Ein Killer geht um
Ein Killer geht um
Es ist dunkle Nacht. Die Strassen sind wie immer leer. Sollten sie auch. Immerhin geht er um. Der Mörder. Der Killer. Der, welcher schon so viele Menschenleben auf dem Gewissen hat. Jeder, der ihn gesehen hat, ist tot. Denn nur seinen Opfern gibt er sich zu erkennen. Hie und da glaubten schon Leute einen verdächtigen Schatten gesehen zu haben, doch noch keine lebendige Person konnte behaupten, ihm persönlich gegenübergestanden zu haben.
Eigentlich ist es schon Ewigkeiten her, seit er seinem ersten Opfer auf diesen dunklen Strassen aufgelauert hatte. Die Polizei ist hilflos, die einzigen Spuren, die er hinterlässt, sind die Toten mit durchgeschnittenen Kehlen. Er lauert schon seit so langer Zeit in den Schatten und Ecken der trüben nächtlichen Stadt, dass er zu einem gewöhnlichen Teil des Lebens für die Anwohner geworden ist. Es bricht keine Aufregung mehr aus, wenn der Name des nächsten Opfers offiziell bekannt gegeben wird.
Jede Nacht sind die Strassen wie leer gefegt und jede Nacht gibt es eine traurige Gestalt, die dennoch aus irgendwelchen Gründen hier draußen herumstreunt, so wie in dieser Nacht es mit Betty LaBlue der Fall war.
Sie hatte schlicht und einfach nicht mehr daran gedacht. Ihr Freund hatte sie heute verlassen. Ihr bei ihrem üblichen gemeinsamen Nachmittagskaffee erklärt, er müsse einen neuen Inhalt für sein Leben suchen. Einen neuen Sinn finden. Darum trennte er sich von ihr und darum ging sie spazieren. Lange und in tieftraurige Gedanken vertieft lief sie dem Fluss nach und irgendwann, ganz plötzlich dunkelte es ein und ihr dämmerte, wie spät es bereits war und nun war sie auf dem Weg nach Hause, in ihre sichere Wohnung. Ja, jetzt in diesem Moment fürchtete sie sich vor den Schatten, vor dem hinterhältigen Raubtier Mensch, das hier zu lauern und sich auf wehrlose Opfer zu stürzen pflegte.
Sie ging gerade durch die Seitengasse der Bäckerei, als sie ein lautes Scheppern vernahm. Betty LaBlue schrak zusammen. Sie schlang ihre Arme krampfhaft um ihren Bauch. Sie trug einen violetten Stoffmantel und eine schwarze Baskenmütze auf ihrem dunklen, schulterlangen Haar. Ihre Augen leuchteten ängstlich im Dunkeln auf. Mit schnellen Schritten lief sie weiter. Erneutes Scheppern brachte sie dazu, zu rennen. Schließlich vernahm sie sogar Schritte. Ist es zu spät?, fragte sie sich, bin ich tatsächlich das nächste Opfer?
Betty LaBlue lief bis zu dem Moment, wo sie zu erschöpft war und nicht mehr konnte. Sie nahm sich ihre Mütze vom Kopf und kauerte sich hinter eine Reihe von Mülltonnen, in der Hoffnung hier einen Moment ausruhen zu können.
Ihre größte Befürchtung trat ein und sie hörte von neuem Schritte. Das Tapsen von harten Schuhabsätzen wurde immer lauter und verriet das Näherkommen einer fremden Gestalt.
