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Ein halbes Pfund Butter
„Es kommt Schnee. Ich spüre es in meinen Knochen“, sagte Maria, während sie sich am Tisch aufstützte, um ihren Körper, der zunehmend zur Last wurde, vom Stuhl zu hieven. Das Rheuma brannte in ihren Gelenken.
„Na, wenn du dich da mal nicht irrst“, entgegnete ihr Mann Karl, der seinen Kopf zum Fenster und nach oben in einen strahlend blauen Himmel reckte.
„Wir werden sehen.“ Mit einem Schulterzucken schlurfte sie zum Kühlschrank.
Es gab keinen Grund auf irgendetwas zu beharren.
Karl widmete sich wieder dem Kartoffelschälen. Jeden Tag bereiteten sie zusammen das Mittagessen vor. Es war eine der wenigen Aufgaben, die von ihrem gemeinsamen Leben übrig geblieben war.
Noch bis vor fünf Jahren kümmerte Maria sich alleine um den Haushalt. Karl war für Schrebergarten und Auto zuständig. Nachdem sie eingesehen hatten, dass gärtnern und Auto fahren immer beschwerlicher wurden, gaben sie beides auf.
Das fortschreitende Alter hatte sie Vieles abschließen lassen und führte dazu, dass sie jeden Tag ein Stückchen näher rückten. Reduktion auf das Wesentliche.
„Was suchst du?“
Karl sah, wie seine Frau den Kühlschrank durch kämmte und Mühe hatte, in dieser gebückten Haltung zu stehen.
„Butter! Ich muss Frau Gerber noch ein halbes Pfund Butter zurückgeben, das ich mir bei ihr geliehen habe.“ Mit einem leisen Ächzer griff Maria nach dem silbernen Päckchen und mit einem etwas lauteren stellte sie sich wieder aufrecht hin.
„Sage mir doch, wenn du Hilfe brauchst!“, mahnte er, aber Maria wehrte ab. Wehleidigkeit war nicht ihre Sache.
„Ich gehe gleich mal nach unten, dann habe ich das erledigt!“
Noch ehe ihr Mann Einspruch erheben konnte, war sie zur Tür hinaus und auf dem Weg zu der Nachbarin. Nach kurzer Zeit kam sie unverrichteter Dinge zurück.
„Sie ist nicht da“, stellte Maria verdrießlich fest.
„Frau Gerber arbeitet doch halbe Tage. Sie wird längst unterwegs zum Kindergarten und dann zum Büro sein.“
„Nein, heute nicht“, widersprach sie. „Mittwoch ist ihr freier Tag.“
Gedankenverloren betrachtete sie das Paket in ihrer Hand, bevor sie es zum Kühlen zurücklegte.
Als Thomas und Katrin, ihre beiden Kinder, klein waren, war es nicht üblich, dass Mütter einer Berufstätigkeit nachgingen. Maria bedauerte das sehr. Die Schwangerschaft hatte sie überglücklich gemacht, dennoch musste sie mit den Tränen kämpfen, als sie von den Kollegen im Büro Abschied nahm. Es gab keine Alternative. Sie wollte nicht, dass man hinter vorgehaltener Hand unterstellen würde, sie hätten es nötig, Karl könne wohl nicht alleine für seine Familie sorgen.
Erst als die Kinder aus dem Haus waren, nahm sie eine Teilzeitstelle in einem Supermarkt an. Karl verstand nicht ganz, warum sie sich das zumutete. Maria argumentierte, dass sie nicht mehr ausgelastet sei, aber verschwieg ihm, dass es der lang ersehnte Wunsch nach ein bisschen Unabhängigkeit war.
Maria nahm die Gießkanne von der Fensterbank und füllte sie mit Wasser. Der Hahn ließ sich mit ihren arthritischen Fingern nur schwerlich öffnen. Wie so oft dachte sie daran, dass der Sinn des Alterns darin bestehen müsse, den Menschen in Geduld zu üben. Wie sonst als mit Gleichmut ließen sich Einschränkungen ertragen?
Eine halbe Stunde dauerte es, bis sie die wenigen Pflanzen getränkt hatte, was jedoch nicht an ihren körperlichen Maläsen lag. Gemessenen Schritts wanderte sie von Blumentopf zu Blumentopf. Sie sah dabei aus wie eine Regierungschefin, die nach einem Staatsbesuch die Phalanx der wichtigsten Minister abschreitet, um dann in einer schwarzen Limousine zu verschwinden.
„So, ich probiere es noch mal, vielleicht ist sie jetzt zu hause.“
„Lass mich gehen, dir geht es heute nicht gut“, bot Karl an.
„Nein, nein“, winkte sie mit einer energischen Handbewegung ab, „ich mache das schon!“
„Es scheint ihr außerordentlich wichtig zu sein“, dachte Karl. Aber die Möglichkeit, dass sie einfach nur ein Schwätzchen halten wollte, zog er ebenfalls in Betracht und musste darüber lächeln. Wenn ihre Bedürfnisse sich auch mehr und mehr glichen wie ein Ei dem anderen, so bleibt doch letztendlich jedes Ei ein Einzelstück und für sich allein.
Er musste nicht lange warten, und Maria war wieder da.
