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Ein Gott ergibt sich
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Der junge Gott Anarchos schlief ruhigen Gewissens (was für einen Gott allerdings Minimumanforderung ist), als mitten in der Nacht das Telefon schrillte.
Nun, eigentlich gibt es für Götter keine Nacht in dem Sinn wie für andere Leute, aber sie tun so, als ob es eine gäbe, um auch zwischendrin mal nichts hören und sehen zu müssen. Durch ihre Träume entstehen übrigens phantastische reale Welten, die allerdings den Nachteil haben, nicht zu existieren.
„Anarchos, bist du wach!?“, sagte die Stimme am anderen Ende. Es war Phobus.
„Jetzt bin ich es, zum Glück“, sagte Anarchos.
„Anarchos, etwas Schreckliches ist passiert! In drei Stunden tagt der Himmlische Rat, und du musst dabei sein! Eine Notstandssitzung - die erste Notstandssitzung seit (er rechnete kurz nach)... über 291.963 Ewigkeiten!“
Das bedeutete Ärger - etwas, das Anarchos kaum noch kannte. Seit siebenundfünfzigtausend Jahren lief es bei ihm jetzt so gut, dass und vermutlich auch weil er von Phobus nichts mehr gehört hatte.
Anarchos verwaltete einen kleinen Planeten im Chaos-System namens Paridaes, und die Kreaturen dort taten sich rund um die Uhr ausschließlich Gutes und beschenkten sich gegenseitig wo es nur ging. Die schwerste kriminelle Handlung auf Paridaes hatte sich vor vierzig Jahren zugetragen, als ein junger Mann in der Trambahn geistesabwesend vergessen hatte, einer älteren Dame ein Hustenbonbon anzubieten.
Es gab auf Paridaes weder Gesetze noch Personal, das für die Einhaltung von Gesetzen zuständig war, weil die Bewohner dort Folgendes herausgefunden hatten: Die logische Konsequenz von dem Leitsatz Behandle den anderen, wie du behandelt werden möchtest, ist: Weil es alle so machen, kommt keiner je zu kurz. Anstelle von andauernd-stressigem Konkurrenzkampf widmeten sie ihre Zeit lieber hemmungslosem Sex von früh bis spät.
„Was zur Hölle ist passiert?“, fragte Anarchos.
Die grausamste Vorstellung von Hölle war es für Anarchos übrigens, sich Gebote und Regeln ausdenken zu müssen. Die zweitgrausamste bezieht sich auf Volksmusiksendungen und Frauen wie Caroline Reiber.
„Es gibt eine schwere Krise“, sagte Phobus. „Und du musst erscheinen!“
„Ja-ja, Phobus“, sagte Anarchos. „Was genau also um die Uhrzeit?“
„Jehova hat hingeschmissen!“, sagte Phobus.
„Jehova? Er hat hingeschmissen?“, fragte Anarchos. Jetzt war er wach. Und es kam ziemlich dick:
„Er hat dich dem Himmlischen Rat als Nachfolger vorgeschlagen“, sagte Phobus.
„Was?!“, sagte Anarchos. „Verdammt! Ausgerechnet Jehova! Der mit dem psychedelischen Planeten! Wie hieß denn der gleich noch mal... Aquarium? Solarium?“, fragte Anarchos.
„Nein, die Sonne heißt Sol und der Planet heißt Die Erde“, sagte Phobus.
„Die Erde, genau... Jehova – Jehova“, überlegte Anarchos. „Das ist doch dieser Typ, der ab der Jesus-Christus-Geschichte immer depressiver geworden ist, oder? War es nicht so: Er hatte geglaubt, sich was besonders Gutes ausgedacht zu haben auf seinem Planeten... und dann...?“
„Ja“, sagte Phobus. „Früher war er nur depressiv, aber jetzt ist er nervlich völlig kaputt. Gestern hat er angeblich versucht, Beethovens fünfte Sinfonie zu spielen - auf einem Engel - mit einem Friedhofsspaten! Ich kenne keine Einzelheiten, aber er weigert sich kategorisch, jemals wieder auch nur das Geringste mit Der Erde zu tun zu haben. Wir werden in drei Stunden erfahren, warum. Bis gleich, Anarchos.“
„Bis gleich, Phobus“, sagte Anarchos und kippte nach hinten aufs Bett.
Wenig später begann, begleitet von heller Aufregung, die erste Notstandssitzung des Himmlischen Rats seit dem Urknall, - den einige ältere Götter als ‚zu unruhig’ empfunden und gefordert hatten, dass er rückgängig gemacht und noch mal vernünftig durchgeführt werde, schließlich sei ‚eine Schöpfung was anderes als ein Konzert der Dead Kennedys’.