Als erstes erkannte sie einen nervösen Schatten. Nervös, weil sich der Schatten hin und herbewegte. Betty LaBlue spähte weiter durch eine Öffnung zwischen den Tonnen. Der Schatten blieb plötzlich stehen, der Kopf bewegte sich in alle Himmelsrichtungen. Am Umriss des Schattens konnte sie erkennen, das die Person einen Hut trug. Und nun folgte dem Schatten eine Stimme: „psst, hallo, ist da jemand?“, schien der Schatten zu flüstern. Es war eine jugendliche Mannenstimme, die Betty LaBlue hörte. Beinahe hätte sie ganz reflexartig geantwortet und konnte sich gerade noch selber davon abhalten. Der Schatten näherte sich weiter, bis der Schatten schliesslich der Gestalt in Fleisch und Blut wich. Es war ein junger Mann in schwarzem Sakko und weißem Hemd. Sein Filzhut hockte auf seinen langen, etwas fettigen Haaren und in seinem Gesicht fand sich eine dicke Brille, unter der sich das zarte Gesicht eines schüchternen Jungen verbarg.
„Hallo?“, wiederholte er nervös.
Sollte das etwa der berüchtigte Killer sein?, fragte sich Betty, der macht mir doch keine Angst!
Mit erhobenem Haupt stand sie hinter den Tonnen auf.
„Ja! Ich bin hier!“, antwortete sie mit kräftiger, selbstbewusster Stimme.
„pssst!“, machte der junge Mann, „sind sie denn verrückt. Ja wollen sie denn, dass der Killer uns findet?“
Mit sprunghaften Schritten näherte er sich Betty LaBlue. Er sah sich noch einmal flüchtig um und nahm schliesslich den Hut von seinem Kopf und machte vor der Dame einen Knicks.
„ich bin Henson Flack.“
Betty musste lachen, als sie die merkwürdige Krawatte sah, die er trug. Sie war aus Holz.
„Sie wissen doch hoffentlich, dass es gefährlich ist. So alleine hier in der Nacht.“
„Ich bin auf dem Weg nach Hause.“, antwortete Betty und der junge Mann namens Henson Flack sah sie nachdenklich an.
„Nun, meine Dame, ich würde ihnen gerne das Angebot machen, sie bis zu ihnen nach Hause zu begleiten.“
Betty sah ihn stumm an, dann meinte sie, „woher weiß ich denn, dass nicht Sie der Mörder sind?“
Die Augen von Henson Flack wurden groß. Er maß die Frau durch die dicken Gläser seiner Brille und Betty erkannte, wie dunkel seine Augen waren.
„Nun, da ist was Wahres dran.“, gab er nachdenklich zu, „dass ich ihnen mein Wort darauf gebe, reicht da wohl nicht aus.“
„Warum sind sie denn noch um diese Zeit auf den Strassen unterwegs?“, fragte Betty und brachte Henson Flack damit in Bedrängnis.
„Ich habe mich versehentlich selber aus meiner Wohnung herausgeschlossen.“, behauptete er geniert.
Beide sahen sich nachdenklich um, schliesslich fiel Henson Flacks Blick auf einen Stein am Boden vor seinem linken Schuh. Von einem Geistesblitz geleitet hob er den Stein auf und betrachtete ihn von Nahem. Betty LaBlue beobachtete ihn dabei stumm.
„Ich weiß jetzt, wie sie mir vertrauen können.“, sagte Henson Flack begeistert und begann mit dem Stein an die Wand neben sich in großen Lettern zu schreiben: „Heute,“, er schrieb das genaue Datum plus Uhrzeit hin, nachdem er sich auf seiner Uhr vergewissert hatte, „begleite ich, Henson Flack, Frau...“, er sah Betty LaBlue fragend an, die ihm daraufhin ihren Namen nannte, „Betty LaBlue zu ihr nach Hause.“
Zufrieden betrachtete Henson Flack sein Werk, nachdem er den Stein weggeworfen und sich die Hände abgeklopft hatte.
„Wenn mir etwas zustößt, werden alle sie für den Täter halten.“
„So ist es.“, antwortete Henson zufrieden, „Ach ja.“, er griff in seine Taschen und reichte ihr seinen Ausweis, „es soll ja alles seine Richtigkeit haben.“
Amüsiert lächelnd warf Betty einen kontrollierenden Blick auf den Ausweis und reichte ihn Henson zurück.
