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Ein ganz normaler Morgen
Ein ganz normaler Morgen
Vor zwei Monaten veränderte sich mein ganzes Leben.
Mein Name ist Hanna und ich bin 42 Jahre alt.
Ich war eine erfolgreiche Frau.
Ich arbeitete in einer leitenden Stellung bei einer großen Bank. In dieser Bank waren Frauen in gehobenen Stellungen noch eine Seltenheit.
Ich brauchte jahrelang um so weit zu kommen. Hunderte Überstunden, endlose Kämpfe… doch ich habe es geschafft.
Ich arbeitete sehr hart, denn es gab genügend männliche Kollegen, die mir meinen Erfolg neideten und alles taten, um mich zu Fall zu bringen.
Vor einem Monat habe ich gekündigt.
Der Morgen vor zwei Monaten begann ganz normal. Der Wecker klingelte.
Bevor ich richtig wach wurde hatte mein Mann, Günther, ihn schon wieder abgeschaltet.
Günther rutschte ein wenig auf meine Seite des Bettes und schob mir eine Hand unter das Nachthemd. Er streichelte meine Brüste. Ein schönes Gefühl. Ich wehrte es ab, denn Günther belässt es nicht dabei.
Am Morgen hatte ich keine Nerven für Sex. Ansonsten hatten Günther und ich auch nicht mehr das aufregendste Sexleben der Welt. Ist ja auch klar, wenn ich erst so spät von der Arbeit kam. Da dachte ich erst einmal an Essen, Trinken, Duschen, Entspannung – nicht an Sex.
Nicht, dass Günther mich nicht mehr reizte, wir hatten im Bett immer noch sehr viel Spaß, auch wenn die Lust nach über 20 Ehejahren nachlässt.
Günther versuchte regelmäßig, mich in der Früh zum Sex zu überreden. Manchmal gab ich nach, meistens nicht…
Mürrisch, ob seiner vergeblichen Bemühungen, stand Günther ein paar Minuten später auf.
Ich ebenfalls. Wie jeden Morgen ging ich zuerst in die Küche, wo ich Kaffee aufsetzte.
Robbie, mein Sohn, steckte den Kopf zur Türe herein.
„Machst du mir ein paar Nutella-Brote?“, wollte er wissen.
Ich schüttelte den Kopf: „Keine Zeit!“
Robbie war 16 Jahre alt.
Günther kam aus der Dusche und setzte sich mit der Zeitung an den Tisch. Mein Mann und ich aßen in der Früh nie etwas, wir waren froh, wenn wir überhaupt die Zeit für eine oder zwei Tassen Kaffee hatten.
Ich duschte jeden Morgen. So auch an diesem Tag. Ich gönnte mir einige Minuten unter dem heißen Wasser. Danach cremte ich mich mit Bodylotion ein.
Ich zog mein neues Kostüm, mit schicken Nadelstreifen, an. Nadelstreifen wirken sehr professionell, finde ich.
Für mein Make-up brauchte ich nie lange. Die Bewegungen sind schon so geübt, dass ich sie beinahe im Schlaf machen könnte.
Es ist wichtig eine gewisse Routine in sein Leben zu bringen, denn alles außerhalb der hält nur auf. Routine bedeutet Schnelligkeit… Nicht-Routine bedeutet Fragen, Überlegungen, Zeit…
Gleich als ich in die Küche kam, sah ich, dass der heutige Morgen nicht normal werden würde.
Wild gestikulierte Andreas, mein älterer Sohn, herum.
„Warum nicht?“, hörte ich ihn maulen.
„Du musst lernen, etwas für dein Geld zu tun!“, schimpfte Günther.
„Was ist denn schon wieder los?“, fragte ich genervt, obwohl ich es nicht wissen wollte.
„Andreas braucht wieder Geld!“
„Ich möchte heute Abend mit Freunden raus! Bitte! Soll ich etwa zu Hause sitzen?“
„Ja!“, sagten Günther und ich wie aus einem Mund.
„Wie soll ich mit 100 € im Monat auskommen? Ich muss schließlich auch tanken!“
„Ich bin mit viel weniger im Monat ausgekommen!“, erklärte Günther.
„Das waren auch andere Zeiten!“, motzte Andi.
„Wie dem auch sei! Du bekommst kein Geld!“
„Warum?“, nörgelte Andi wie ein kleines Kind.
