Was ist neu

Ein Leben lang

Seniors
Beitritt
19.03.2003
Beiträge
1.883
Zuletzt bearbeitet:

Ein Leben lang

Ein Leben lang

Sie liegt auf dem Rücken. Der schmutzige Fußboden unter ihr ist übersät mit Kellerasseln. Sie zieht Fliegen an. Man sieht sie deutlich im Gegenlicht der Tür.
Ihre Arme und Beine sind gefesselt. Die Haut an den Handgelenken ist blutig.
„Wirklich, Hanne!“, sagt Hannes Arbeitskollege Rudi. „Das ist abscheulich.“
Hanne schließt die Augen, um das Foto nicht mehr zu sehen.
Aber das funktioniert nicht. Sie sieht das Mädchen, wie es weint. Die Tränen laufen über das schmutzige Gesicht und hinterlassen Spuren. Sie weint still, hat aufgegeben. Ab und zu hört man einen tiefen Schluchzer, der von innen kommt.
Den der Angstwurm in ihr herauswürgt.
Die Unterhosen des Mädchens sind voll Urin und Kot.
Und voll Blut.
„So ein Unhold“, hört Hanne Rudi sagen, „gehört für immer weggesperrt!“
Hanne will die Bilder nicht mehr sehen, schließt energisch die Akte. Ein dicker Kloß klebt in ihrem Hals.
Theo nimmt die Akte aus ihren Händen. Sein Gesicht glüht vor Eifer.
„Ich werde es den anderen zeigen. Mal sehen was sie sagen.“
Ekel rumort in Hannes Magen. Sie möchte raus aus diesem Büro.
Sie will die Fortsetzung der Empörung nicht ertragen.
Das tote Mädchen kann sich nicht mehr wehren, wenn alle es anstarren.
Muss sich deren Blicke gefallen lassen.
Wo sie doch schon genug gelitten hat.
Dort im Dunkeln auf feuchtem Boden.
Vorne in der Registratur stecken sie die Köpfe zusammen. Betrachten das Mädchen.
Ihre weit gespreizten Beine.
Hanne hört, wie sie ihre Empörung abspulen, den Täter verurteilen und bestrafen.
Ihre Ohren klingen in einem hohen Ton.
Sie versteinert. Sie kann es selbst fühlen. Deren Sensationslust brennt auf ihrer nackten Haut. Sie meinen es nicht böse. Sie waren nicht dabei. Können nicht verstehen.
„Wie furchtbar“, hört sie.


