ und mit den Gedanken an dieses neue Leben, das ich nicht haben wollte.
Sie erschien mir damals sehr alt, aber ich glaube, dass sie tatsächlich nicht älter als sechzig gewesen ist. Ihr Blick drückte die demütige Geduld aus, die ich auch später manchmal bei Menschen sah, die viel ertragen mussten. Ich hasste sie für einen Moment beinahe für die Güte, die aus ihren Augen sprach. Geredet haben wir nicht miteinander. Nur einmal, am späten Nachmittag, als die Sonne ihre Strahlen durch das schmutzige Fenster wieder zu sich holte, drehte sie mühsam ihren Kopf zu mir. „Kind“ sagte sie mit dieser heiseren Stimme, die ich merkwürdig unpassend an ihr fand. Und noch einmal „Kind“. Ich erwiderte ihren Blick nur für einen Moment, stumm, dann schloss ich die Augen. Ich weiß nicht, wie lange sie mich so ansah. Gesagt hat sie nichts mehr.
Am nächsten Morgen war ihr Bett nicht mehr da. Sie war noch in derselben Nacht gestorben. Ich habe nicht gehört, dass sie sie abholten, es lag am Schlafmittel, oder vielleicht wollte ich es auch nicht hören. Ich weinte um die alte Frau. Und um mich, weil ich nicht hatte mit ihr sprechen wollen und weil ich es nicht mehr würde ändern können.
„Sie wollte, dass Sie es bekommen“, hatte die Schwester gesagt, als sie mir das Buch brachte.
Ich nahm es, ohne mich zu bedanken, und die Schwester verließ wortlos das Zimmer. Sie mochte mich nicht, und es war mir lieber so.
Das Buch war mehrfach geklebt und zum Schutz in braunes Papier eingeschlagen worden. Der Titel war nicht mehr zu erkennen. Es war in altdeutscher Schrift geschrieben und auf dünnem Papier gedruckt. Obwohl ich nichts mit diesem seltsamen Buch anzufangen wusste, nahm ich es mit nach Hause. Ich las es nie.
Ich bin unordentlich, ja sogar schlampig, und ich habe nie die geringste Achtung gehabt vor den Dingen, die ich besaß. Vielleicht bin ich sentimental geworden mit der Zeit. Aber ich freute mich, als ich das Buch wieder fand, an dem Tag, als sie gemeinsam mit mir meine Sachen ausräumten. Ich habe nicht viel mitnehmen können. Die Zimmer sind klein dort, wo sie mich hingebracht haben.
Sie kamen bald wieder und brachten mich hierher. Ich fühle mich unbehaglich, ich bin nicht allein hier. Man sollte allein sein dürfen, eigentlich, wenn es soweit ist. Sie haben die Dosis erhöht, ich bin ihnen dankbar dafür. Ich würde gern lesen, aber die altdeutschen Buchstaben tanzen vor meinen Augen und wollen keine sinnvolle Reihenfolge annehmen.
Neben mir liegt ein junges Mädchen, vielleicht achtzehn, sie heißt Julie. Sie starrt immerzu an die Decke. Ich sehe sie an und möchte ihr etwas sagen, aber ich bringe es nicht fertig. Die Dämmerung setzt ein, ich mag diese Stunde besonders, sie hat etwas beruhigendes.
Ich werde die Schwester bitten, das Buch Julie zu geben. Ich will, dass sie es bekommt.