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Ein hartes Leben, wie es schlimmer nicht sein kann
„Räum endlich meine Bierflaschen weg oder willst du noch eine Tracht Prügel?“, dröhnt es aus dem Wohnzimmer. Das war mein Vater. Er ist Alkoholiker. Fast täglich bekomme ich brutale Schläge von ihm, wenn ich nicht spure. Meine Mutter ist fast nie zuhause und wenn sie mal da ist, kümmert sie sich auch nicht sonderlich um mich. Eigentlich bin ich ganz allein auf der Welt, niemand liebt mich. Freunde habe ich auch nicht und in der Schule werde ich ständig von den anderen gehänselt. Sie nennen mich „Streberin“ und „Miss Piggy“. Streberin deswegen, weil ich ziemlich gut in der Schule bin, viel besser als die anderen. Das ist das einzige, worauf ich in meinem Leben stolz bin. Aber das ist noch lange kein Grund mich deswegen Streberin zu nennen. Nun komme ich zu „Miss Piggy“. Sie nennen mich so, weil ich lange blonde Locken und angeblich genau so eine Nase wie Miss Piggy habe. „Überhaupt siehst du total hässlich aus.“ Tagtäglich strömen mir diese fiesen Aussagen von Klassenoberhaupt Tamara durch den Kopf. Ehrlich gesagt ist sie eine Tussi und ich habe auch ein bisschen Angst vor ihr. Zusätzlich steht die ganze Klasse auf ihrer Seite und lacht sich immer über ihre ach so coolen Sprüche schlapp. Gott sei Dank wissen sie nicht, dass mein Vater Alkoholiker ist und meine Mutter….Na ja, als Prostituierte arbeitet. Oh. Ich schäme mich so dafür. Es ist doch absolut eklig mit jedem fremden Mann ins Bett zu steigen. Allein der Gedanke daran. Widerwärtig. Tamara hat mich zwar mal gefragt ob die leicht bekleidete Frau aus unserem Haus meine Mutter sei, aber ich antwortete mit Nein, sie wohne nur eine Etage über uns. Bevor ich noch weiter und tiefer in meinen Gedanken versinke, höre ich meinen Vater von unten zu mir nach oben schreien: „ Komm jetzt endlich, du Göre!“, mit äußerst wütender Stimme. Oje, ich weiß schon, was mich erwartet. Mit zittrigen Knien gehe ich die Treppe hinunter. Kaum unten angekommen gibt er mir mit voller Wucht eine Ohrfeige. Mein Ohr tut höllisch weh. „Zu was ab ich dich eigentlich? Zum blöd Rumhängen? NEIN! Sieh zu, dass du endlich meine Bierflaschen wegräumst!“, und gibt mir einen Tritt in den Hintern. Ohne einen Laut von mir zu geben erledige ich diese „Aufgabe“ und renne anschließend tränenüberströmt in mein Zimmer.
Der morgen darauf…
Mein Wecker klingelt. Ich muss wohl eingeschlafen sein. Egal, jetzt muss ich in die Schule. SCHULE! Dieser Begriff! Ich will nicht in die Schule. Und schon gar nicht von den anderen
gehänselt werden. Aber ich muss. Nun stehe ich im Bad und ziehe mich gerade um. Überall diese blauen Flecken. Sie sind sehr schmerzhaft, wenn man sie anfasst, und auch nicht gerade schön.
Nur gut, dass meine Mitschüler meine Verletzungen noch nicht gesehen haben. Ich trage nämlich fast nur lange Sachen, so dass ich alles verstecken kann.
