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Ein ganz normaler Tag
.Im Moment des Erwachens ist alles Angst. Er ballt die Hände zu Fäusten, bewegt seine Zehen. Es geht, also ist er noch da. Öffnet nicht seine Augen, sonst sieht er, was er nicht möchte, ist nicht mehr in seinem Schloss und Herr seiner Sinne.
Dann ordnet er die Stimmen, sie sind nur im Kopf, hat man ihm gesagt, und er glaubt es. Wenn es gelingt, wenn die Stimmen dort sind, wo sie hingehören, darf er aus dem Bett.
Die nette Pflegerin begrüsst ihn. Er kann nicht antworten, noch nicht, es geht zu schnell.
Die Stimmen werden leiser, dafür die Geräusche des Alltages lauter. Er sitzt am Bettrand, stütze den Kopf auf seine Hände. Das ist kein Leben, das ist vegetieren.
Er steht auf und geht zur Toilette und dann mit einem Glas Wasser ins Büro. Muss seine Morgenmedikamente nehmen. Er ist verschwitzt, in seinem Bart hängt noch Sabber von der Nacht. Er versucht ihn wegzuwischen, mit der blossen Hand und verteile ihn noch mehr. Ändern kann er es nicht. Also tut er so, als wäre alles in Ordnung. Die Pflegerin begrüsst ihn nochmals. Jetzt gelingt es ihm zu antworten, verzögert zwar, aber immerhin. Sie fragt, wie er geschlafen hat. Blöde Frage. Mit all den Medikamenten, die er nimmt, schläft er wie ein Stein. Traumlos bis zum Morgen. Es ist, als wäre er nicht da.
Nur selten kann er nicht schlafen, weil die Stimmen in seinem Kopf streiten. Er liegt im Bett, ist wie gelähmt. Die ganze Nacht streiten sie. Meist der Kleine mit dem Grossen. Sie zanken darüber, wer das Sagen hat. Mit kreisenden Argumenten, die nur scheinbar Sinn machen.
Der Grosse sagt: «Höre auf mich, ich werde dich belohnen, denn ich weiss alles.»
Worauf der Kleine antwortet: «Nein, höre auf mich, denn ich habe alles gesehen auf der Welt und kann dir den Weg zeigen.»
Der Grosse sagt: «Wenn du nicht auf mich hörst, wird etwas Schlimmes geschehen.»
Der Kleine sagt: «Wenn du nicht auf mich hörst, werde ich dich töten!»
Der Grosse flüstert: «Mach!»
Der Kleine kreischt: «Lass es sein.»
Sie versuchen sich zu übertönen.
So geht es weiter, sie schaffen Verwirrung, sind viel zu laut. Bis er schliesslich schreit: «Lasst mich in Ruhe und schweigt.» Er hält sich die Ohren zu, doch sie hören nicht auf, es geht die ganze Nacht weiter, und er wälzt sich hin und her. Ist klebrig vom Schweiss. Bis er endlich sagt, der Kleine gewinnt. Dann hat er Ruhe und schläft zwei oder drei Stunden.
Jetzt hat er seine Medikamente genommen und muss duschen. Er lässt das Wasser in der Dusche laufen. Manchmal geht er im Gang vor der Dusche auf und ab. Er zählt langsam: «Eins, zwei, drei….» Wie oft er hin und her gehen muss, das sagen ihm die Stimmen, im Chor, flüstern und zischen, mal nah, mal weit weg. Zählen mit oder rufen hinein und bringen alles durcheinander. Das Wasser in der Dusche läuft, die nette Pflegerin ist nicht mehr ganz so nett, sagt, er soll jetzt entweder duschen oder das Wasser abstellen. Sie hat die Arme vor den mächtigen Brüsten verschränkt. «Jeden Tag das gleiche Theater.», sagt sie vorwurfsvoll. Aber er kann nicht anders, sonst bricht er das Gesetz und dann wird etwas Schlimmes passieren. Erzählen möchte er das nicht, hat es versucht früher, als er noch den Drang verspürte, darüber zu sprechen, doch dann hatten ihn alle angeschaut, als wäre er verrückt und nahmen ihn nicht ernst. Also hörte er auf damit.
Nach dem Duschen steht er in Unterhose auf dem Gang und fragt, wie jeden Morgen die Pflegerin, ob er sexy ist. Und wie jeden Morgen winkt sie lachend ab und schickt ihn in sein Zimmer, damit er sich anziehe. Wie gerne würde er ihre grossen Brüste berühren, sie unter seinen Händen spüren, kneten, mit geschlossenen Augen. Prall und weich zugleich sind sie. Er starrt und wird rot, schnell dreht er sich um und geht in sein Zimmer.
