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Ein kluger Buchhalter

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07.05.2005
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Ein kluger Buchhalter

Ich bin ein Buchhalter, dem die Welt zu Füßen lag.

Man sollte zum Beruf des Buchhalter nicht zuviel sagen: Spannend ist die Arbeit wirklich nicht. Aber halt, einige wissen sicher nicht, worin die Kunst des Buchhaltens besteht. Ich halte es kurz:

Man verfügt über eine beeindruckende Anzahl an Tabellen, die - in der benötigten Kürze - als großes T angedeutet werden. Das Ziel und gleichzeitig das Wundersame an der Technik ist es, dass man einen Wert an allen möglichen Positionen einfügen kann, man muss es jedoch immer einmal auf der linken und einmal auf der rechten Seite tun. Es darf kein einziger Schritt vergessen werden.

Wenn man dies berücksichtigt, kann man sich daran erfreuen, am Ende jede Tabelle zu beschließen, die Werte zusammenzuzählen und zu vergleichen, ob sie gleich sind, links und rechts. Denn gleich müssen sie sein, und ist das der Fall, gibt es keine größere Freude für einen echten Buchhalter. Alles wurde erledigt.

Ich hatte also eine Idee, und wie sie kam, werde ich nie herausfinden, denn sie ergriff mich mitten in der Nacht. Ich saß plötzlich aufrecht im Bett, riss die Decke von mir und rannte an den Schreibtisch um ein neues Blatt Papier zu nehmen. Ich trug den ersten Wert ein. Mein Herz stampfte, es wusste, dass etwas Bemerkenswertes vor sich ging.

Ich trug einen Kreis hinter die Zahl ein. Nach diesem Schritt war ich wie benebelt. Ich fuhr immer weiter fort, hinter jede Zahl kam dieser Kreis, immer korrekt, links und rechts. Es musste fast eine halbe Stunde gedauert haben, ich hatte mir eine schwierige Vorlage gewählt. Doch dann kam ich auf das Ende zu. Ich addierte die beiden Seiten. Es stimmte.

Niemand applaudierte, aber in mir und über mir jubelte die ganze Welt. Für mich, weil ich es als erster gewagt hatte. Natürlich, was ich „einfach“ gemacht hatte, war, hinter jede Zahl das gleiche Symbol zu setzen. Aber es war viel mehr: Ich hatte das Regelbuch genommen und hatte es verworfen, ich war nicht mehr gefolgt, ich hatte meine eigenen Gesetze geschaffen, der unendlichen Logik folgend.
Aber ich wollte nichts überstürzen. Mehrere Monate ließ ich die Entdeckung im Schrank liegen, führte meine Lohnarbeit fort, ohne jemand davon mitzuteilen, ich musste meine geistige Ruhe wiedergewinnen, um fortzufahren.

Lange konnte ich mich nicht von der Forschung trennen, und ich kam zurück. Ich war vorsichtig, setzte einen Punkt ein. Auch das war erfolgreich.
Lange – diese Phase nenne ich die „kindischen Anfänge“ – probierte ich andere Zeichen durch. In der Bibliothek half man mir, ein Buch mit allen möglichen Symbolen zu finden. Sehr viele davon habe ich verwendet, aber natürlich bei jedem Versuch nur ein Zeichen. Ich freute mich nur kurz über diese Vielfalt, denn ich wurde ganz jäh, ohne Vorwarnung, in neue Sphären der Entdeckung geworfen.

Ich spielte damals, etwas müde von der vielen Schreibarbeit, mit meiner Geldbörse, aus der unverhofft ein kleines Pfennigstück auf die Tabelle fiel. Ich war elektrisiert. Konnte das denn sein? Ja, natürlich, wie brillant! Ich suchte in meinem Geldbeutel und danach im ganzen Haus, um genug gleiche Pfennige zu finden. Ich legte sie auf die Tabelle, immer wieder, links und rechts. Es ging auf, auf beiden Seiten sah man dieselbe Summe, und die Pfennige standen stumm daneben, von allem wenig verstehend.

Ich schritt immer weiter voran. Viele Jahre habe ich mich damit beschäftigt, wenig wurde noch nicht versucht: Ich habe Bilder von Menschen eingeklebt, vorher vervielfältigt, besonders Bilder von Kindern, ich habe Tiere, Gedanken, Bücher und Musik betrachtet. Ich habe gesessen und Welten addiert.

