Mitglied
- Beitritt
- 30.04.2004
- Beiträge
- 58
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 5
Ein goldener Ring
In den kalten, dunklen Gängen vermochte das kleine Licht, das sie trug, kaum zu bestehen. Wie ein Glühwürmchen schlängelte es sich durch die steinernen Gänge, von Willen und Trotz stetig vorwärts getrieben.
Nur wenig erleuchtete die Kerze der jungen Frau, doch sie schritt zielsicher aus, sie kannte die Gänge in und auswendig.
Sie hatte lange Nächte diesen Weg geplant und war sich sicher, dass niemand sie entdecken könne, und doch erschrak sie beim Knacken des Holzes, das die Decke verkleidete, oder bei einer vorbeihuschenden Maus so sehr, dass sie jedes Mal erst nach einigen Momenten wagte, weiterzugehen.
Die junge Frau kämpfte mit dem schlechten Gewissen: „Dies ist keine Flucht. Er hat dich am Abend selbst aus dem Zimmer geworfen.“ Er rief „Raus!“; was hinderte sie daran, dieses Wort zu ihrem Glück zu interpretieren?
Gewiss würde er sie vermissen. Nicht sofort, für ihn war sie in der letzten Zeit ein lästiges Anhängsel gewesen. Später, wenn er allein in seinem großen Haus saß, das Personal im Feierabend, seine Freunde woanders. Sie schnaubte. Einen Dreck hatte er sich um seine Freunde gekümmert, und um sie schließlich auch. „Meine Freunde sind mir im Moment nicht so wichtig!“, hatte er gesagt und ständig über sie geschimpft und sich anschließend in seiner Bibliothek vergraben.
Sie stieg eine kleine Treppe hinab und vermied dabei bedacht die knarrende Stufe.
„Irgendwann…“ sagte sie sich, „Irgendwann wird er merken, wie einsam er ist. Dann wird er wieder über seine Freunde schimpfen. Und dann erst… Ja, dann erst wird er mich vermissen.“
Eine Träne kullerte ihr über die Wange, als sie sich eingestand, dass er wohl nie wirklich für eine Ehe, für ein Zusammenleben fähig gewesen war. Sie hatte versucht ihn zu ändern, hatte sich selbst verändert und beinahe unermüdlich um ihn gekämpft.
Sie unterdrückte eine zweite Träne. „Nein, es ist keine Flucht… es ist eine Rettung!“, schoss ihr durch den Kopf, und sie schritt gleich wieder entschlossener und leichter aus.
Die Flamme ihrer Kerze erzitterte und zeigte der jungen Frau, dass ihr Gang durch die Fluchttunnel der Stadt bald ein Ende haben musste. Als ihre ausgestreckte Hand nicht auf Stein sondern auf das Holz einer Tür traf, stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Ein ungezwungenes Lächeln, welches schon lange nicht mehr auf ihrem Gesicht erschienen war.
Sie suchte den Riegel, fand ihn und schob ihn zurück. Nicht lange und sie stand nur noch unter dem Sternenhimmel, auf dem schmalen Vorsprung zwischen Stadtmauer und Graben.
Tief sog sie die kühle, frische Nachtluft in ihre Lunge hinein. Sie lächelte erneut. Nein, diesmal strahlte sie.
Sie huschte den Vorsprung an der Mauer entlang, bis zu einer schmalen Brücke. Sie war bewacht, doch ein klingelnder Beutel lies den Soldaten die junge Frau vergessen, die über die Brücke huschte.
Kurz blieb sie am Abgrund stehen. Der Soldat sah etwas Goldglänzendes hinabfallen, dann verschwand die junge Frau in der Dunkelheit und ward nie wieder gesehen.