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Ein ganz normaler Tag

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08.08.2022
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Ein ganz normaler Tag

.Im Moment des Erwachens ist alles Angst. Er ballt die Hände zu Fäusten, bewegt seine Zehen. Es geht, also ist er noch da. Öffnet nicht seine Augen, sonst sieht er, was er nicht möchte, ist nicht mehr in seinem Schloss und Herr seiner Sinne.
Dann ordnet er die Stimmen, sie sind nur im Kopf, hat man ihm gesagt, und er glaubt es. Wenn es gelingt, wenn die Stimmen dort sind, wo sie hingehören, darf er aus dem Bett.
Die nette Pflegerin begrüsst ihn. Er kann nicht antworten, noch nicht, es geht zu schnell.

Die Stimmen werden leiser, dafür die Geräusche des Alltages lauter. Er sitzt am Bettrand, stütze den Kopf auf seine Hände. Das ist kein Leben, das ist vegetieren.

Er steht auf und geht zur Toilette und dann mit einem Glas Wasser ins Büro. Muss seine Morgenmedikamente nehmen. Er ist verschwitzt, in seinem Bart hängt noch Sabber von der Nacht. Er versucht ihn wegzuwischen, mit der blossen Hand und verteile ihn noch mehr. Ändern kann er es nicht. Also tut er so, als wäre alles in Ordnung. Die Pflegerin begrüsst ihn nochmals. Jetzt gelingt es ihm zu antworten, verzögert zwar, aber immerhin. Sie fragt, wie er geschlafen hat. Blöde Frage. Mit all den Medikamenten, die er nimmt, schläft er wie ein Stein. Traumlos bis zum Morgen. Es ist, als wäre er nicht da.

Nur selten kann er nicht schlafen, weil die Stimmen in seinem Kopf streiten. Er liegt im Bett, ist wie gelähmt. Die ganze Nacht streiten sie. Meist der Kleine mit dem Grossen. Sie zanken darüber, wer das Sagen hat. Mit kreisenden Argumenten, die nur scheinbar Sinn machen.
Der Grosse sagt: «Höre auf mich, ich werde dich belohnen, denn ich weiss alles.»
Worauf der Kleine antwortet: «Nein, höre auf mich, denn ich habe alles gesehen auf der Welt und kann dir den Weg zeigen.»
Der Grosse sagt: «Wenn du nicht auf mich hörst, wird etwas Schlimmes geschehen.»
Der Kleine sagt: «Wenn du nicht auf mich hörst, werde ich dich töten!»
Der Grosse flüstert: «Mach!»
Der Kleine kreischt: «Lass es sein.»
Sie versuchen sich zu übertönen.
So geht es weiter, sie schaffen Verwirrung, sind viel zu laut. Bis er schliesslich schreit: «Lasst mich in Ruhe und schweigt.» Er hält sich die Ohren zu, doch sie hören nicht auf, es geht die ganze Nacht weiter, und er wälzt sich hin und her. Ist klebrig vom Schweiss. Bis er endlich sagt, der Kleine gewinnt. Dann hat er Ruhe und schläft zwei oder drei Stunden.

Jetzt hat er seine Medikamente genommen und muss duschen. Er lässt das Wasser in der Dusche laufen. Manchmal geht er im Gang vor der Dusche auf und ab. Er zählt langsam: «Eins, zwei, drei….» Wie oft er hin und her gehen muss, das sagen ihm die Stimmen, im Chor, flüstern und zischen, mal nah, mal weit weg. Zählen mit oder rufen hinein und bringen alles durcheinander. Das Wasser in der Dusche läuft, die nette Pflegerin ist nicht mehr ganz so nett, sagt, er soll jetzt entweder duschen oder das Wasser abstellen. Sie hat die Arme vor den mächtigen Brüsten verschränkt. «Jeden Tag das gleiche Theater.», sagt sie vorwurfsvoll. Aber er kann nicht anders, sonst bricht er das Gesetz und dann wird etwas Schlimmes passieren. Erzählen möchte er das nicht, hat es versucht früher, als er noch den Drang verspürte, darüber zu sprechen, doch dann hatten ihn alle angeschaut, als wäre er verrückt und nahmen ihn nicht ernst. Also hörte er auf damit.