In der Schule angekommen…
„Hey, seht nur Miss Piggy, unsere kleine Streberin ist wieder da! “ , ruft Tamara durch die ganze Klasse. Lautes Gelächter. „Gib mir mal ganz schnell die Deutsch-Hausaufgabe, sonst sage ich zu Frau Tritzel, dass du meine neue Kappe gestohlen hast. Dann bekommst du mächtigen Ärger“, sagt Alex zu mir. Er fragt mich ständig nach den Hausaufgaben und wenn ich sie ihm nicht gebe, droht er mir. Also bleibt mir ja gar nichts anderes übrig, als ihm die Hausaufgabe in die Hand zu drücken. Ich gehe vorsichtig auf meinen Platz und setze mich hin. Hinter mir tuscheln sie schon wieder über mich. Das geht mir richtig auf die Nerven. Frau Tritzel kommt in die Klasse. „Guten Morgen, liebe Kinder.“ Auf einmal fragt sie:“ Nancy, wieso schaust du denn so traurig? Stimmt irgendetwas nicht??“ Verdutzt sehe ich sie an. So sitze ich doch immer hier und erst jetzt fällt es der Alten auf?! Das kann nicht sein. Ehe ich etwas darauf antworten kann, kommt Tamara mir, wie schon so oft, zuvor. „ Ach Frau Tritzel, wissen Sie, Nancy möchte nicht darüber reden. Aber ich stehe ihr natürlich zur Seite.“ „Das ist aber schön von dir, Tamara“, meint Frau Tritzel nett. Wie kann Tamara der Lehrerin nur so frech ins Gesicht lügen?! Und die glaubt das auch noch! Allerdings bin ich ja auch irgendwie selbst daran schuld. Ich traue mich nie etwas auf Tamaras blödes Gequatsche zu sagen, weil ich von den anderen eh nicht ernst genommen werde und ich dann wieder als Gespött der Klasse dastehe. Daheim traue ich mich auch nie. Da bekomme ich nur noch mal in verstärkter Version zu hören, wie schlecht ich tatsächlich bin, und obendrauf eine geklatscht.
Zuhause…
Endlich daheim! Wieder ein Schultag geschafft. Nur noch drei Tage, dann sind wieder Ferien. Da bin ich dann eine Hälfte meiner Probleme los und muss mir zumindest nichts mehr von meinen Klassenkameraden, wenn man die überhaupt noch so nennen kann, anhören. Dies ist mal wieder ein schwerer Nachmittag für mich. Im Wechsel muss ich, wie immer, die Drecksarbeit machen und mir von meinen Alten 100 Neins, sogar 1000 blöde Bemerkungen und mindestens 10 Schläge reinhauen lassen. Mir kommt es so vor, als ob Tag für Tag alles schwieriger für mich wird. Es belastet mich alles sehr. Wenn die anderen nur wüssten, wie es in mir wirklich aussieht...
Am Abend…
Jetzt habe ich endlich mal Zeit für mich. Das heißt, mein Vater schläft. Ich denke in Ruhe über alles nach und spule in meinem Kopf zurück bis zum Anfang, also bis heute früh. Auf einmal kommt mir ein Blitzgedanke. Tamara sagte so etwas wie „ Na, da wollen wir doch mal sehen, wie ihre Eltern so drauf sind. Komm, Laura, wir verfolgen sie auf dem Nachhauseweg. Ich habe so ein super tolles Fernglas bekommen. Glaub mir, da kann man in jedes einzelne Zimmer sehen.“ Oh nein, was ist, wenn sie nun gesehen haben, dass mein Vater Alkoholiker und meine Mutter eine Prostituierte ist? Dann werde ich von den anderen nur noch mehr fertig gemacht. Das geht zu weit, ich verkrafte das alles nicht mehr.
Der nächste Tag….