Dort sitzt er auf dem Bett. Überlegt, was er heute zu tun hat. Nicht viel eigentlich. Im Haushalt helfen, etwas im Garten machen. Und sogar das ist manchmal zu viel. Vor allem, wenn er von den schlimmen Bildern geplagt wird, die so gemein und ohne Vorwarnung auftauchen. Meistens viel Blut, viel Gewalt, viel Böses. Er kann es nicht kontrollieren. Sitzt im Raucherraum, raucht eine Zigarette nach der anderen, schaukelt mit dem Oberkörper hin und her und schliesst die Augen. Hört nicht, was gesprochen wird und wartet, bis die Bilder in seinem Kopf von selbst weggehen. Wenn’s ganz schlimm ist, schlägt er sich gegen die Stirn oder auf den Hinterkopf, so lange bis der körperliche Schmerz den seelischen übertrumpft. Den körperlichen Schmerz kann er aushalten, den anderen nicht, seine Seele blutet. In diesen Momenten spricht niemand mit ihm, denn alle wissen, sie müssen ihn in Ruhe lassen.
Als er noch zu Hause bei seiner Mutter und Schwester lebte, war es auch so. Er hatte Stimmen, er hatte Bilder, er hatte viel Angst. Aber zu Hause wurde er gebraucht. Er schaute zu den Kaninchen, arbeitete im Garten, half im Haus, ging mit dem Hund spazieren und hütete sogar die Kinder seiner Schwester. Das war, bevor seine Familie Angst vor Ihm bekam. Er hatte die Medikamente abgesetzt, wieder einmal, und dann war etwas Schlimmes geschehen; er hatte das Zimmer seiner Schwester verwüstet. Alles kurz und klein geschlagen. Wieder waren es die Stimmen. Sie befahlen, er musste folgen. Elende, vermaledeite Stimmen.
Niemand konnte ihn aufhalten, auch nicht seine Schwester, die weinte und flehte, er solle aufhören. In ihrer Verzweiflung rief sie die Polizei, obwohl sie ihm einmal versprochen hatte, das nie zu tun. Denn sie hielten immer zusammen, er und seine Schwester, als sie noch Kinder waren. Wenn der Vater schrie und randalierte, versteckten sie sich aus Angst vor ihm auf dem Dachboden und klammerten sich aneinander. Bis es ruhig wurde und sie sich trauten, wieder hinunterzugehen. Ganz leise, und an der Wand entlang schlichen, unsichtbar.
Doch heute war er es, der randalierte. Vier Polizisten mussten ihn festhalten. Er tobte, trat und biss. Denn es ging um sein Leben, er wurde verfolgt von dunklen Mächten.
Schliesslich packten die Polizisten ihn in den Wagen und fuhren mit ihm in die Klinik, übergaben ihn den Pflegern. Er war in Handschellen. Alle, denen er begegnete, glotzten und er zog seinen Kopf ein zwischen die Schultern und senkte den Blick.
Der König der Stimmen, derjenige, der am lautesten schreit, obszön und gemein, ist nicht tot zu kriegen. Auch nicht mit den krassen Medikamenten, die sie ihm in der Klinik gaben, die alles abgetötet haben, sogar seine Seele. Der König blieb, lachte höhnisch und er verkroch sich in der hintersten Ecke und hielt seine Ohren zu. Dann begann er zu singen, ganz laut und tatsächlich erschrak der König und war für eine kurze Zeit still. Bis er wieder begann und da hat er sich gesagt, was solls, dann bleiben sie halt, die Stimmen. Seine Widerstandskraft war gebrochen, sie hatten gewonnen.
Jetzt trinkt. er eine Tasse Kaffee und isst ein weiches Stück Brot. Er kann nicht mehr so gut essen, weil er bei jedem Bissen befürchtet zu ersticken. Das geht schon länger so und niemand weiss den Grund. Manchmal weint er, wenn er ein gutes Stück Fleisch vor sich hat, durchgebraten, wie er es mag und dann kann er es nicht essen. Am letzten Sonntag sah er den Papst im Fernsehen und plötzlich konnte er wieder normal schlucken. Er sagte zur Pflegerin, es sei ein Wunder geschehen. Er hat gelacht, aber mit ernsten Augen.
Einmal, da war er noch sehr jung, keine siebzehn Jahre alt, lief er barfuss Mitten im Winter durchs Dorf zum Hausarzt, hatte geklingelt und geschrien: «Herr Doktor, ich bin verrückt, sie müssen mir helfen!» Der Arzt gab ihm ein Beruhigungsmittel, danach ging es ihm ein wenig besser. Die Angst, diese unerträgliche Angst war nicht mehr so schlimm. Heute lacht er darüber, erzählt die Geschichte als wäre sie ein Witz, wartet darauf, dass die anderen mitlachen. Er hat gelernt, über sich selbst zu lachen. Bereits in der Schule, er war der Sonderling, aber alle mochten ihn, irgendwie.