Daraufhin machten sie sich gemeinsam auf den Weg zu Betty LaBlues Wohnung.
„Ich mag diese Stadt wirklich.“, sagte Betty, nachdem sie schon eine Weile gemeinsam durch die Stadt marschiert waren.
„Es geht.“, antwortete Henson Flack nachdenklich, „nein, eigentlich mag ich die Stadt nicht besonders.“
„Weshalb?“, wollte Betty wissen. Henson Flack sah sich immer wieder um, auch jetzt, bevor er mit dem Blick auf den Boden antwortete: „Ich habe Probleme mit den Menschen hier, oder sie mit mir. Ich weiß nicht genau. Alle sind mir fremd, oder ich bin allen fremd. Wie mans dreht und wendet, das Resultat bleibt das selbe.“
„Haben sie eine Freundin?“
Henson Flack kicherte bitter: „Ich? Nein. Ich doch nicht. Wie im Himmel käme gerade ich zu einer Freundin, wo ich kaum einmal einen gerade Satz in der Gegenwart eines anderen Menschen über meine Lippen bringe.“
„Aber sie reden doch. Jetzt. Mit mir.“
Er sah ihr ins Gesicht, „nun ja, ja, das stimmt schon.“, er wirkte überrascht, „sie haben recht. Das ist merkwürdig.“
Sie liefen etwas weiter und dann begann Henson Flack zu erzählen: „Wissen sie früher, noch bevor dieser Mörder umhergegangen ist, liebte ich es nachts durch die Strassen zu wandern. So ganz alleine, wenn alles mucksmäuschenstill war und alles leer und verlassen schien. Dann fühlte ich mich richtiggehend frei und schwerelos. Ich benahm mich so, wie ich mich immer auch tagsüber benehmen wollte. Pfiff vor mich hin und schlenderte, drehte Pirouetten. Es sah mich ja niemand.“
Betty LaBlue lächelte, „Ich ging auch immer gerne nachts raus.“
Wieder verging eine Weile, bevor Betty LaBlue meinte: „Ich arbeite als Dekorateurin, was ist ihr Beruf?“
„Ich bin Clown und Zauberer. Nun meine Leidenschaft zumindest ist diesen beiden Tätigkeiten gewidmet, doch eigentlich verdiene ich mein Brot als Schreinergehilfe.“
Sie gingen wieder stumm einige Schritte und plötzlich schrie Betty LaBlue auf und knickte seitwärts zu Boden.
„au!“
Schnell kniete sich Henson Flack neben sie.
„Was ist mit ihnen?“, wollte er besorgt um ihr Wohl wissen.
„Mein Fuß. Ich bin umgeknackst.“, antwortete sie.
Ihr ach so hübsches Gesicht war schmerverzerrt.
„Wir können nicht hier bleiben.“, bemerkte Henson Flack ängstlich.
„Aber ich kann mit dem Fuß nicht gehen.“, klagte Betty.
„Dann trage ich sie.“
„Sie? Das geht nicht.“
„Natürlich.“, behauptete Henson Flack, „steigen sie auf meinen Rücken.“, er drehte sich von ihr weg und bückte sich. Betty LaBlue kraxelte auf seinen Rücken, was sich mit nur einem Fuß als äußerst schwierig herausstellte.
Sofort geriet Henson Flack ins Schwanken. Sie kamen sechs Schritte voran, bevor er sie wieder abwarf.
„Au!“, schrie sie erneut und Henson Flack drehte sich entschuldigend zu ihr.
„Tut mir leid.“, enttäuscht sagte er, „sie sind zu schwer. Ich meine, ich bin zu schwach.“, er war ganz außer sich.
Betty LaBlue sah sich um, sie glaubte, Schritte gehört zu haben.
„Vielleicht wird sich der Mörder gar nicht erst an uns heranwagen. Wir sind zu zweit. Ich habe noch nie davon gehört, dass er Paare angegriffen hat.“, versuchte Henson Flack die Lage zu beruhigen.