„Furchtbar, wie du heute aussiehst“, sagt Hannes Mutter.
„Kannst du dich nicht richtig anziehen?“
Hanne ist richtig angezogen. Sie trägt einen weiten Pulli zu langen Hosen.
Ihre Mutter schüttelt den Kopf.
„Wozu kaufe ich dir all die Kleider, wenn du sie doch nicht trägst!“
Hanne weiß nicht, was sie sagen soll. Sie mag die Kleider nicht, die ihre Mutter so liebevoll ausgesucht hat. Sie möchte ihrer Mutter gefallen. So wie sie ist. Nicht ausstaffiert wie eine Puppe. Sie sieht die Missbilligung der Mutter, deren Mund fast wie ein Strich ist.
Aber warum kauft ihre Mutter all diese Sachen für sie, denkt sie jetzt ein wenig rebellisch. Sie will sie doch nicht! Laut sagt sie: „Ich muss los, Mama.“
Schnell schnappt sie sich ihren Rucksack und will hinausrennen. Durch den dunklen Flur. In den hellen Hof. Dort wo die Luft nicht muffig ist.
„Aber dein Frühstück!“, hallt es noch hinter ihr her.
Hanne tritt kräftig in die Pedale. Ihr Fahrrad ist schon alt. Ohne Gangschaltung. Sie wohnt am Berghang einesTals. Die Schule befindet sich im nächsten Ort auf der gegenüberliegenden Seite. So muss sie erst bergab zur Talsohle und dann wieder bergauf radeln.
Es gibt noch einen anderen Weg, der nicht so mühselig ist. Am Fluss entlang. Doch die Straße ist stark befahren. Nur ein schmaler mit weißem Strich gekennzeichneter Streifen grenzt ihn von der Fahrbahn ab. Hannes Mutter will nicht, dass Hanne dort fährt. Sie hat Angst, Hanne kommt dort unter die Räder eines Lastwagens.
Endlich ist Hanne in der Schule. Sie sitzt im ihrem Klassenzimmer zusammen gepfercht mit dem geburtenstarken Jahrgang der 10c.
Hanne sitzt ganz hinten. Die stickige Luft verursacht ihr Kopfschmerzen. Sie weiß nicht was sie sagen soll, als Herr Schwarz ihr eine Aufgabe stellt.
„Also weißt du, Hanne. So geht das nicht. Ihr habt bald Prüfung. Willst du denn durchfallen?“, hält er ihr vor.
Natürlich hat Herr Schwarz Recht. Hanne will nicht durchfallen. Aber was soll sie machen, wenn ihr Kopf doch so weh tut.
„Entschuldigung, Herr Schwarz“, sagt sie. „Mir ist nicht gut. Ich habe meine Periode.“
Sie sieht Herrn Schwarz rot im Gesicht unter seinen gelblichen Pusteln werden.
Freundlich sagt sie: „Es wäre nett, wenn Sie mir nach der Stunde alles noch mal erklären könnten.“
Wozu fragt sie ihn das? Bestimmt nicht, weil sie seine Nachhilfe benötigt. Nein. Sie will ihn verlegen machen. Ihm zeigen, wie unbeliebt er ist.
Die Schüler kichern. Die gelben Pusteln möchten platzen, so prall ist die rote Haut darunter.
Herr Schwarz ist noch unerfahren. Mit pubertären Teenagern kann er nichts anfangen. Er verhaspelt sich, als er zur Ruhe auffordert. Gott sei Dank unterbricht das Klingeln seine erfolglosen Bemühungen. Die Schüler stürmen hinaus. Einzig Hanne wartet noch im Klassenzimmer. Keck streckt sie ihre Brüste heraus, als sie an ihm vorbeigeht.
Herr Schwarz sieht ihr nach, sagt aber nichts mehr.

„Dem hast du es aber gegeben“, empfangen Gaby und Regina sie.
„Hast du seinen Kopf gesehen? Seine Akne blüht heute besonders schön“, hänselt Gaby.
„Ich werde ihm mal mein Clearasil aufs Podest legen!“, kichert Regina.
Hanne lacht mit. Sie hat dieses Jahr schon zwei Tadel im Klassenbuch wegen Frechheit eingetragen bekommen. Einen dritten Tadel kann sie sich nicht mehr leisten. Aber Herr Schwarz trägt niemals Verweise ein. Der ist komplexzerfressen.
Daher muss er öfters herhalten, wenn es mit Hanne durchgeht.

Wenn sie den Mief nicht mehr erträgt.
Wenn es sie hinauszieht in die Welt außerhalb ihres Tales.
Wenn sie aus dem liebevollen Gefängnis ihrer Mutter ausbrechen möchte.