„Wo steckt sie nur?“ Die Stirn in Falten, rieb sie sich mit der Hand nachdenklich das Kinn.
„Sie wird einkaufen sein, schließlich nutzt man seinen freien Tag“, versuchte Karl zu erklären.
Mit Nachdruck sagte Maria jedoch: „Ich verstehe das nicht. Sonst ist sie mittwochs um diese Zeit immer da.“
„Du weißt aber gut über deine Nachbarn bescheid!“
Sie beachtete seine Spitze nicht, stattdessen machte sie sich daran mit dem Kochen zu beginnen. Wortlos fuhrwerkte sie mit ihren Töpfen herum, und Karl wurde das Gefühl nicht los, dass sie irgendetwas beunruhigte.
Schweigend aßen sie zu Mittag. Nachdem sie den Abwasch erledigt hatten, ging Karl wie üblich ins Wohnzimmer. Er griff nach der Zeitung und machte es sich in einem Sessel bequem. Maria pflegte in dieser Zeit ein Nickerchen zu halten.
Als seine Frau ihm nicht ins Wohnzimmer folgte, er zuerst die Kühlschranktür und dann die Haustür auf und zu schlagen hörte, schüttelte er den Kopf. Was war nur mit ihr los, dass ein Stück Butter sie so in Aufruhr versetzen konnte?
Bevor er sich weitere Gedanken über ihr rastloses Verhalten machen konnte, stand sie abermals vor ihm. An ihrem Gesicht konnte er ablesen, dass sie die junge Frau noch immer nicht angetroffen hatte.
Niedergeschlagen setzte Maria sich auf das Sofa.
„Vielleicht ist Frau Gerber ja verreist“, gab er leichthin zu bedenken.
„Verreist? Wie kommst du darauf, dass sie verreist ist?“, fragte Maria geradezu entsetzt.
„Es wäre nur ein möglicher Grund für ihre Abwesenheit, weiter nichts.“
„Das wäre schrecklich“, sagte sie leise und resigniert stützte sie den Kopf in ihre Hände.
Mit den Kindern waren sie selten in Urlaub gefahren, obwohl Karl häufig vom Fernweh geplagt wurde.
Er träumte von fernen Ländern und fremdartigen Kulturen, und weil er Gesellschaft liebte, sah er sich mit Menschen in einer Unterhaltung, deren Sprache er nicht verstand.
Aber es fehlte am nötigen Kleingeld. So fuhr man, wann immer der Geldbeutel es zuließ, in den Schwarzwald oder an die Nordsee. Maria gab er vor, dass sie eine glückliche und unvergessene Fahrt unternommen hatten. Als sie dann in Rente waren, konnte er endlich seine Träume verwirklichen. Mehr als ein Jahrzehnt bereisten sie fast ganz Europa.
Ein nun lieb gewordener Zeitvertreib bestand darin, die alten Urlaubsfotos auszukramen und sich gegenseitig mit der Frage „Weißt du noch?“ an die immer gleichen Geschichten vergangener Tage zu erinnern.
„Maria, warum macht dich etwas Unbedeutendes wie ein Stück Butter so nervös?“
Seine Frau gab einen langen Seufzer von sich.
„Geliehenes gibt man umgehend zurück, egal wie unbedeutend es erscheint“, und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Ich möchte niemandem etwas schuldig bleiben!“
„Meinst du nicht, du solltest es für heute gut sein lassen?“, fragte er vorsichtig, „Frau Gerber wird es dir nicht übel nehmen, wenn sie es erst morgen zurück erhält.“
„Morgen kommt Schnee!“, sagte sie nur.
Für den Rest des Tages saß Maria angespannt auf dem Sofa und konzentrierte sich darauf, zu hören, wenn die Nachbarin heimkehren würde. Aber im Haus blieb es still.
Es wurde spät und schließlich war sie so erschöpft, dass sie zu Bett ging. Der Tag hatte sie angestrengt. Karl bereitete ihr, wie immer, wenn sie Schmerzen durch das Rheuma hatte, eine Wärmflasche zu. Er legte ihr den warmen Gummibeutel behutsam unter die Bettdecke.
„Mach’ dir keine Sorgen, es wird sich alles regeln“, tröstete er und Maria blieb nichts anderes übrig als sich seiner Zuversicht zu überantworten - so müde war sie.
Karl stand am Fenster. Seit einer Stunde schaute er nach draußen. In der Nacht hatte es geschneit. Die dicke, weiße Schicht bedeckte den Hinterhof, zog sich über die Mauern der angrenzenden Grundstücke, über den alten Nussbaum hinauf zu den Balkonen und von dort bis ganz nach oben über die Dächer hinweg. „Ein riesiges Leinentuch“, dachte er und sagte: „Du hast es vorhergesehen, Maria.“ Dann drehte er sich zu seiner Frau, setzte sich zu ihr aufs Bett und nahm ihre kalte Hand.
Er hatte ihr nicht mehr sagen können, dass er Frau Gerber noch angetroffen hatte, um ihr das halbe Pfund Butter zu geben, aber er war sich sicher, dass sie es trotzdem wusste.
Sein Herz klopfte, als er Maria über die grauen Haare streichelte und ihr dankbar zuflüsterte: „Du bist niemandem etwas schuldig geblieben!“