Ein halber Franzose am Marktplatz
Sophie hatte eine neue Freundin, die am Rande der Großstadt wohnte. Sylvia war eine begeisterte Diskogängerin und sie schleppte Sophie mit in eine Großstadtdiskothek. Mit einundzwanzig Jahren schnupperte Sophie zum ersten Mal diese nächtliche Großstadtluft. Solch ein Ausflug in das Stadtleben war doch etwas anderes als die Tanzveranstaltung auf dem Land oder der gemütliche Abend im Weinlokal. Die Diskothek nannte sich „Le Cave“. Es handelte sich um eine Kellerdiskothek, bei der Namensgebung war dem Besitzer allerdings ein Fauxpas unterlaufen, weil er nicht wusste, dass der Keller im Französischen weiblich ist. Somit hatte die Diskothek den bezaubernden Namen „Der Idiot“, was aber vermutlich noch niemand bemerkt hatte. Diese Diskothek besuchten Sylvia und Sophie oft an den Freitagen und Samstagen. Sophie verguckte sich in einen blonden Jüngling, der dort auch häufig zu Besuch war. Er kam nie in Begleitung und ging immer allein, er tanzte nie, sondern stand immer nur irgendwo und schaute und rauchte. Keine seiner Bewegungen entging ihr und bald schon deutete sie sein Auftauchen in ihrer Nähe als ein Interesse an ihrer Person. Obwohl darüber hinaus nichts passierte, wartete und hoffte sie weiter. Nachts träumte sie davon, wie er vor ihr stand und sie verliebt aus strahlend blauen Augen anschaute – und die hatte er bestimmt, auch wenn man es in der Dunkelheit des Kellers nicht sehen konnte.
An einem Freitag kam Sylvia mit Peter von der Kasse ins Gespräch. Er war der Typ Mann, der bei Sophie durch das Raster fiel: zu schön, zu glatt, zu wenig männlich. Auch Sylvia äußerte sich auf dem Nachhauseweg gar nicht positiv über Peter, sie meinte sogar, er wirke wie ein Zuhälter. Doch beim nächsten Diskobesuch einige Tage später war sie dann völlig begeistert von ihm. Kurz vor dem Aufbruch – sie waren zusammen mit Sylvias Auto gekommen – vertraute sie Sophie an, dass Peter sie gefragt habe, ob sie noch mit zu ihm kommen wolle. Er habe ihr gleichzeitig angeboten, sein Freund könne sie, Sophie, nach Hause fahren. Sophie solle aber ablehnen und sagen, sie wolle auf jeden Fall mit Sylvia zusammen zurückfahren. Für Sophie klang das ganz logisch, schließlich hatte Sylvia ihr kurz vorher noch erzählt, dass sie den Peter sehr nett finde, aber erst einmal abwarten wolle. Die Absprache war also getroffen und der schöne Mann würde in die Röhre gucken müssen. Kurz darauf machten sich Sophie und Sylvia auf den Heimweg. Vor der Tür blieb Sylvia stehen. Sophie fragte, ob sie denn auf jemanden warte. Da nahten schon der Schönling und sein schmieriger Freund. Wie vorhergesagt, schlug der Freund Sophie vor, sie nach Hause oder vielmehr zu ihrem Auto zu fahren. Sophie lehnte wie besprochen ab. Aber irgendetwas stimmte plötzlich nicht mehr, Sylvia spielte ein falsches Spiel. Sie versuchte, Sophie umzustimmen, redete auf sie ein, und warf ihr sogar an den Kopf, sie solle sich doch nicht so anstellen. Sophie fühlte sich verraten und verkauft und weigerte sich standhaft, in das Auto dieses anzüglich grinsenden Typen zu steigen. Sylvia bedachte sie mit einem verächtlichen Blick, verabschiedete sich mit einem knappen Gruß und entschwand Arm in Arm mit dem Adonis. Sophie drehte sich auf dem Absatz um und ließ den dämlich dreinblickenden Freund stehen. Die Wut über Sylvias Verhalten siegte über das beklemmende Gefühl, nachts allein mit der S-Bahn zu fahren. Nach drei Stationen und einem viertelstündigen Fußmarsch in der Dunkelheit war sie glücklich und heil an ihrem Auto angelangt.