Seit ihr Vater tot ist, klebt die Liebe ihrer Mutter an ihr, wie zäher Morast.
Er lässt ihr keine Luft. Weil das so ist, wird Hanne störrisch, wie ein Esel.
Alles was die Mutter sagt, wird in den Wind geschlagen. Nichts kann die Mutter ihr recht machen. Dabei ist sie doch so liebevoll. Kocht wunderbares Essen. Spätzle mit Hirschragout oder Klöße mit Rotkraut. Hanne muss alles aufessen, damit die Mutter nicht weint. Hinterher geht sie auf die Toilette. Steckt sich den Finger in den Hals. Befreit sich von der Fürsorge.
Hanne ist dünn, nicht wie ein Strich, aber knabenhaft schon. Als sie Herrn Schwarz erzählt hat, sie hätte ihre Periode, ist es eine Lüge gewesen. Glatt ist sie über ihre Lippen gekommen.
Lügen sind Hannes Spezialität. Ohne diese käme Hanne nicht aus der Obhut ihrer Mutter heraus.
Statt beim Flötenunterricht zu sein, gammelt sie im Stadtpark des Kreisstädtchens. Lungert herum bei den anderen, die nicht wissen, was sie tun sollen.
Die Jungs geben an und die Mädchen kichern. Blicke werden verstohlen ausgetauscht. Hanne hat auch schon einen Jungen geküsst. Nicht richtig natürlich.
Nur die Lippen auf seine gepresst. Sie möchte gerne geküsst werden, so wie es sein soll: Die Zunge tief im Mund.

Als die Schule endlich zu Ende geht, will Hanne schnell nach Hause radeln. Es ist heiß. Bald sind Sommerferien. Hanne freut sich darauf. Mehr als einmal am Tag denkt sie daran, ihren Großvater zu besuchen. Er wohnt am Meer. Ist so gänzlich anders als ihre Mutter. Bietet der Einhalt, wenn sie Hanne zu sehr bevormundet.
Die Mutter sträubt sich, dorthin zu fahren. Weiß einfach, Hanne liebt ihn sehr. Fühlt Eifersucht, weil es ihr Vater ist, der sie nie so geliebt hat, wie jetzt sein Enkelkind.
„Es ist zu weit weg“, sagt sie.
„Mit dem Zug nur acht Stunden“, bettelt Hanne.
Die Mutter gibt nach. Schuldbewußt denkt sie, vielleicht tut es ihr gut, wenn sie vom Großvater verwöhnt wird.
In Gedanken packt Hanne ihren Koffer für die Reise. Sie bemerkt es nicht, als sie oben am Berg durch Scherben fährt. Scherben, die ihren Reifen zerschneiden.
Auch das noch! Ein Plattfuß!
Sie will das Fahrrad schieben, aber der Schlauch löst sich von der Felge und stoppt das Rad am Schutzblech. Hanne muss es erst reparieren. Sie hat kein Flickzeug dabei! Hanne schmeißt ihr Rad über den Feldrain. Sie hat es so satt, in der Hitze zu stehen. Unten schlängelt sich im Tal der Fluss. Daneben führt die Straße. Ich werde den Weg auf der Straße nehmen, beschließt sie. Und schon ist sie wieder obenauf.
Das Fahrrad könne sie später holen. Besser noch: Die Mutter würde ein neues mit Dreigangschaltung kaufen.


„Man hat zuerst ihr Fahrrad gefunden“, echot es von vorne aus der Registratur.
Corinna sagt:„Die armen Eltern.“
„Hast du das gelesen?“, ertönt es.
„Was denn?“, fragt eine aufgeregte Stimme.
„Der Täter hat schon mal eine geschändet. Saß im Gefängnis.“
„Seht mal hier. Ihre Eltern am Fundort!“

Warum nur sehen sie sich diese Bilder an. Hanne versucht es doch auch zu vergessen. Es geht sie doch nichts an. Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft soll doch nur den Anspruch der Eltern auf die Lebensversicherung beweisen.
Nur deshalb wird sie angefordert. Vertraulich!
Natürlich versteht sie deren Betroffenheit. Es ist auch schlimm für die Eltern.
Zu wissen, dass ihr Kind geschändet wurde, bevor es sterben musste.

Ihr Tod ist gewiss Albtraum genug.
Aber der Albtraum wird schrecklicher.