Nach dem Duschen steht er in Unterhose auf dem Gang und fragt, wie jeden Morgen die Pflegerin, ob er sexy ist. Und wie jeden Morgen winkt sie lachend ab und schickt ihn in sein Zimmer, damit er sich anziehe. Wie gerne würde er ihre grossen Brüste berühren, sie unter seinen Händen spüren, kneten, mit geschlossenen Augen. Prall und weich zugleich sind sie. Er starrt und wird rot, schnell dreht er sich um und geht in sein Zimmer.

Dort sitzt er auf dem Bett. Überlegt, was er heute zu tun hat. Nicht viel eigentlich. Im Haushalt helfen, etwas im Garten machen. Und sogar das ist manchmal zu viel. Vor allem, wenn er von den schlimmen Bildern geplagt wird, die so gemein und ohne Vorwarnung auftauchen. Meistens viel Blut, viel Gewalt, viel Böses. Er kann es nicht kontrollieren. Sitzt im Raucherraum, raucht eine Zigarette nach der anderen, schaukelt mit dem Oberkörper hin und her und schliesst die Augen. Hört nicht, was gesprochen wird und wartet, bis die Bilder in seinem Kopf von selbst weggehen. Wenn’s ganz schlimm ist, schlägt er sich gegen die Stirn oder auf den Hinterkopf, so lange bis der körperliche Schmerz den seelischen übertrumpft. Den körperlichen Schmerz kann er aushalten, den anderen nicht, seine Seele blutet. In diesen Momenten spricht niemand mit ihm, denn alle wissen, sie müssen ihn in Ruhe lassen.

Als er noch zu Hause bei seiner Mutter und Schwester lebte, war es auch so. Er hatte Stimmen, er hatte Bilder, er hatte viel Angst. Aber zu Hause wurde er gebraucht. Er schaute zu den Kaninchen, arbeitete im Garten, half im Haus, ging mit dem Hund spazieren und hütete sogar die Kinder seiner Schwester. Das war, bevor seine Familie Angst vor Ihm bekam. Er hatte die Medikamente abgesetzt, wieder einmal, und dann war etwas Schlimmes geschehen; er hatte das Zimmer seiner Schwester verwüstet. Alles kurz und klein geschlagen. Wieder waren es die Stimmen. Sie befahlen, er musste folgen. Elende, vermaledeite Stimmen.
Niemand konnte ihn aufhalten, auch nicht seine Schwester, die weinte und flehte, er solle aufhören. In ihrer Verzweiflung rief sie die Polizei, obwohl sie ihm einmal versprochen hatte, das nie zu tun. Denn sie hielten immer zusammen, er und seine Schwester, als sie noch Kinder waren. Wenn der Vater schrie und randalierte, versteckten sie sich aus Angst vor ihm auf dem Dachboden und klammerten sich aneinander. Bis es ruhig wurde und sie sich trauten, wieder hinunterzugehen. Ganz leise, und an der Wand entlang schlichen, unsichtbar.
Doch heute war er es, der randalierte. Vier Polizisten mussten ihn festhalten. Er tobte, trat und biss. Denn es ging um sein Leben, er wurde verfolgt von dunklen Mächten.
Schliesslich packten die Polizisten ihn in den Wagen und fuhren mit ihm in die Klinik, übergaben ihn den Pflegern. Er war in Handschellen. Alle, denen er begegnete, glotzten und er zog seinen Kopf ein zwischen die Schultern und senkte den Blick.

Der König der Stimmen, derjenige, der am lautesten schreit, obszön und gemein, ist nicht tot zu kriegen. Auch nicht mit den krassen Medikamenten, die sie ihm in der Klinik gaben, die alles abgetötet haben, sogar seine Seele. Der König blieb, lachte höhnisch und er verkroch sich in der hintersten Ecke und hielt seine Ohren zu. Dann begann er zu singen, ganz laut und tatsächlich erschrak der König und war für eine kurze Zeit still. Bis er wieder begann und da hat er sich gesagt, was solls, dann bleiben sie halt, die Stimmen. Seine Widerstandskraft war gebrochen, sie hatten gewonnen.