„Geh arbeiten, dann hast du auch mehr Geld. Am Samstagvormittag könntest du arbeiten… nicht bis mittags im Bett liegen!“ mischte ich mich ein.
„Ich bin eben nicht so ein Arbeitstier wie ihr!“
„Siehst du, deswegen hast du auch nur das Geld, was wir dir geben!“
Fluchend stand Andi auf.
Ohne sich zu verabschieden ging er nach draußen.
Wir hörten, wie er nach seinem Bruder rief. Die beiden fuhren immer zusammen mit dem Auto zur Schule.
Ich verabschiedete mich wenige Minuten später von Günther, der an diesem Tag etwas später zur Arbeit musste.
Ich konnte Streit am Morgen nicht leiden. Es verdarb mir den ganzen Tag. Eigentlich konnte ich Streit nie leiden.
Ist es zuviel verlangt, dass mal alles ohne Probleme abläuft?
Kein Günther, der in der Früh Sex mag?
Kein Robbie, der bemuttert werden möchte, wie ein kleines Kind?
Kein Andi, der ständig um Geld bettelte?
Wieso konnte ich nicht einfach eine ganz normale, friedliche Familie haben? Ich hatte doch weiß Gott genügend Stress in der Arbeit, da brauchte ich zu Hause einfach meine Ruhe.
In der Arbeit wurde ich gleich wieder voll eingespannt. Termine hier, wichtige Entscheidungen da … Dann Punkt elf Uhr die wichtige Besprechung mit dem Aufsichtsrat.
Während ich die Präsentation hielt, kam plötzlich meine Sekretärin ins Zimmer.
„Frau Meiser, ein Telefonat!“
Am liebsten hätte ich sie wütend angeschrieen, weil sie mich bei diesem wichtigen Termin störte, obwohl ich ausdrücklich gebeten hatte das nicht zu tun.
„Frau Endres, bitte richten Sie dem Anrufer aus, das ich mich im Moment in einer wichtigen Besprechung befinde“, sagte ich mit bemüht ruhiger, gelassener Stimme.
Frau Endres blieb unschlüssig stehen.
„Dämliche Kuh!“, schoss es mir durch den Kopf.
„Ihr Mann ist am Telefon. Er sagt, es ist sehr wichtig!“
Günther? Wenn Günther anrief, dann war es wichtig. Ich mochte es nicht, wenn er mich in der Arbeit anrief.
Zu leicht brachte man dadurch dumme Sprüche im Umlauf.
Vom wegen „Die Meiser telefoniert den ganzen Tag mit ihrem Mann, ob die wohl nichts besseres zu tun hat?“
Ich hastete nach draußen. Der Ärger über die Störung war verflogen. Die Angst legte sich wie eine Schlage um meinen Hals und schnürte mir die Luft ab.
„Günther?“ Ich hörte selbst, dass meine Stimme hysterisch klang.
Hoffentlich ist es etwas Harmloses! Vielleicht ein Rohrbruch? Oder ein Einbrecher, der meinen Schmuck mitgenommen hat? Vielleicht haben sie Günther gefeuert? Oder Robbie ist von der Schule geflogen?
Aber würde Günther mich aus solchen Gründen anrufen, wenn er genau wusste, dass ich eine wichtige Präsentation hatte? Solche Dinge konnte er mir auch zwei Stunden später sagen!
Ich hörte unterdrücktes Schluchzen am anderen Ende der Leitung.
„Günther?“
Er gab keine Antwort.
„Ist etwas mit deiner Mutter? Ist sie krank?“
Keine Antwort.
„Günther? Sprich bitte mit mir! Was ist denn passiert?“
„Andreas…“, stammelte er.
„Was ist mit Andreas?“, schrie ich ihn an.
„Er ist… er ist… er ist tot!“
Die Welt begann sich zu drehen, obwohl ich nicht gleich den Sinn seiner Worte verstand.
„Er hatte einen Autounfall. Kam von der Straße ab. War sofort tot!“
Ich setzte mich hin, ließ erst die Worte auf mich wirken.
„Robbie?“, fragte ich kraftlos.
„Er hat überlebt, schwebt aber noch in Lebensgefahr!“
Ich erinnere mich nicht mehr an die folgenden Minuten. Nicht mal mehr an die folgenden Stunden.
Irgendjemand fuhr mich nach Hause.
Meine Eltern waren da und die von Günther.
Sie setzten mich in die Badewanne und ein beruhigender Duft lullte mich ein.