Unendlichkeiten sind leise an meiner Hand vorbeigezogen und sie alle haben sich letztendlich der Logik ergeben müssen. Ich thronte über der Welt, zu meiner Rechten die Logik, der unentbehrliche Helfer. Zu meiner Linken die Vernunft, der Kriegsherr, der für mich die Welt auseinander gerissen hatte.
Dann setzte ich mich selber (ich nahm ein Bild aus meiner Jugend) ein. Die Rechnung ging auf, auch ich war also eingeordnet. Rechte und linke Hand hatten sich verschworen, ich war vom Thron gestoßen. Es konnte keine Fortsetzung geben, mein Lebenspfeil zeigte nach unten.

Bevor Schlimmes passieren würde, musste ich meine Idee retten. Auf mich kam es nicht an, aber mein Lebenswerk mit mir zu nehmen, hätte mir nicht zugestanden. Die anderen Menschen hatten ein Anrecht darauf.

Wen würde ich anrufen? Ein Professor müsste es schon sein. Ich erkundigte mich also nach der Universität. Der Herr am Telefon war dort sehr freundlich, zur Buchhaltung gäbe es zwar keinen Professoren, aber einen äußerst kompetenten Mitarbeiter, mit dem ich sicherlich einen Termin vereinbaren könnte. Dies tat ich auch, und bald trat ich meinen Weg an. Zum ersten Mal seit langer Zeit konnte ich wieder anschauen, was um mich herum geschah. Es war wohl Herbst, ein schöner Herbst. Ich konnte es daran sehen, dass die Bäume zwar voll von Blättern waren, diese waren aber schon braun.

In diesem Herbst lag die Universität und im dritten Stock begrüßte mich der Experte, der Buchhaltungsmeister. Ich konnte ihn kaum zurückgrüßen und platzte mit meiner Idee heraus. Ich hatte, in einer großen Tasche, viele beschriebene Versuche mitgenommen. In meinem Tagebuch hatte ich alle Objekte beschrieben und protokolliert. Schon nach wenigen Sekunden schaute er mich zweifelnd an: „Aber da könnte man doch Alles nehmen, zum Beispiel irgendeinen Buchstaben?“

Ich war verstört. Ja, das war möglich, aber mich hatte es doch mehrere Monate gebraucht, um soweit zu kommen, neben den Symbolen auch Buchstaben zuzulassen. War er ein noch größeres Genie? Oder war meine Idee schon auf anderen Wegen bekannt geworden? Ich musste ihm antworten: „Aber ja, Sie haben Recht“.

Er lachte lange, er schien fröhlich zu sein: „Sie, das ist ein lustiger Gedanke. Aber eigentlich doch eher eine dumme Spielerei, wie sie Fünfjährige machen“. Er schaute mir tief in die Augen, er brannte sich in mich hinein. War es das wirklich? Hatte ich all diese Jahre nur verschenkt an einen kindischen Gedanken? Nein! Oder vielleicht doch, vielleicht ja? Soviel Schmerz in zwei Buchstaben? Als das Wort sich vor mir aufbaute, musste ich ausweichen. Raus hier!

Ich sprang über Buchstabensplitter, stolperte über den Herbst hinweg, stocherte mit dem Schlüssel in der Tür, stand in meinem Flur und – es hatte nicht geholfen. Ich wurde ohnmächtig. Dumpfe Gedanken bohrten sich in meinen Kopf, erst schmerzte es, dann aber brach alles auseinander. In dieses Loch fielen alle T-Konten, alle Zahlen, alles, was ich sonst für Ideen gehalten hatte. Dann war es still.

Ich schlug die Augen auf. Auf meinem Küchentisch lag ein Geldstück, es blinkte ganz schüchtern, als könne es nicht anders. Ich musste lächeln.

 

Hi Golio,

danke fuer deine Meinung. Ich habe weniger interpretiert, als ich geschrieben habe, und ich weiss nicht, ob die Geschichte eine Lehre hat, jedenfalls habe ich keine beabsichtigt. Aber es schadet sicher nicht, wenn andere eine Lehre darin sehen!

Christian

 

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