Jetzt trinkt. er eine Tasse Kaffee und isst ein weiches Stück Brot. Er kann nicht mehr so gut essen, weil er bei jedem Bissen befürchtet zu ersticken. Das geht schon länger so und niemand weiss den Grund. Manchmal weint er, wenn er ein gutes Stück Fleisch vor sich hat, durchgebraten, wie er es mag und dann kann er es nicht essen. Am letzten Sonntag sah er den Papst im Fernsehen und plötzlich konnte er wieder normal schlucken. Er sagte zur Pflegerin, es sei ein Wunder geschehen. Er hat gelacht, aber mit ernsten Augen.

Einmal, da war er noch sehr jung, keine siebzehn Jahre alt, lief er barfuss Mitten im Winter durchs Dorf zum Hausarzt, hatte geklingelt und geschrien: «Herr Doktor, ich bin verrückt, sie müssen mir helfen!» Der Arzt gab ihm ein Beruhigungsmittel, danach ging es ihm ein wenig besser. Die Angst, diese unerträgliche Angst war nicht mehr so schlimm. Heute lacht er darüber, erzählt die Geschichte als wäre sie ein Witz, wartet darauf, dass die anderen mitlachen. Er hat gelernt, über sich selbst zu lachen. Bereits in der Schule, er war der Sonderling, aber alle mochten ihn, irgendwie.

Der Kaffee ist ausgetrunken und er startet seine Wanderung durchs Haus, wie jeden Tag. Er geht vom Aufenthaltsraum in die Küche, von der Küche ins Büro, plaudert ein wenig mit der netten Pflegerin, dann weiter in den Raucherraum. Zigarette rauchen, manchmal zwei hintereinander, obwohl ihm der Arzt nach dem Infarkt sagte, er sollte dringend aufhören. Und er versprach, dass er aufhört, bevor er dreiundvierzig wird, aber nicht heute. Also hat er noch fünf Jahre Zeit.
Er geht wieder zurück ins Büro zum Plaudern und wenn die Pflegerin nicht richtig zuhört, weil sie wieder einmal am Computer etwas schreiben muss, provoziert er. Sagt Sachen wie: «Schätzchen, kommst Du morgen mit mir unter die Dusche?», oder «Du alte, durchtriebene Italienerin!» Obwohl sie eigentlich keine Italienerin ist. Das findet sie nicht witzig, schaut streng über den Rand ihrer Lesebrille.
Weiter in die Küche, schaut zu, wie gekocht wird, kommentiert und scherzt, dann wieder zurück in den Aufenthaltsraum. TV gucken, etwas läuft immer, verharren, zusammen mit den anderen Bewohnern, die auch nichts Besseres zu tun haben, später zurück ins Büro, in die Küche, zwischendurch auf die Toilette und dann in den Raucherraum.

Etwas später steht er im Wohnheim am Fenster, schaut hinaus in den Garten und stellt sich vor, wie sein Leben ausgesehen hätte, wäre er nicht krank geworden. Er wollte eine Ausbildung zum Maler machen, hat begonnen, musste abbrechen, weil sich die ersten Symptome zeigten. Er versuchte sie zu vertreiben, mit kiffen und Alkohol. War Tag und Nacht zugedröhnt. Es hat nichts gebracht, leider.
Wasser steigt in seine Augen, salzig wie das Meer, das er noch nie gesehen hat. Er lässt den Kopf hängen und fühlt sich allein.

In solchen Momenten denkt er, es wäre besser, Schluss zu machen, dann wäre das Leiden vorbei und er würde seiner Familie nicht mehr zur Last fallen. Einmal ging er mit einem Strick in den Wald, hatte lange dagesessen und vor sich hingestarrt, bis es dunkel wurde und kalt und da war er wieder zu sich gekommen. Er hatte gezittert, so kalt war ihm. Er stand auf, seine Beine waren aus Gummi, und ging schlotternd zurück zum Wohnheim. Niemand hatte etwas bemerkt, obwohl er den ganzen Tag weg war. Den Strick hat er versteckt, vielleicht wird er ihn eines Tages brauchen. Er bleibt dort, wartet auf ihn, als Notlösung, wenn’s einmal gar nicht mehr geht.