Ein Arzt war da und gab mir eine Beruhigungsspritze.
Erst in der Nacht kam ich wieder zu mir und mir wurde bewusst, was geschehen war.
Eine Existenz, ein Leben innerhalb weniger Minuten zerstört.
Ich würde nie mehr mit Andi sprechen können! Nie mehr ihn in die Arme nehmen können! Nie mehr würde er mich um Geld bitten!
Ich biss mir in die Hand um nicht laut aufzuschreien.
Gefühle des Verlustes und der Schuld brachen wie eine große Welle über mich herein.
Warum haben wir ihm an jenem Morgen das Geld nicht gegeben? Vielleicht hatte er sich auf der Fahrt darüber geärgert und war unkonzentriert? Vielleicht hatte er das Geld dringend gebraucht und wollte uns nur nicht den wahren Grund dafür nennen?
Und Robbie? Warum habe ich an diesem Tag kein Frühstück gemacht?
Warum habe ich mir nie Zeit genommen mit meiner Familie zusammen zu sitzen und das Leben einfach nur genossen? Warum?
Einen erschreckenden Moment lang wurde mir bewusst, dass ich nun nie wieder würde mit ihm sprechen können. Der Gedanke schnürte mir die Luft ab. Ich stand auf, taumelte ins Bad. Meine Mutter, die die Nacht bei uns verbrachte, fand mich weinend auf der Kloschüssel.
Das Leben ist leer ohne die Beiden! Robbie liegt noch im Krankenhaus. Wir fahren jeden Tag zu ihm. Der Anblick der vielen Schläuche ist beängstigend. Er sieht so blass und hilflos aus. Manchmal erkennt er uns, meistens nicht. Der Arzt sagt, dass er überleben wird, aber bleibende Schäden davonträgt.
Günther und ich können nicht miteinander sprechen. Wir sitzen gemeinsam an Robbies Bett und schweigen stundenlang. Sein Gesicht sieht ganz grau aus und er scheint in den letzten Monaten um Jahre gealtert.
Zu Hause setzen wir uns vor den Fernseher, damit wir ja nicht miteinander sprechen müssen.
Nachts wache ich oft auf. Es tut dann so weh, dass ich schreien möchte. Ich wälze mich stundenlang hin und her, döse manchmal ein und schrecke gleich wieder auf, weil ich von Andi träume.
Ich weiß, dass Günther auch oft wach ist, doch wir sagen keinen Ton.
Wenn Günther zur Arbeit geht, dann schleiche ich mich zuerst in Andreas Zimmer. Ich komme mir vor, wie eine Schnüfflerin. Es riecht immer noch so vertraut nach ihm und alles liegt so da, wie er es an jenem Morgen zurück gelassen hat. Sein Schlafanzug am Boden, sein Buch noch aufgeschlagen auf dem Bett. Ich rieche jeden Tag an seinem Schlafanzug und sauge den Duft in mich ein. Es riecht immer noch nach ihm … es ist so, als könnte er jeden Moment wieder zur Türe herein kommen.
Er kommt aber nicht.
Jeden Tag wird mir das auf das Neue bewusst, nachdem ich einen wundervollen Moment lang glaubte, dass alles wieder gut wird.
Ich verkrieche mich dann im Bett, ziehe die Bettdecke über meinen Kopf und weine, wie ein kleines Kind.
Irgendwann bin ich total erschöpft, mein Kopf fühlt sich heiß an, meine Augen brennen und es sind keine Tränen mehr da, die ich weinen könnte.
Günther macht viele Überstunden. Er versucht, sich damit von seinen Gedanken abzulenken. Er isst kaum noch etwas und seine ganzen Hosen sind ihm schon viel zu weit, doch keiner von uns bringt die Energie auf, in der Stadt neue zu besorgen.
An den Nachmittagen stehe ich oft an Andis Grab um mit ihm zu sprechen. Spreche mehr mit ihm, als ich es in den vergangen Jahren getan habe.
Stundenlang erzähle ich ihm alles, was ich schon lange sagen wollte.
Ich dachte immer es wäre noch genügend Zeit dafür - doch es wäre nie genug Zeit gewesen. Immer hätte es die Arbeit gegeben, später Andis eigene Arbeit, seine eigene Familie …
Plötzlich habe ich viel Zeit, ganze Wochen stehe ich nur auf dem Friedhof und spreche mit ihm…
Und ich verspreche ihm, dass ich nun anfange zu leben…