Die Freundschaft mit Sylvia war damit beendet, aber Sophie zog es nach wie vor zum „Le Cave“. Sie wollte unbedingt den Blonden mit den strahlend blauen Augen wiedersehen, also verbrachte sie die nächsten Wochenenden allein in der Kellerdisco. Sylvia sah sie kein einziges Mal mehr dort, ihren Angebeteten leider an den nächsten Wochenenden auch nicht. An einem Freitagabend stellte sie wie immer ihr Auto auf dem Marktplatz ab und ging in den Keller. Dieses Mal war ER tatsächlich auch da! Heute wollte sie es wagen und ihn ansprechen. Mehrmals machte sie einige Schritte auf ihn zu und fand immer wieder einen guten Grund, es gerade jetzt nicht zu tun. Die Zeiger der Uhr rückten unaufhaltsam vor und wenn sie nicht bald all ihren Mut zusammennahm, würde die Diskothek schließen und sie müsste wieder einmal unverrichteter Dinge nach Hause fahren. Endlich gab sie sich einen Ruck und stellte sich unauffällig neben ihn. Nach einer Weile angelte sie eine Zigarette aus der Tasche und fragte ihn, ob er Feuer habe. Er schaute sie verwundert an, und erst als er sie darauf hinwies, fiel ihr auf, dass sie die Zigarette vor lauter Aufregung falsch herum hielt. Mit zitternden Fingern drehte sie die Zigarette um. Er gab ihr Feuer und wandte sein Gesicht wieder der Tanzfläche zu. Da er offensichtlich nicht an einer Unterhaltung interessiert war, wagte sie es auch nicht, ihn ein zweites Mal anzusprechen. Schweigend und rauchend standen sie nebeneinander, dann drehte er sich um und sie sah ihn durch die Tür in Richtung Ausgang verschwinden. Enttäuscht ließ sie ihre Zigarette auf den Boden fallen und trat sie aus. Warum sollte sie jetzt noch herumstehen? Wenn er weg war, konnte sie ebenso gut nach Hause fahren. Sie stieg die Treppe zum Ausgang hinauf. Als sie oben ankam, stutzte sie. Er stand dort und wartete offensichtlich auf jemanden. „Magst du noch mit zu mir kommen? Ich wohne direkt um die Ecke.“ Er hatte auf sie gewartet.
Sophie wollte nicht darüber nachdenken, dass es leichtsinnig war, mit einem völlig Unbekannten mitzugehen. Sie wollte sich nicht wundern, warum er in der Diskothek nicht mit ihr gesprochen, aber dann doch auf sie gewartet hatte. Sie folgte ihm um die Ecke des Gebäudes, und als sie hinter ihm eine eiserne Außentreppe hinaufstieg, schob sie den Gedanken beiseite, dass dort doch kein normaler Mensch wohnen könne. Sie hatte das Gefühl, alles in ihrem Kopf konzentriere sich auf das bevorstehende Ereignis, denn heute würde es endlich passieren: das erste Mal.