Ein anders Mal ist er ausgebüxt. Es war Weihnachtsmarkt in der nahen Kleinstadt und er wollte unbedingt hin. Doch niemand konnte ihn begleiten und er wollte nicht allein gehen. Also, da hat er einfach sein Portemonnaie genommen und ist in den Bus gestiegen, ohne jemandem etwas zu sagen. Einfach so, wie früher. Zwar war da schon ein mulmiges Gefühl im Bauch, aber er hatte auch Mut an diesem Tag. Er ging über den Markt, bewunderte die Weihnachtsbeleuchtung und hat sich Räucherstäbchen, gebrannte Mandeln und Magenbrot gekauft, Glühwein getrunken und dann den Bus zurückgenommen. Es ging alles gut und er war stolz auf sich. Die Pflegerin lobte ihn, fand es ganz großartig, dass er selbständiger wird.

An Tagen, an denen es ihm richtig gut geht, denkt er, dass er irgendeinmal weggehen wird. Für immer. Am liebsten nach Italien. Er wird am Meer leben, Fisch essen, Fisch kann er nämlich immer ohne Probleme essen, manchmal ein Glas Wein dazu trinken, auf das Meer hinausschauen, die Sonne spüren und vielleicht wird er sogar eine Frau finden, die mit ihm leben möchte. Sie werden zusammen zwei oder drei Kinder bekommen. Er wird zu Hause bleiben und den Haushalt machen und zu den Kindern schauen, und seine Frau wird arbeiten gehen. Und sie wären glücklich, ganz unspektakulär und normal glücklich. Irgendwann wird er das machen und niemandem aus seinem alten Leben sagen, wohin er geht. Ja genau, irgendwann wird er fortgehen.

Er steht auf und schlendert hinaus in den Garten. Bald ist es Abend und er wird seine Medikamente nehmen und schlafen wie ein Stein. Es wird sein, als wäre er nicht da.

 

Hallo @Aida Selina!

Zunächst einmal: Ich habe deine Geschichte ohne Probleme in einem Zug lesen können, du beschreibst ganz gut, was passiert und es gab keine Sätze, über die ich gestolpert bin, allerdings erzählst du mir in dieser Geschichte zu viel und zeigst zu wenig - ich gehe mal im Detail darauf ein (also auf alles, was mir aufgefallen ist):


Dann ordne ich die Stimmen, sie sind nur im Kopf, hat man mir gesagt, und ich glaube es, was bleibt mir anderes übrig.
Hier müsstest du rein theoretisch nach "was bleibt mir anderes übrig." ein Fragezeichen setzen. Darum fände ich es sinnvoll, die Frage als einen einzelnen Satz nachzustellen - wobei sie eigentlich im gesamten nicht notwendig wäre und du sie auch streichen könntest.

Wenn es gelingt, wenn die Stimmen dort sind, wo sie hingehören, darf ich aus dem Bett.
Hier war ich mir zuerst nicht sicher, was er mit "dort wo sie hingehören" meinte - aber ich schätze, dass bezieht sich darauf, dass er teilweise denkt, sie sind echt und nicht nur in seinem Kopf - das wollte ich dir nur schreiben, weil ich da ein wenig gestutzt habe und mich fragte: "Hm... er denkt sie gehören also in seinen Kopf, will er sie denn nicht los werden oder hat er es schon akzeptiert?"

Jetzt gelingt es mir zu antworten, verzögert zwar, aber immerhin. Sie fragt, wie ich geschlafen habe. Blöde Frage.
Hier fing es an, dass für mich auffällig wurde, dass du mehr erzählst, was passiert, als dass du es zeigst - da könntest du genauso gut auch einen Dialog einbauen zwischen den beiden oder auch die Szene zeigen, wie er dan später auch zur Dusche geht und zuerst mit ihr spricht - auch um die Pflegerin etwas greifbarer zu machen. Das würde den Text an sich lebendiger machen - also wenn du mehr "richtige" Szenen hast.

Nur selten kann ich nicht schlafen, weil die Stimmen in meinem Kopf streiten. Ich liege wie gelähmt im Bett. Die ganze Nacht streiten sie.
Hier hättest du auch etwas zeigen können - also vielleicht schon vorgesetzt in der Nacht, was genau die Stimmen sagen, worüber sie streiten. Du erwähnst sie recht oft in seinem Kopf und sie sollen bedrohlich wirken (zumindest der König) uneinig sein, etc. aber das erzählst du mir nur und du lässt mich als Leser die Stimmen nicht hören, wodurch es mir nicht vorkommt, als wäre ich nahe am Charakter, sondern so, als würde der Charakter mir von seinen Stimmen erzählen.