Die Ränge füllten sich mit Gottheiten, männlichen und weiblichen. Auf der Rednertribüne saßen bereits Anarchos und Jehova, jeweils neben ihren Managern. Jehova war ockerfarben im Gesicht und zitterte, als habe er ein halbes Kilo Zitteraale in der Hose. Man hatte ihm einen Maulkorb umgehängt.
Nachdem die Vorsitzende, eine große Blonde mit tiefblauen Augen, den Grund der Einberufung des Rats kundgetan hatte, erhob sich Jehovas Manager - er hieß Schizos - und erklärte, er werde anstelle seines Klienten die Sachverhalte schildern, die zu Jehovas Aufgeben geführt hätten – dieser sei im Moment außerhalb jeder Kontrolle und nicht in der Lage, ganze Sätze zu formulieren (jedenfalls keine, die irgendeinen Sinn ergäben).
Er sprach weiter: „Meine Damen und Herren, liebe Götter, mein Klient Jehova erklärt hiermit durch mich, dass mit seiner Allmächtigkeit insofern nicht mehr alles stimmt, also in Bezug auf Die Erde, als dass er gewissermaßen, was seine Allmächtigkeit sozusagen... betrifft, - also dass er - mit einem Wort - nicht mehr... allmächtig genug ist... leider.“
Jehova habe alles versucht, was er versuchen konnte, und jetzt sei Schicht. Die Menschheit, darunter auch die zivilisierte Menschheit, habe eben mal wieder damit begonnen, gerechte heilige Kriege zu führen, und Jehova sei definitiv am Ende seiner Kraft und zusätzlich am Ende mit seinem Latein.
Zugegebenermaßen sei er ganz zu Anfang zu optimistisch gewesen, weil er glaubte, es müsse doch reichen, die göttlichen Ideen einem einzelnen Volk, die Juden genannt, mitzuteilen, diese würden die Ideen dann weiterverbreiten und andere Völker informieren: Wozu sich also selbst so viel Arbeit machen? Schließlich garantierten die göttlichen Ideen allen Menschen ein friedliches Leben ohne Mord und Totschlag, was sie praktisch sofort herausfinden würden. Schließlich hätten sie den Verstand gekriegt (seine neueste Erfindung!), und die Botschaft sei unmissverständlich gewesen: Man solle nicht töten, lügen, betrügen und so weiter und so fort, so dass es für jeden gut auszuhalten sei. Nicht im Traum wäre er auf die Idee gekommen, die Juden könnten sich als einziges Volk Gottes sehen. Wozu sollte Gott (Teufel noch mal!) ein einziges ‚Volk Gottes’ haben, wenn er einen ganzen Planeten mit Roten, Schwarzen, Gelben, Weißen, Grünen und allen möglichen sonstigen erschaffen habe?
Das klinge ja sogar schon völlig sinnlos!
Trotz seiner zehn Gebote hatten Jehovas Anhänger selbige noch dazu umgesetzt, als ob er nicht gesagt hätte: „Du sollst nicht töten!“, sondern gesagt hätte: „Du sollst nicht töten mit Ausnahme von denen, die nicht auf unserer Seite sind!“
Endlich sei mein Klient auf den Gedanken gekommen, die Gebote seien in der Zehn-Teile-Fassung eventuell zu komplex für die Menschen und versuchte es mit einer abgespeckten Version. Er gab sich als sein eigener Sohn Jesus Christus aus, erregte mit dieser maximal abstrusen Pilotgeschichte (beinhaltend die Unbefleckte Empfängnis) einen Haufen Aufmerksamkeit und ersetzte die kilometerlangen Texte des alten Testaments durch die klare deutliche Sprache des neuen.
„Meine lieben Göttinnen und Götter, im zwanzigsten Jahrhundert schrieb ein Autor namens George Orwell ein Buch, in dem das Ministerium, in dem gefoltert und vernichtet wird, ‚Liebesministerium’ heißt, und diese Fiktion wurde am Anfang des 21. Jahrhunderts mal wieder Wirklichkeit, indem man Angriffe Verteidigung nennen konnte, Bombardierungen ‚pazifistisch’, und ein Angriffskrieg keiner war, wenn er ‚Präventivschlag’ hieß. Das Problem schien zu sein, dass Dinge nicht unbedingt sind, was sie sind. Und so geschah es auch mit der deutlichen Sprache des ‚Gottessohns’, denn die Jesus-Fans (sie nannten sich ‚christlich’) hatten keinerlei Probleme damit, seine Poster überall aufzuhängen und gleichzeitig zum Beispiel Folgendes zu tun:
Jesus erzählte, dass vor Gott alle Menschen gleich seien: Warum also nicht Frauen für ein paar unwesentliche Jahrhunderte unterdrücken und von Kirchenämtern ausschließen (es sind eben alle Menschen außer den Frauen gleich)?
