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Ein Hauch des Seins
Lautlos gleitet er aus der dünnen Haut, die so lange seine Behausung war. Zwei Minuten nur noch und er würde frei sein. Ungeduldig wartend auf den Augenblick, der ihn auf filigranen Schwingen hinaus in den Tag entlässt.
Die Sonne klebt über den Bäumen an einem wolkenlosen Himmel.
„Ich habe Glück“, denkt er. Er genießt das Blinzeln der Sonnenstrahlen durch die Baumkronen der riesigen Buchen und Eichen. Er streckt seine Fühler nach dem Duft der neuen Welt. Ein herrlicher Geruch von Moos und faulendem Laub durchströmt seine Sinne. Nur einen Augenblick noch, dann kann er nach ihr suchen.
Tautropfen des frühen Morgens bahnen sich zögerlich fließend ihren Weg dem weichen Waldboden entgegen. Fasziniert über das Spiel der Natur beginnt er zu träumen.
Ja, er war früher schon einmal hier. In einem anderen Leben. Aber das ist so lange her.
In der Ferne sieht er eine zarte Bewegung. War es wirklich möglich, dass ihm so großes Glück zuteil werden könnte? Noch unsicher in der Luft zappelnd kommt etwas auf ihn zu. Schließlich ist er sich sicher. Sie ist es. Ebenso unsicher in seiner neuerworbenen Fähigkeit des Fluges gleitet er zitternd auf sie zu.
In einem Reigen unendlicher Glückseligkeit tanzen sie beide stundenlang durch die Lüfte. Hinaus aus dem Wald. Über duftende Wiesen und goldene Felder. Der Tag neigt sich dem unvermeidlichem Ende zu und noch ist so viel zu tun. Zumindest für sie. Honigblumen braucht sie. Deren Blätter lassen sich wunderbar einrollen und schmecken fantastisch. Zusammen, noch immer tanzend, fliegt das Pärchen seinem Ziel entgegen.
Süßlicher Duft, von Honigblumen verströmt, umarmt die Liebenden in dem Augenblick ihres größten Glücks.
Dann wendet sie sich plötzlich ab von ihm. Er ist nicht traurig. Er ist von Zufriedenheit durchtränkt und bereit zu sterben.
Sich an einer wunderschönen Blüte labend, wird er schwächer. Er beobachtet sie. Sie klebt Eier an die Blätter und rollt diese zusammen, um ihre gemeinsamen Kinder zu schützen.
Er wünscht ihnen soviel Glück, wie ihm beschieden war. Nächstes Jahr wird es wahr sein. Unzählige Honigfalter werden sich nach ihrem kurzen Raupendasein darauf besinnen, hierher zurückzukehren. So wie er es getan hatte. Sie würden ein Teil von ihm sein. Das allein erfüllte ihn mit unendlichem Stolz.
„Ich komme wieder“, haucht er und stirbt.