Ich lasse das Wasser in der Dusche laufen. Manchmal gehe ich im Gang vor der Dusche auf und ab. Je nachdem dreiundvierzig oder dreiundzwanzig Mal. Wie oft, das sagen mir die Stimmen, im Chor, flüstern und zischen, mal nah, mal weit weg.
Hier auch - du könntest das weniger verallgemeinern, sondern zeig die Szene, wie er im Gang auf und ab geht, wie die Stimmen ihm sagen: "Geh nochmal, das Wasser ist sicher noch kalt." "Nein, es ist zu heiß, wie oft sind wir schon gegangen, dreimal geht noch." "Dreimal? Tse, lass uns noch zwanzig mal gehen" - oder irgendwie so und wie dann die Pflegerin zu ihm kommt und sagt, er soll doch endlich duschen oder das Wasser abstellen. :)

Nach dem Duschen stehe ich in Unterhosen auf dem Gang
"Unterhose" - er hat denke ich nur eine an. :)

Dort sitze ich auf dem Bett. Überlege, was ich heute zu tun habe. Nicht viel eigentlich. Im Haushalt helfen, etwas im Garten machen. Und sogar das ist manchmal zu viel.
Hier habe ich ein wenig gestutzt und mich gefragt, wo genau er denn ist? In der geschlossenen nicht, wenn er auch abhauen kann (also wie er es später macht) - aber ich weiß nicht, wie viel Gartenarbeit und Haushalt man wirklich macht in einer Psychatrie - also falls er in einer Psychatrie ist - das habe ich mir zuerst gedacht, wegen der Pflegerin. Aber auch wenn nicht, selbst im Pflegeheim - bei dem wo mein Opa war, war es zumindest nicht so - arbeiten die Bewohner normalerweise nicht im Garten oder im Haushalt; ich meine es sei denn es kann vielleicht vereinbart werden oder so (und ich kenn ja auch nicht alle Pflegeheime); aber das könntest du eventuell noch ein wenig spezifizieren. :)

Wenn’s ganz schlimm ist, schlage ich mich gegen die Stirn oder auf den Hinterkopf
"mir gegen die Stirn" - aber auch da könntest du mehr Leben hineinbringen, indem er nicht nur erzählt, wie es ist, wenn es ganz schlimm ist, sondern einen Moment zeigst, indem es schlimm ist.

Als ich noch zu Hause bei meiner Mutter und Schwester lebte, war es auch so. Ich hatte Stimmen, ich hatte Bilder, ich hatte viel Angst.
Das war, bevor meine Familie Angst vor mir bekam. Ich hatte die Medikamente abgesetzt, wieder einmal, und dann war etwas Schlimmes geschehen; ich hatte das Zimmer meiner Schwester verwüstet. Alles kurz und klein geschlagen.
Das ist auch eine Szene, die sich eigentlich ganz gut dafür anbieten würde, zu zeigen, statt zu erzählen. Auch mit einem Blick auf seine Innenperspektive. Was sagen die Stimmen genau? Wie reagiert die Schwester, wie sieht sie ihn an? Boxt er die Polizisten noch, wenn er versucht, sich zu befreien? Wie fühlt sich das für ihn an, was denkt er? Wie sieht er die Polizisten in diesem Schub?

Der König der Stimmen, derjenige, der am lautesten schreit, obszön und gemein, ist nicht tot zu kriegen.
Das hört sich interessant an, aber auch da fehlt mir der Zugang. Zeig mir die Stimme.

Auch nicht mit den krassen Medikamenten, die sie mir in der Klinik gaben, die alles abgetötet haben, sogar meine Seele.
Hier dachte ich mir - "gaben" - geben sie ihm die Medikamente nicht mehr?