Hanne läuft an der Straße entlang. Sie will nach Hause, als ein Auto neben ihr hält.
Es ist Herr Schwarz, der sie fragt: „Soll ich dich mitnehmen?“ Sie steigt ein. Ihr Mathelehrer fragt: „Soll ich dir Nachhilfeunterricht geben?“
„Worin denn?“ fragt sie übermütig. Legt ihre Hand auf seinen Oberschenkel.
Herr Schwarz nimmt ihre Hand von sich herunter. „Lass den Unsinn, Hanne“.
„Warum denn?“ Ganz tief in Hanne wächst etwas heran. Es ist eine Hitze, die sich über ihre Beine ausbreitet. Sie fühlt, wie sie ihr nachgeben möchte. Sie spreizt ein wenig ihre Beine. Herr Schwarz ist unaufmerksam geworden. Fast hätte er die Ausfahrt zu Hannes Haus übersehen. Er muss scharf abbiegen, um die Kurve zu nehmen. Hanne fällt gegen ihn. Mit dem Gesicht auf seine Brust. Sie riecht seinen Schweiß unter den Achseln. Ein fremder Geruch und faszinierend. Sie bleibt länger als nötig, dort liegen. Sie wünschte, er würde sie küssen. Das tut er natürlich nicht. Er ist doch ihr Lehrer. Aber seine Hose zeigt Hanne deutlich eine Wölbung. Als Herr Schwarz ihren Blick darauf bemerkt, wird er wieder rot. Seine Pickel stören Hanne auf einmal nicht mehr. Im Gegenteil: Sie findet ihn süß, möchte ihre Zunge in seinen Mund stecken. Ganz tief bis dorthin, wo der Brechreiz beginnt.
Vor ihrem Haus steigt sie aus. Winkt ihm nach, als er davonbraust.


Ihr Geburtsdatum ist der 15. April gewesen. In der Geburtsurkunde stand:
Maria Höfert, geboren in München.
Eltern: Die Krankenschwester Isolde Höfert geb. Braun und der Tischler Hans Höfert.
Maria ist deren einziges Kind.

Sie sitzen vor Hannes Schreibtisch. Gefasst beantragen sie die Auszahlung der Versicherungssumme. Die Beerdigung soll ihrer würdig sein. Kostet Geld.
Geld, was sie nicht haben, da der Vater schon lange arbeitslos ist. Er weint.
Seine Frau streichelt ihn über den Rücken. Auch ihre Augen sind ganz verquollen.
„Mit diesem Geld sollte unsere Maria einmal studieren, wissen Sie“?, erklären sie Hanne.
Nein, sie weiß es nicht. Woher auch? Diese Menschen, die da vor ihr stehen, sind ihr unbekannt. Erst diese Versicherungspolice hat sie zusammengeführt. „In der Regel sollen die Menschen ihre Versicherung ja erleben, nicht?“, sagt Herr Höfert mit einer Stimme, die Hanne unter die Haut geht.
Ihre Haare stellen sich auf, als sie der Stimme weiter zuhört.


Ihre Haare stellen sich auf, als seine Zunge mit ihrem Ohr spielt, sanft leckt. Ihre Spitze, drängt sich zwischen Lippen durch Zähne hindurch. Ihr Mund öffnet sich weit, genießt, wie sie sich vortastet bis an die Gaumensegel. Statt zu würgen, schluckt sie seinen Speichel, stößt ihre Zunge in seinen Mund. Hanne ist gespannt wie ein Bogen. Seine Hände wandern über ihre Hüften, streichen behutsam die hervorstehenden Beckenknochen. Sein Becken reibt sich an ihrem. Sie fühlt seine feuchte Gliedspitze zwischen ihren Schenkeln, seine Lippen fest um ihre Brust. Saugen ihre Gier heraus, die sie aufbäumen lässt, als er in sie eindringt, seine Schwere auf ihr liegt. Sie will ihn ganz. Tief hinein soll er zu ihr kommen. Sein Gesicht glänzt. Schweißtropfen rinnen über seine Brust auf ihren Nabel. Sie setzt sich auf, leckt seinen Schweiß von der Haut. Er schmeckt salzig. Sie fühlt seine Stöße schneller werden. Sie mag es so, presst seinen Unterleib mehr an sich. Mit einer Kraft, die sie ihm nie zugetraut hätte, schneidet er ihre Seele aus dem Körper. Sein Samen spritzt in sie. Sie fühlt sein Pulsieren und ist glücklich.
Glücklich, ihn in sich zu haben. Ihn zu fühlen. Ihm nahe zu sein.
Zärtlich streicht sie über seine Narben, die sein Gesicht entstellen.
Sein Samen findet den Weg, den nie zuvor ein anderer beschritten hat.
Er durchdringt die zarte Haut der einen Zelle, vermischt sich mit ihr. Sie teilen sich, immer wieder, bilden einen Strudel in der Zeit.