„Ich schon.“, enttäuschte ihn Betty LaBlue.
Nach einer Weile stand sie mühsam auf und gestützt auf seine Schultern humpelte sie mit ihm weiter durch die Strassen. Immer wieder glaubte einer von beiden etwas zu hören. Es war eine schreckliche, fast schon aussichtslose Situation.
Und dennoch, gerade in dieser Nacht tauchte der Killer nicht auf. Henson Flack brachte Betty LaBlue sicher nach Hause, oder umgekehrt, so genau lässt sich das in diesem Fall nicht sagen.
Der geehrte Leser wird möglicherweise an dieser Stelle der Geschichte wutentbrannt aufspringen und schreien: „So ein Humbug!“, oder einfach enttäuscht von diesem unspektakulären Ende einer vielversprechenden Geschichte sein, denn, hier sei es verraten, es wird zu keinem großen Endkampf mehr kommen. Der Täter wird vorerst nicht auftauchen und sowohl für Henson Flack, wie auch für Betty LaBlue ist damit der ganze Schrecken schon zu Ende. Also keine große finale Konfrontation zwischen Gut und Böse. Der Mörder seinerseits war an diesem Abend nämlich verhindert. Eine Magenverstimmung hatte ihn dazu verdammt zu Hause zu bleiben, meist mit dem Gesicht über der Kloschüssel gebeugt. Danach trieb er noch einige Wochen sein Unwesen und dezimierte fröhlich weiter vor sich hin, bis er an einem Sonntagabend plötzlich gefasst wurde. Ein Versehen, muss man dazu sagen, er stolperte ungeschickt bei der Verfolgung zweier Lausbuben, die sich heimlich von zu Hause weggeschlichen hatten, und sich schliesslich mit dem Werfen von Steinen zur Wehr setzten. Der Mörder brach sich den linken Fuß und wurde schliesslich festgenommen, nachdem die Kinder erfolgreich um Hilfe geschrieen hatten.
Ein komischer Kerl dieser Mörder. Er sah eigentlich ganz unscheinbar aus. Doch niemand wollte ihn kennen, als sein Bild veröffentlicht wurde. Obwohl es sich hierbei um eine kleine Stadt handelt, stritt jeder Mann und jede Frau jeglichen Kontakt zu diesem „Fremden“ ab und da der Mörder selber nicht zum Reden bereit war, konnte niemand jemals etwas über ihn in Erfahrung bringen. Weder, wie er hieß, noch wie alt er war oder irgendetwas sonst.
Wer nun trotz des unspektakulären Endes doch noch immer der Geschichte bis hier hin gefolgt ist und auch diese paar letzten Sätze noch lesen will, dem möchte ich noch verraten, wie es mit Betty LaBlue und Henson Flack ausgegangen ist. Wer denkt, sie seien nun ein Liebespaar (wenn schon kein Kampf zwischen gut und böse, dann zumindest eine romantische Liebesgeschichte), der sei hiermit bereits zum zweiten Mal enttäuscht, denn zwischen den beiden wuchs nur eine sehr enge Freundschaft heran. Doch, was heißt, da bitteschön „Nur“. Eine Freundschaft wie diese kann mit keinem Geld der Welt gekauft werden. Betty LaBlue verhalf Henson Flack zu seinen ersten Freunden und stellte ihn auch ein paar netten Mädchen vor. Tatsächlich habe ich Henson Flack gerade letzte Woche mit einem Blumenstrauß in der Hand, pfeifend und Pirouetten drehend die Strasse hinabschlendern sehen. Es heißt, er habe sogar schon den ersten Kuss auf die Wange bekommen.
Nun, hiermit beende ich diese kleine ach so unspektakuläre Geschichte, die doch so vielversprechend begonnen hatte und wünsche all meinen Lesern eine wundervolle und rührselige Zeit.
Ende