Jesus erklärte, eher komme ein Kamel durch ein Nadelöhr, als ein Reicher ins Himmelreich: Warum also nicht gewaltige Besitztümer scheffeln und feiste Kathedralen bauen zu Gottes Lob, während die Bevölkerung vor Hunger Gras und Erde frisst?
Jesus plädierte für Toleranz und Friedfertigkeit: Was hat das aber schon zu tun mit einer kleinen Inquisition nebst netten kleinen Scheiterhaufen-Partys?
Jesus plädierte, auch seine Feinde zu lieben, denn alle Menschen seien Gottes Kinder: Warum aber deshalb gleich darauf verzichten, ein paar kaum erwähnenswerte Kreuzzüge zu führen, wenn es sich nur um Heiden handelt, denen man die Schädel einhaut? Und es noch dazu im Namen des Herrn ist?
Jesus forderte, auch seinen Feinden zu verzeihen, eventuell sogar die andere Wange hinzuhalten: Na ja, verzeihen schon, aber doch nicht den Uneinsichtigen, stimmt’s? Denen, die wo die Bösen sind?
Meine Damen und Herren Götter, es gibt auf dem Planeten trotz des Aufrufs des ‚Gottessohns’ zu absoluter Gewaltlosigkeit christliche Milizen und Militärpfarrer. ‚Christliche Milizen’ ist aber ein Ausdruck wie trockenes Wasser: Es kann nicht existieren, ebenso wenig wie ein heiliger Krieg. Weil ein Krieg ebenso wenig heilig sein kann wie Wasser trocken.
Am besten war es immer, wenn zwei Völker, die beide überall Jehova-Poster hängen hatten, vor einer ihrer blutigen Schlachten um Gottes Beistand beteten (weil sie beide für seine Sache kämpften, - und zwar gegeneinander). Was würden Sie tun in einer solchen Situation, wenn Sie zuständiger Gott wären? Sich krank schreiben lassen?
Kommen wir nun zur Kernaussage unseres Freundes Jehova als Jesus Christus, damals in Nordafrika. Er versprach, es wäre ein echter Spaß, zu leben, falls die Menschen dies machten: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“
Ein klares Gebot... jedoch hatte mein Klient, nachdem er wieder einmal ein fürchterliches Gemetzel mit anschauen musste und daraufhin zur Flasche gegriffen hatte, die Idee, die alles erklärte: Indem die Menschen sich gegenseitig folterten und quälten und töteten, missachteten sie das Gebot gar nicht, sondern: sie befolgten es wortgetreu! „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“, hieß es. Taten sie nicht genau das? Viel zu viele von ihnen gaben weiter, was sie an Liebe hatten: NICHTS!
Aber auf was hoffte Jehova dann noch? Wenn die emotionalen Gegebenheiten so kaputt zu sein schienen? Er hoffte immer noch auf den Verstand, die Ratio, auf das sich allmähliche Zivilisieren der Menschheit, auf die Einsicht der einfachsten Kausalzusammenhänge: Dass man mit Unterdrückung, Demütigung und Leid Leute generiert, die wieder hassen.
Und dann, gestern, passierte es, meine Damen und Herren: Zwei der zivilisiertesten Völker des Planeten, auf die alle Hoffnungen meines Klienten ruhten, die fortschrittlichen Amerikaner und Europäer, haben 2000 Jahre nach Christus wieder mit Kriegen gegen das Böse begonnen“, sagte Schizos. „Der Führer der Amerikaner ist der Auffassung, die Stimme Gottes zu hören, die ihn per Telefon auffordert, die Bösen zu vernichten, und er befiehlt seinen Truppen im Namen Gottes und der Nächstenliebe, Bomben abzuwerfen (wenn nicht noch mit Blümchen dran und der Karte: Diese Bombe, die gerade Ihre Frau zerstückelte, hat Sie befreit!).
Die amerikanischen Erweckungskirchen sprechen davon, Gott zum End?Sieg zu verhelfen, es sei nämlich Armageddon-Time. Es ist genug. Jehova... gibt auf.“
Alle blickten auf das zitternde Bündel, das neben Schizos saß und versuchte, an seinem Maulkorb zu kauen.