Am letzten Sonntag sah ich den Papst im Fernsehen und plötzlich konnte ich wieder normal schlucken. Ich sagte zur Pflegerin, es sei ein Wunder geschehen. Ich habe gelacht, aber mit ernsten Augen.
Die Stelle fand ich ganz interessant - hat in mir den Eindruck erweckt, dass da noch was kommt; hält er sich selbst für besessen? Hat er irgendeine persönliche Verbindung zum christlichen Glauben? So steht mir das fast ein wenig zu alleine da. Es sei denn natürlich es soll eine Anspielung auf eine Besessenheit sein, aber auch dann bräuchte ich ein zwei Hinweise mehr.

Ich gehe wieder zurück ins Büro zum Plaudern und wenn die Pflegerin nicht richtig zuhört, weil sie wieder einmal am Computer etwas schreiben muss, provoziere ich. Sage Sachen wie: «Schätzchen, kommst Du morgen mit mir unter die Dusche?», oder «Du alte, durchtriebene Italienerin!» Obwohl sie eigentlich keine Italienerin ist. Das findet sie nicht witzig, schaut streng über den Rand ihrer Lesebrille.
Die Stelle fand ich gut - da konnt ich mir richtig was darunter vorstellen und es charakterisiert ihn auch - also mit dem, dass er sie Italienerin nennt, ohne dass sie eine ist. :)

War Tag und Nach zugedröhnt.
"Nacht"

Ein anders Mal bin ich ausgebüxt. Es war Weihnachtsmarkt in der nahen Kleinstadt und ich wollte unbedingt hin. Doch niemand hatte Zeit, mich zu begleiten und ich wollte nicht allein gehen. Ich konnte keinen überreden, weder Bewohner noch Personal, mitzukommen.
Die Pflegerin lobte mich, fand es ganz großartig, dass ich selbständiger werde.
Das fand ich merkwürdig - selbst in der offenen Psychatrie, ist es nicht gerne gesehen, wenn Patienten abhauen und meiner Erfahrung nach, wird man dafür auch nicht unbedingt gelobt. Aber ich bin mir ja auch nicht sicher, ob das jetzt eine Psychatrie ist oder wo genau er sich da befindet. Da fehlt mir noch ein wenig die Klarheit.

Ich werde am Meer leben, Fisch essen, Fisch kann ich nämlich immer ohne Probleme essen,
Das fand ich auch komisch - wenn du das so haben willst, bräucht ich da mehr Erklärung dazu, warum Fisch geht; gerade da haben viele Menschen ja noch mehr Probleme damit und eben auch mehr Angst an den Gräten zu ersticken.


Also insgesamt - ich mag deinen Stil, man kann die Geschichte gut lesen und ich finde auch die Idee interessant, aber noch bist du mir zu weit weg vom Protagonisten.

LG Luzifermortus

 

Hallo Aida Selina,

grausam tolle Geschichte - flüssig zu lesen und sie funktioniert wie ein Trichter: erst grob umrissen und dann stolpert man in immer engeren Spiralen zum Kern und begreift die "Krankheit", die allerdings zum Schluss wieder fast "normal denkend" wird. Ein dünnes Brett, auf dem wir uns alle bewegen - das hast Du sehr gut beschrieben. Was fällt in die Rubrik normal, was geht gerade noch und was geht überhaupt nicht. Immer unsere Bewertung, unsere Beurteilung. Dein Prot. bekommt da die Kurve nicht immer und das ist für mich das Spannende an der Story, wenn auch das Leben in der Klinik nicht ganz so freizügig verläuft.
Ich bin Künstler und kann viele der Gedankenzüge nachvollziehen. Ab wann bewege ich mich auf einem Terrain, das für die Allgemeinheit nicht mehr tragbar ist? Auch dieses Selbstmitleid, die Euphorie, die Ablenkung mit Drogen - dieses Auf und Ab - ab wann wird die Kurve nicht mehr gesellschaftsfähig? Ein schönes Stück Selbstfindungstrip des Menschseins.
Gern gelesen.
Grüße
Detlev

 