In der Wohnung, die nur aus einem Zimmer und Bad zu bestehen schien, schaltete er eine Lampe auf dem Schreibtisch ein. Er stellte sich als Maurice vor, seine Mutter stamme aus Frankreich, er sei also ein halber Franzose und daher auch der Name. Den berühmten französischen Charme hatte er jedoch nicht geerbt, denn dass Sophie unbeholfen und unsicher mitten im Zimmer stand, schien ihn nicht zu interessieren. Er zeigte lediglich auf das Foto einer jungen, ebenfalls blonden Frau, das auf seinem Schreibtisch stand und erklärte: „Das ist die Meinige.“ Als Sophie dies mit einem überraschten „Ach“ kommentierte, ergänzte er: „Na, schließlich braucht man doch irgendwas Festes.“ Sophie fühlte sich gar nicht wohl in ihrer Haut und zeigte dies auch damit, dass sie ihre Jacke anbehielt. Maurice, offensichtlich nun doch sehr auf das Eine aus, fragte: „Willst du deine Jacke nicht ausziehen? Oder bist du ein Jackenfetischist?“ Sophie verdrängte auch diese geschmacklose Bemerkung, denn wären die Worte in diesem Moment in ihr Bewusstsein vorgedrungen, so hätte sie ihm sicherlich Foto und Jacke an den Kopf geworfen und wäre gegangen. Aber sie war jung und naiv und tat nichts, außer das erste Mal über sich ergehen zu lassen. Sie hätte sich gewünscht, es wäre ein kleines bisschen romantisch gewesen, aber dazu war es nun auch zu spät. Sie empfand nichts von dem, was sie bisher kennen gelernt hatte, es war ihr unangenehm, ihn auf und in sich zu spüren. Zum Glück dauerte es nicht lange. Nach wenigen Minuten rollte er sich zur Seite, wies mit der Hand zur Tür gegenüber und sagte, dort sei das Bad, sie könne sich dort frisch machen und anziehen. Wortlos stand sie auf, ging ins Bad und zog sich an. Dann stand sie draußen vor seiner Tür und wusste nicht einmal mehr, ob und was sie zum Abschied gesprochen hatten. Aber es spielte auch keine Rolle. Sie blinzelte in die Morgensonne und wunderte sich, dass es schon so hell war. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass so viel Zeit vergangen war, es schienen doch nur Minuten gewesen zu sein.
Als Sophie sich wie benommen ihrem Auto näherte, wurde sie nach und nach von der Wirklichkeit eingeholt. Ihr Magen krampfte sich zusammen und sie wollte auf der Stelle im Erdboden versinken. In ihrem Kopf ratterte es: Sie war am Freitagabend in die Diskothek gegangen. Sie hatte ihr Auto auf dem Markplatz abgestellt. Heute war Samstag. Es war Markttag. Genauer gesagt, der Markttag hatte schon begonnen. Um es ganz präzise auszudrücken, man hatte rund um ihr Auto dicht an dicht Marktstände aufgebaut!
Sie wünschte sich, gleich die Augen aufzuschlagen und aus einem grässlichen Albtraum zu erwachen. Aber es tat sich weder der Boden auf noch erwachte sie aus einem Traum. Es war halb acht am Samstagmorgen und sie musste dringend nach Hause. Sie fühlte sich übernächtigt, verschwitzt und schmutzig und konnte unmöglich bis nachmittags warten. Sie schlich zu ihrem Auto und hoffte, keiner würde sie wahrnehmen. Eine Illusion, denn kaum war sie an ihrem Auto angelangt und gab sich somit als Besitzerin zu erkennen, fielen die Händler mit Gebrüll über sie her. Sophie schloss mit zitternden Händen die Autotür auf, ließ sich auf den Sitz fallen, warf die Tür zu und verriegelte sie von innen. Sie versuchte, das wütende Geschrei zu ignorieren. Irgendwie gelang es ihr, das Auto an den Marktständen vorbei auf die Straße zu manövrieren. Wie sie das geschafft hatte, war ihr später selbst ein Rätsel. Mit wackligen Knien stieg sie zu Hause aus dem Auto und fiel gleich darauf erschöpft in ihr Bett. Tagelang konnte sie vor Scham kaum in den Spiegel schauen.
Den Ort und selbst die Stadt des Geschehens mied sie seitdem wie der Teufel das Weihwasser. Ihr Erlebnis vertraute sie niemandem an, nicht einmal ihrem Tagebuch. Die Erinnerung daran ließ sich nicht auslöschen, aber sie entfernte sich im Laufe der Zeit weiter und weiter von ihr, sodass es ihr schließlich wie eine Geschichte aus einem Buch vorkam, über die sie amüsiert lächeln konnte.