Jetzt erhob sich die Vorsitzende wieder, klimperte mit den Wimpern und sprach: „Anarchos, der Rat ist der Meinung, dass du auf deinem Planeten – Paridaes – nicht mehr gebraucht wirst. Du hast es dort geschafft, dich selbst überflüssig zu machen, was die Aufgabe jedes vernünftigen Gottes sein sollte. Deine Bevölkerung ist erwachsen geworden, es läuft ohne Gebote dort. Du übernimmst Die Erde und berichtest in zwanzig Jahren, was du erreicht hast. Die Versammlung ist beendet.“
Zwanzig Jahre später. Die Vorsitzende erhob sich.
„Anarchos, zunächst gratulieren wir dir zu deinem umfassenden Erfolg. Es ist ja ganz erstaunlich, dass nach nur so kurzer Zeit fast neunzig Prozent aller Feindseligkeiten auf Der Erde aufgehört haben. Wie hast du das erreicht? Ich bin... wir sind... überwältigt!“ Sie lächelte ihn strahlend an.
Er erhob sich.
„Meine Damen und Herren, Himmlischer Rat; meine erste Idee war, es nicht über Gebote, sondern über Erfahrung zu versuchen. Allerdings schien sich Die Erde auszuzeichnen darin, aus Misserfolgen nicht zu lernen. Als Beispiel hierfür sind die Israeli und Palästinenser zu nennen, die sich bei meinem Eintreffen seit etwa 3000 Jahren bekämpften mit der Strategie von Gewalt und Gegengewalt, während sie um Frieden beteten. Das ist gelinde gesagt schon sehr hartnäckig. Seit 30 Jahren etwa sprengten die Palästinenser irgendetwas in die Luft, meistens auch sich selber mit, worauf die Israeli militärisch zuschlugen, worauf die Palästinenser wieder etwas in die Luft sprengten, worauf die Israeli militärisch zuschlugen, und dann waren die Palästinenser wieder mit Sprengen dran, und dann wieder die Israeli und so weiter und so weiter. Seit 3000 Jahren ging der Krieg. Ich meine, jeder normal-bürgerliche-Arbeitnehmer, der mit einer bestimmten Methode einfach keinerlei Ergebnis erzielt, wird irgendwann entlassen – aber auf politische Führungskräfte Der Erde schien das nicht zuzutreffen, sie durften weitermachen solange sie wollten, egal wie erfolglos sie waren.
Wie nur konnte ich etwas schaffen, woran unser verehrter Jehova Tausende von Jahren gescheitert war: Vernunft und Frieden auf Der Erde, - in zwanzig Jahren? Es war klar, dass es ohne einen kleinen Trick nicht gehen würde. Und dann kam mir die Idee!
Ich schleuste eine psychosoziale Droge in den Nahrungskreislauf des Planeten, die den Menschen dort die Wahnvorstellung suggerierte, dem Gegner etwas besonders Schlimmes anzutun - indem man ihm entgegen kommt!
Nach dem letzten Selbstmordattentat der Palästinenser, um beim vorigen Beispiel zu bleiben, schenkten ihnen die Israeli als Reaktion darauf... fruchtbare Siedlungsgebiete mit der Garantie auf einen eigenen palästinensischen Staat – und zwar aus purer Rache!
Die Palästinenser räumten daraufhin wütend dem Staat Israel Existenzrecht ein und inhaftierten alle radikalen antiisraelischen Terroristenführer, die sie kriegen konnten - ebenfalls ausschließlich aus purer Rache!
Und während alle Beteiligten weiterhin (der Droge sei Dank) überzeugt davon waren, eisenhart und gnadenlos zurückzuschlagen, wurden die Gewalttätigkeiten schleichend weniger und hörten plötzlich auf, ohne dass es gleich bemerkt wurde... am Ende gab es Verbrüderungspartys zwischen Arabern und Juden im ganzen Land.
Und so geschah es vom Nordpol bis zum Südpol... überall, wo es Konflikte gab: Trotz der allerorten weiter geltenden Motivation, dem Gegner zu schaden wo es ging, machten die Kontrahenten desto mehr Zugeständnisse, je erbitterter sie zuzuschlagen schienen! Und den Bewohnern gefiel es so gut, dass sie ihren Führern keine Wahl mehr ließen...
Nach einiger Zeit wagte ich es, die Dosis der Droge zu verringern, in der Hoffnung, sie hätten es jetzt kapiert. Frieden ist keine Sache von Macht und Ordnung, sondern eine Sache des Herzens, meine Damen und Herren Götter! Ich bedanke mich!“
Applaus brandete auf und schien nicht verebben zu wollen. Alle waren begeistert, außer Jehova, der nichts mehr mitbekam, weil er sturzbetrunken in der Ecke lag.
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