Hallo Aida Selina!
Gut zu lesen ist sie, deine Geschichte. Sie führt durch einen Tag in einer psychiatrischen Einrichtung(?), nehme ich an, und dem kann ich problemlos folgen. Was mir allerdings fehlt, ist etwas, das über bloßes Beschreiben hinausgeht, was mich Anteil nehmen lässt am Erleben des Patienten. Vielleicht liegt es an der Ich- Perspektive, die mir nicht stimmig erscheint. Kann ein erkrankter Mensch wirklich so beobachtend über sich selbst schreiben? Die Stimmen in seinem Kopf sind im Dialog, es gibt einen 'König', dies alles passt zu einer dissoziativen Störung, dann wieder sind die Stimmen kommentierend und erteilen Befehle, dies passt eher zu einer Schizophrenie. Vielleicht beschreibst du beides, doch dann stört mich die 'Abgeklkärheit' des Protagonisten besonders, denn der Leidensdruck könnte m.E. nur durch Eintauchen in eine Situation verdeutlicht werden. Ich hätte auch gerne mehr über die Vorgeschichte erfahren, was war los in der Familie? Was ist mit der Geschwisterbeziehung?

Mir ist in letzter Zeit hier im Forum aufgefallen, dass es imnmer öfter Geschichten gibt, die sich mit psychischen Erkrankungen und/oder schwerer Belastung befassen, oft sehr eindringlich, als spot auf eine bestimmte Situation. Manche wirken eher dokumentarisch auf mich, manche wie ein Appell.
Ob das auch etwas mit unserer allgemeinen Belastung, Angst und Zukunftszweifel zu tun hat?
Das ist nur ein Gedanke von mir.
Dein Protagonist hat am Ende der Geschichte ja noch einen Traum und ich wünsche ihm, dass er 'da sein' darf, gesehen wird und nicht in Hoffnungslosigkeit versinkt.
Gerne gelesen,
viele Grüße,
Jutta

 

Hallo @Luzifermortus

Vielen Dank für Deine ausführliche Rückmeldung. Ich finde, Du hast einen wichtigen Punkt angesprochen, an dem ich zu arbeiten versuche: zeigen anstatt zu erklären oder erzählen. Die einzelnen Passagen, die Du zu diesem Thema herausgesucht hast, werde ich mir genauer anschauen und überlegen, wie ich diese ändern könnte, ohne die Stimmung zu zerstören. Manchmal ärgere ich mich darüber, dass ich erkläre und erzähle und nicht einfach ruhig in der Szene bleibe und zeige.

Hier müsstest du rein theoretisch nach "was bleibt mir anderes übrig." ein Fragezeichen setzen. Darum fände ich es sinnvoll, die Frage als einen einzelnen Satz nachzustellen - wobei sie eigentlich im gesamten nicht notwendig wäre und du sie auch streichen könntest.
Habe ich gestrichen, finde ich auch, braucht es nicht.
Hier war ich mir zuerst nicht sicher, was er mit "dort wo sie hingehören" meinte - aber ich schätze, dass bezieht sich darauf, dass er teilweise denkt, sie sind echt und nicht nur in seinem Kopf
genau, so habe ich es gemeint, denn die Stimmen kommen auch von "aussen" und er muss herausfinden, welches seine Stimmen sind.
Hier habe ich ein wenig gestutzt und mich gefragt, wo genau er denn ist? In der geschlossenen nicht, wenn er auch abhauen kann (also wie er es später macht) - aber ich weiß nicht, wie viel Gartenarbeit und Haushalt man wirklich macht in einer Psychatrie - also falls er in einer Psychatrie ist - das habe ich mir zuerst gedacht, wegen der Pflegerin.
Er ist in einer psychiatrischen Langzeiteinrichtung und dort ist eigentlich üblich, dass die Bewohner eine Tagesstruktur haben. Häufig in Form von Mithilfe im Haushalt oder Garten oder ähnliches. Ich habe vor vielen Jahren in einer solchen Einrichtung gearbeitet und da war es so.

Die Stelle fand ich ganz interessant - hat in mir den Eindruck erweckt, dass da noch was kommt; hält er sich selbst für besessen? Hat er irgendeine persönliche Verbindung zum christlichen Glauben? So steht mir das fast ein wenig zu alleine da. Es sei denn natürlich es soll eine Anspie
Diese Stelle habe ich tatsächlich gekürzt. Er ist katholisch aufgewachsen und verehrt den Papst. Jeden Sonntag schaut er die Messe, die aus dem Vatikan übertragen wird. Vielleicht übernehme ich wieder die erste Fassung.

