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Ein halber Mann zuviel

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21.01.2003
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Ein halber Mann zuviel

Schnelle Schritte im Flur, Türen knallten, Telefonleitungen liefen heiß, Gemurmel drang aus Büros. Stastny ging den Korridor entlang. Sein Unternehmen hatte diesen maroden Laden gekauft, um ihn auf Vordermann zu bringen. Stastnys Gesicht zeigte keine Regung, als er in den Sitzungsraum trat. Da saßen sie, Direktor, Hauptabteilungsleiter, Abteilungsleiter und lockerten ihre Krawatten.
“Downsizing! Re-Engineering! Rationalisierung der Abläufe! Personaleinsparung!”, bellte Stastny in den Raum und legte eine Folie auf den Overhead Projektor.
“In der Kostenrechnung vier einviertel Arbeitskräfte, in der Buchhaltung drei einhalb Mann, im Verkauf fünf dreiviertel und im Einkauf zwei einhalb.
Organisation und Datenverarbeitung werden zusammen gelegt. Dadurch fallen ein Abteilungsleiter und ein Hauptabteilungsleiter weg.” Drei Männer zogen ihre Köpfe ein.
“Die Abläufe und Einsparungen sind ab morgen wirksam. Danke meine Herren.”

Am Tag danach. Türen knallten zu, öffneten sich wieder, einen Spalt, als der Schritt schwerer Stiefel, Rufe und Schreie durch die Flure hallten. Männer in weißen Kitteln zerrten Frau Henning aus der Buchhaltung durch den Gang, stießen sie in die Postabteilung. Dort stand Frau Meister an der Frankiermaschine. Eine Bandsäge surrte. Herr Möller aus der Kostenrechnung lag ohnmächtig auf einem Tisch, ein Bein im Auffangkorb. Das Fallbeil daneben. Vier Rümpfe übereinander. Die Köpfe!
“Herr Schmidt!,” schrie Frau Henning und versuchte sich los zu reißen, “Frau Glauber!, Frau Rauer!, Herr Sauss! Was haben sie mit Ihnen gemacht!” Frau Hennings Knie gaben nach.
Personaleinsparung, resignierte sie. Und wozu gehöre ich? Zu den drei Mann? Bin ich die halbe Person? Dann lag sie festgeschnallt auf dem Sägetisch. Frau Meister schob sie auf die Säge zu, und die Männer in weißen Kitteln waren wieder unterwegs.