Der Kaffee ist ausgetrunken und er startet seine Wanderung durchs Haus, wie jeden Tag. Er geht vom Aufenthaltsraum in die Küche, von der Küche ins Büro, plaudert ein wenig mit der netten Pflegerin, dann weiter in den Raucherraum. Zigarette rauchen, manchmal zwei hintereinander, obwohl ihm der Arzt nach dem Infarkt sagte, er sollte dringend aufhören. Und er versprach, dass er aufhört, bevor er dreiundvierzig wird, aber nicht heute. Also hat er noch fünf Jahre Zeit.
Er geht wieder zurück ins Büro zum Plaudern und wenn die Pflegerin nicht richtig zuhört, weil sie wieder einmal am Computer etwas schreiben muss, provoziert er. Sagt Sachen wie: «Schätzchen, kommst Du morgen mit mir unter die Dusche?», oder «Du alte, durchtriebene Italienerin!» Obwohl sie eigentlich keine Italienerin ist. Das findet sie nicht witzig, schaut streng über den Rand ihrer Lesebrille.
Weiter in die Küche, schaut zu, wie gekocht wird, kommentiert und scherzt, dann wieder zurück in den Aufenthaltsraum. TV gucken, etwas läuft immer, verharren, zusammen mit den anderen Bewohnern, die auch nichts Besseres zu tun haben, später zurück ins Büro, in die Küche, zwischendurch auf die Toilette und dann in den Raucherraum.
Etwas später steht er im Wohnheim am Fenster, schaut hinaus in den Garten und stellt sich vor, wie sein Leben ausgesehen hätte, wäre er nicht krank geworden. Er wollte eine Ausbildung zum Maler machen, hat begonnen, musste abbrechen, weil sich die ersten Symptome zeigten. Er versuchte sie zu vertreiben, mit kiffen und Alkohol. War Tag und Nacht zugedröhnt. Es hat nichts gebracht, leider.
Wasser steigt in seine Augen, salzig wie das Meer, das er noch nie gesehen hat. Er lässt den Kopf hängen und fühlt sich allein.
In solchen Momenten denkt er, es wäre besser, Schluss zu machen, dann wäre das Leiden vorbei und er würde seiner Familie nicht mehr zur Last fallen. Einmal ging er mit einem Strick in den Wald, hatte lange dagesessen und vor sich hingestarrt, bis es dunkel wurde und kalt und da war er wieder zu sich gekommen. Er hatte gezittert, so kalt war ihm. Er stand auf, seine Beine waren aus Gummi, und ging schlotternd zurück zum Wohnheim. Niemand hatte etwas bemerkt, obwohl er den ganzen Tag weg war. Den Strick hat er versteckt, vielleicht wird er ihn eines Tages brauchen. Er bleibt dort, wartet auf ihn, als Notlösung, wenn’s einmal gar nicht mehr geht.
Ein anders Mal ist er ausgebüxt. Es war Weihnachtsmarkt in der nahen Kleinstadt und er wollte unbedingt hin. Doch niemand konnte ihn begleiten und er wollte nicht allein gehen. Also, da hat er einfach sein Portemonnaie genommen und ist in den Bus gestiegen, ohne jemandem etwas zu sagen. Einfach so, wie früher. Zwar war da schon ein mulmiges Gefühl im Bauch, aber er hatte auch Mut an diesem Tag. Er ging über den Markt, bewunderte die Weihnachtsbeleuchtung und hat sich Räucherstäbchen, gebrannte Mandeln und Magenbrot gekauft, Glühwein getrunken und dann den Bus zurückgenommen. Es ging alles gut und er war stolz auf sich. Die Pflegerin lobte ihn, fand es ganz großartig, dass er selbständiger wird.
An Tagen, an denen es ihm richtig gut geht, denkt er, dass er irgendeinmal weggehen wird. Für immer. Am liebsten nach Italien. Er wird am Meer leben, Fisch essen, Fisch kann er nämlich immer ohne Probleme essen, manchmal ein Glas Wein dazu trinken, auf das Meer hinausschauen, die Sonne spüren und vielleicht wird er sogar eine Frau finden, die mit ihm leben möchte. Sie werden zusammen zwei oder drei Kinder bekommen. Er wird zu Hause bleiben und den Haushalt machen und zu den Kindern schauen, und seine Frau wird arbeiten gehen. Und sie wären glücklich, ganz unspektakulär und normal glücklich. Irgendwann wird er das machen und niemandem aus seinem alten Leben sagen, wohin er geht. Ja genau, irgendwann wird er fortgehen.
Er steht auf und schlendert hinaus in den Garten. Bald ist es Abend und er wird seine Medikamente nehmen und schlafen wie ein Stein. Es wird sein, als wäre er nicht da.