Das fand ich auch komisch - wenn du das so haben willst, bräucht ich da mehr Erklärung dazu, warum Fisch geht; gerade da haben viele Menschen ja noch mehr Probleme damit und eben auch mehr Angst an den Gräten zu ersticken
Ja, da hast Du grundsätzlich recht, aber ich habe damit etwas anderes gemeint. Es ist nicht rational zu erklären, weshalb er Fisch schlucken kann und Fleisch nicht.

Die Fehler, auf die Du mich hingewiesen hast, habe ich korrigiert.

Nochmals vielen Dank.

Liebe Grüsse
Aida Selina

 

Hallo @Detlev

Vielen Dank für Deine Rückmeldung und Deine Gedanken.

ie funktioniert wie ein Trichter: erst grob umrissen und dann stolpert man in immer engeren Spiralen zum Kern und begreift die "Krankheit", die allerdings zum Schluss wieder fast "normal denkend" wird.
Genau so habe ich es mir gedacht, freue mich, dass Du es so gelesen hast.
Was fällt in die Rubrik normal, was geht gerade noch und was geht überhaupt nicht. Immer unsere Bewertung, unsere Beurteilung
Das ist ein Thema, mit dem ich mich häufig befasse. Was heisst schon normal? Wer bewertet, urteilt und wieso?
Ich bin Künstler und kann viele der Gedankenzüge nachvollziehen. Ab wann bewege ich mich auf einem Terrain, das für die Allgemeinheit nicht mehr tragbar ist?
nochmals ein wichtiger Gedanke und vermutlich nicht abschliessend zu beantworten, da ich selbst die Grenzen als fliessend erlebe. Heute wird vieles akzeptiert was vor z.B. 100 Jahren noch nicht akzeptiert worden wäre und umgekehrt. So lange ich noch entscheiden kann wie weit ich gehe und mit den Konsequenzen leben kann, geht es. Anders sieht es aus, wenn ich aufgrund von Krankheit für die Allgemeinheit nicht mehr tragbar bin, also gar nicht anders kann.
Ein schönes Stück Selbstfindungstrip des Menschseins.
Danke

Viele Grüsse
Aida Selina

 

Hallo Jutta

Auch Dir vielen Dank für Deine Rückmeldung.

Was mir allerdings fehlt, ist etwas, das über bloßes Beschreiben hinausgeht, was mich Anteil nehmen lässt am Erleben des Patienten.
Luzifermortus hat etwas ähnliches geschrieben und ich denke, dies ist tatsächlich eine Schwäche des Textes. Ich muss mir das wirklich nochmals genauer anschauen und mir überlegen, wie ich das ändern kann.

Vielleicht liegt es an der Ich- Perspektive, die mir nicht stimmig erscheint. Kann ein erkrankter Mensch wirklich so beobachtend über sich selbst schreiben?
Habe ich mich beim Schreiben auch gefragt. Es funktioniert nur, wenn der Erkrankte eine vertiefte Erkenntnis von seiner Erkrankung hat. Und dies kann ich mir schon irgendwie vorstellen. Ich werde die Geschichte einmal für mich umschreiben und aus der "er" Perspektive schreiben.

Die Stimmen in seinem Kopf sind im Dialog, es gibt einen 'König', dies alles passt zu einer dissoziativen Störung, dann wieder sind die Stimmen kommentierend und erteilen Befehle, dies passt eher zu einer Schizophrenie.
Tatsächlich habe ich eine "klassische" Schizophrenie versucht zu beschreiben. Dass man diese Beschreibungen auch als dissoziative Störung sehen könnte, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen.
Ob das auch etwas mit unserer allgemeinen Belastung, Angst und Zukunftszweifel zu tun hat?
Ja, das denke ich ist so, vielen Menschen geht es nicht gut, viele Unsicherheiten, Belastungen.

Dein Protagonist hat am Ende der Geschichte ja noch einen Traum und ich wünsche ihm, dass er 'da sein' darf, gesehen wird und nicht in Hoffnungslosigkeit versinkt.
Das wünsche ich ihm auch.

Danke für Deine wertvollen Hinweise.

Viele Grüsse
Aida Selina

 

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