“Frau Meister, ich habe ein paar Briefe….Was ist denn hier los?” Heinz starrte mit großen Augen auf die Säge, die sich surrend zwischen Frau Hennings Beine schob.
“Frau Meister! Sie halten jetzt sofort die Säge an! So geht das ja nicht. Haben Sie das mit dem Betriebsrat abgestimmt? Ich jedenfalls weiß nichts davon.”
Die Säge verstummte. Heinz ging zum Telefon.
“Karl, Heinz hier. Kannst du mal ins Postzimmer kommen? Sie haben wieder was gemacht, ohne uns vorher zu fragen.”
Heinz löste die Riemen.
“Also Frau Henning. Die Unternehmensleitung hat uns wieder übergangen. Schließlich muss alles seinen geordneten Gang gehen. Gehen Sie doch wieder in die Buchhaltung zurück. Wir melden uns, wenn es wieder so weit ist.”
Karl quetschte sich ins Postzimmer. Er hielt sein Frühstücksbrot noch in der Hand und kaute.
“Einsparungen, was? Lassen wir doch den Stastny und Direktor Müller kommen.” Er griff zum Telefon.
“Herr Stastny? Karl Emmerich vom Betriebsrat. Wir sind hier im Postzimmer. Sie werden schon wissen, worum es geht. Kommen Sie doch mal her und bringen Sie Direktor Müller gleich mit.”
“Frau Meister haben Sie die Liste?”
“So so,” meinte Karl. “Kostenrechnung vier einviertel Arbeitskräfte, Buchhaltung drei einhalb Mann, Verkauf fünf dreiviertel und Einkauf zwei einhalb.”
Sie hörten Stöhnen. Heinz und Karl blickten hinter den Sägetisch zu Herrn Möller aus der Kostenrechnung, der auf dem Boden lag und auf die Stelle stierte, wo sein Bein gewesen war.
“Unerhört!” rief Karl. “Einsparung von einer viertel Arbeitskraft bedeutet doch nicht, das Bein abzusägen. Jetzt kippt der Mann immer um, wenn er keine Krücke hat. Kosteneinsparung, dass ich nicht lache.”
Stastny und Müller kamen ins Zimmer und sahen sich um.
“Ach, die Herren Stastny und Müller. Meine Herren, wir können Ihr Vorgehen nicht akzeptieren. Wir müssen das unserer Zentrale melden. Herr Stastny, wenn Ihre Firma unser Unternehmen gekauft hat, bedeutet das noch lange nicht, dass Sie hier schalten und walten können, wie sie wollen.” Karl hatte sich in Rage geredet.
“Vielleicht sollte ich mal mit Ihrem Betriebsrat reden.”
“Die haben keinen.” Heinz setzte sich auf den Schreibtisch. “Deren Unternehmen sitzt auf den Bahamas. In Deutschland haben sie nur eine Briefkastenfirma.”
“Wenn der nicht überläuft.” Karl ging um das Fallbeil herum und biss von seinem Brot ab.
“Was meinen Sie damit?” Stastnys Gesicht blieb ohne Ausdruck.
“Ihren Briefkasten, Herr Stastny. So wie Sie hier agieren, müsste der voller Beschwerden sein.” Karl zeigte auf die Rümpfe neben dem Fallbeil.
“Als ob wir nicht schon genug kopflose Mitarbeiter hätten, und was noch Schlimmer ist. Das Fallbeil hat keine TÜV-Plakette.”
Heinz sah sich das Gerät an.
“Stimmt. Es ist nicht abgenommen. Wussten Sie das, Direktor Müller?
Sie haben Frau Meister an einem Gerät arbeiten lassen, dessen Sicherheit nicht garantiert ist. Wie leicht hätte sie zu Schaden kommen können.”
“Das müssen wir dem Gewerbeaufsichtsamt melden,” fügte Karl hinzu.
Direktor Müller sah betreten zu Stastny hin, dessen Gesicht rot angelaufen war.
Die Tür ging auf. Männer mit weißen Kitteln trieben drei Mitarbeiter der Buchhaltung vor sich her.
“Herr Stastny. Die Männer sollen ihre Aktion einstellen. Am besten Sie gehen und nehmen die Leute aus der Kostenrechnung gleich mit.”
Stastny nickte den Männern in weißen Kitteln zu. Die packten sich je einen Rumpf und trugen ihn aus dem Postzimmer. Stastny schloss sich ihnen an.
“Und nun zu Ihnen, Direktor Müller.” Karl legte sein Frühstücksbrot auf den Schrank und näherte sich dem Mann, der verängstigt zurückwich.
“Wann haben Sie sich das Rückgrat rausoperieren lassen?”
“Zenker oder Virchow,” meinte Heinz.
“Was?”
“Methode Zenker oder Methode Virchow. Ich bin mir da nicht sicher. Wir haben in unserer Schreibgruppe eine Pathologin. Freundliche Frau. Die gibt uns Hinweise, wenn mir mit unserem Medizin Einmaleins in unseren Geschichten daneben liegen.”
“Was Heinz, du schreibst?”
“Ja, in meiner Freizeit. Kurzgeschichten im Internet.”
“Was, du hast Freizeit?” Karl war verblüfft. “Ich bin vierundzwanzig Stunden im Dienst der Gewerkschaft.”
“Die kämpft doch für mehr Freizeit, oder?”
“Ja, wieso hab ich dann keine?”
“Weiß ich nicht,” meinte Heinz. “Doch zurück zum Rückgrat. Der Schädel wird hinten geöffnet, das Gehirn entfernt und das Rückgrat durch die Schädelöffnung rausgezogen.”
“Und was ist ne Pathologin?”
“Na, viel Obst, Gemüse, Fisch und so weiter. Was Gesundes eben.”
“Karl fragte noch einmal.
“Seit wann haben Sie kein Rückgrat mehr, Herr Müller?”
“Ich kann mich nicht erinnern.”
Heinz nickte. “Wenn Sie ohne Gehirn rumlaufen.”
“Muss aber gewesen sein, als er noch Abteilungsleiter war.” Karl bückte sich und legte die Köpfe so, dass ihre Nasen nach oben zeigten.
“Ohne Rückgrat kann man vor dem Boss einknicken. War doch Ihrer Karriere förderlich, nicht wahr Herr Müller?”
Bevor Heinz und Karl das Postzimmer verließen, drehte sich Karl noch einmal um.
“Frau Meister. Säge und Fallbeil bleiben außer Betrieb, so lange Sie von uns nichts anderes hören.”
Frau Meister nickte eifrig, ohne ihren Blick von der Frankiermaschine zu wenden.
Karl blickte noch einmal auf die Köpfe.
“Nächste Woche ist Betriebsausflug. Heinz, sag mal, haben die da auch ne Bowling Bahn?”
Als sie den Korridor entlang gingen, meinte Karl noch: “Wir sollten die Maschinen verplomben, auch wegen der fehlenden TÜV-Plakette. Besorgen uns ein paar Plomben beim DGB. Morgen ist Betriebsratssitzung. Die Einsparung wird ein Thema.”
Heinz dachte nach.
“Also ich weiss nicht. Einsparung von einem viertel Mitarbeiter. Ist das richtig, einen Arm oder ein Bein einfach abzusägen? Ich meine, die Person müsste doch gewogen werden. Mal angenommen, er wiegt einhundert Kilo, dann müssten doch, wenn man es genau nimmt, fünfundzwanzig Kilo runter. Was sagen denn die DGB-Richtlinien darüber?”
“Weiß nicht,” antwortete Karl. “Die sind um die zweitausend Seiten stark und ich bin erst bei Seite zehn.”
Nach und nach öffneten sich die Bürotüren wieder. Es hatte sich herumgesprochen: auf den Betriebsrat war Verlaß.




 

Torteloni, besten Dank fuer Deinen Kommentar. Im Moment bin ich von Schreiben abgekommen, aber Dein Kommentar macht mir Lust darauf, mal wieder was von mir zu geben.

Im Moment lasse ich mich von Brasilianerinnen in deren Chatraeumen inspirieren:D http://tc.batepapo.uol.com.br/ Ist gut fuer eine heisse Story:lol:


Die empfohlene Website mit dem toten Pferd passt echt gut zu meiner Geschichte. Vielen Dank fuer den Hinweis.

Claudio

 

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