„Hallihallo, Miss Piggy, oder soll ich lieber Hure oder vielleicht doch Alkoholikerin zu dir sagen?“, begrüßt mich Tamara. Oh Gott sie haben es wirklich herausgefunden. Na bravo. Und jetzt? Am liebsten würde ich im Erboden versinken oder mich gleich in Luft auflösen. „Ja, da guckst du, was? Wir haben mehr über dich und deine Eltern herausgefunden als du denkst. Ab sofort giltst du für uns als asozial!“, beschimpft mich Laura. Ich halte es nicht mehr aus. Wie ein Stich ins Herz treffen mich ihre Worte. Ich will das alles nicht mehr! Ich will weg! Dann meldet sich auch noch Alex zu Wort: „ Kaum zu glauben, dass so ein Mädchen wie du so gut in der Schule ist, wenn ihre Eltern so versifft sind. Aber ich meine, wenn man sich solche Leute als Vorbild nimmt… Hey Leute, ich wette, später wird sie mal Prostituierte-Alkoholikerin“. Und wieder lachen alle. „Ich hoffe, wir belasten dich nicht allzu sehr, Miss Piggy. Ist doch eh alles deine Schuld!“, grinst Tamara fies. Die ganze Wut strömt in mir hoch. Am liebsten würde ich explodieren und ihnen mal so richtig die Meinung geigen. Tatsächlich, wie aus magischen Kräften traue ich mich endlich einmal… „Komm schon, Nancy, jetzt sag es, zeig's ihnen, entweder jetzt oder nie“, fordere ich mich an. „Achja, jetzt bin ich auch noch selbst daran Schuld, dass ich ständig von euch gemobbt werde? Ihr seid echt das Letzte! Habt ihr euch schon mal gefragt, wie es mir bei der ganzen Sache geht? Nein, habt ihr nicht, sonst würdet ihr das ganz bestimmt nicht so locker sehen! Ihr macht mich tagtäglich immer mehr kaputt. Ich fühle mich echt mies. Außerdem könnt ihr einen Menschen nicht nur nach Aussehen, Leistung, Wohnort und Eltern beurteilen. Ich ticke ganz anders als meine Eltern. Aber das wisst ihr nicht, weil ihr mich nicht kennt! Ich gehe jetzt. Weg von euch. Für immer. Und noch einen Tipp für die Zukunft: Denkt erst einmal nach, was ihr zu den anderen sagt, falls ihr euch wieder ein Opfer sucht. Ihr könnt das Leben anderer durch eure fiesen Aussagen und Sprüche ganz schnell kaputt machen. Meins habt ihr schon kaputt gemacht!“ Wütend verlasse ich die Klasse ohne die anderen anzusehen. Bevor ich die Tür schließe, bekomme ich gerade noch so mit, dass alle schweigen. Also scheinen sie sich ernsthafte Gedanken darüber zu machen. Draußen kann ich es gar nicht glauben. Ich, die 14-jährige Nancy, hab es wirklich geschafft den anderen die Augen zu öffnen. So, jetzt muss ich nur noch nach Hause….
Zu Hause…
„Nancy, komm her und hol mir eine Tüte Chips, sofort!“, schnauzt mich mein Vater an. „So, ich gehe jetzt mal auf meine Arbeit“, sagte meine Mutter. Was ein Wunder das gerade DIE zu Hause ist. „Nein STOPP! Du gehst nirgendwo hin und ich hole dir auch keine Tüte Chips. Ich bin schließlich nicht deine persönliche Bedienung“, schreie ich. „Was ist denn mit DIR los?“, fragte mich meine Mutter stur. „Ach, sieh mal einer an, du fragst dich zum ersten Mal in deinem Leben, was mit mir ist? Na gut, dann werde ich euch jetzt sagen, was los ist. Ich habe es satt, dass ich den ganzen Tag den Müll von meinem Vater wegräumen muss. Und er schlägt mich. Überall sind blaue Flecken, hier seht nur“, langsam ziehe ich meinen Ärmel hoch und zeige ihnen die Wahrheit. „Das war alles dieser Mann auf der Couch da drüben.“ „Ab jetzt wird sich bestimmt alles ändern“, erwiderte meine Mutter. „Nein, wird es sich gar nicht. Es ist zu spät, um etwas zu ändern. Und wisst ihr wieso? Weil ihr euch NIE richtig um mich gekümmert habt. Ihr interessiert euch nicht für mich. Nie. Wisst ihr eigentlich, wie grausam mein Leben ist? In der Schule werde ich ständig von den anderen gehänselt, jeden Tag, weil meine Mutter Prostituierte und mein Vater Alkoholiker ist. Und weil ich eine Streberin bin. Außerdem sehe ich auch wie Miss Piggy. Da schaut ihr was! Jetzt wisst ihr es. In der Schule fängt alles an und zu Hause hört es nie auf. Hier werde ich sehr hart behandelt, aber ich bin ja eh Dreck für euch. Doch das wird sich ab jetzt gewaltig ändern. Ich gehe nämlich weg. Für immer. Und wenn ihr euch irgendwann geändert habt, was ja sowieso nie der Fall sein wird, seht ihr mich höchstens als berühmte Pilotin im Fernsehen wieder. Tschüss!“ Ich renne noch schnell nach oben, hole meine gepackten Koffer, setze mich aufs Fahrrad und radle ins Kinderheim. Endlich geschafft! Zum ersten Mal fühle ich mich frei. Raus aus meinem alten, harten Leben und rein in ein neues, hoffentlich besseres Leben.