Hanne bemerkt ihre Schwangerschaft nicht. Da sie ihre Periode noch nicht gehabt hat, ist sie in ihrer Verliebtheit auch blind. Natürlich darf keiner von der Beziehung erfahren. Ihre Mutter nicht und auch ihre Schulfreunde nicht. Ihr Geheimnis prickelt, macht sie lebendig und schöner. Ihre Mutter freut sich, als Hanne runder wird. Endlich, denkt sie, ist Schluss mit dem ewigen Hungern. Hanne will auch nicht mehr zum Großvater fahren. Sie spielt viel Flöte in der Kreisstadt. Sie üben für eine Aufführung, hat sie der Mutter erzählt.

Es passiert auf einem Schulausflug. In München. Sie waren im deutschen Museum.
Hanne hat plötzlich Bauchschmerzen. Ihr ist ganz flau. Schnell geht sie auf Toilette.
Die Schmerzen ziehen am Rücken entlang. Hanne hat das Gefühl, sie bekommt starken Durchfall. Sie presst. Etwas Glitschiges rutscht aus ihr heraus. Instinktiv fängt sie es auf. Sie kann nicht fassen, was sie in Händen hält. Was soll sie tun. Sie beißt mit den Zähnen die Nabelschnur durch, verbirgt das Kind unter ihre Bluse. Sofort schnappt der kleine Mund nach ihrer Brustwarze. Während das Kind saugt zieht die Gebärmutter sich noch einmal zusammen, etwas rutscht noch einmal aus Hanne heraus in die Toilette. Hanne läuft mit dem Kind aus dem Museum. Sie rennt. Weiß nicht wohin. Dann legt sie es vor eine Haustür und klingelt.
Gott sei Dank ist Fön. Dann wird es nicht erfrieren, denkt sie noch, als sie verschwindet.
Hanne schleicht sich zurück zur Jugendherberge. Noch ist keiner zurück. Sie säubert sich, beseitigt alle Spuren.
Als ihr Mathelehrer sie später fragt, wo sie gewesen sei antwortet sie: „Ich war hier Herr Schwarz. Ich hatte Bauchschmerzen."
Ich habe meine Regel bekommen, erklärt sich Hanne das viele Blut, das zwischen ihren Beinen hervorquillt. Sie fühlt ein bischen Stolz, als sie im Supermarkt Binden und Tampons einkauft. An das Kind denkt sie nicht.


Hanne ist übel als sie der Stimme weiter zuhören muss. Es ist wie ein Krampf ihrer Eingeweide. Sie versucht den Schmerz zu ignorieren. Verschwommen sieht sie auf ihrem Schreibtisch das Foto in der Akte.
Marie liegt auf dem Rücken. Der schmutzige Fußboden unter ihr ist übersät mit Kellerasseln. Sie zieht Fliegen an. Man sieht sie deutlich im Gegenlicht der Tür.
Ihre Arme und Beine sind gefesselt. Die Haut an den Handgelenken ist blutig.

Die Stimme erzählt: „Wir konnten keine eigenen Kinder bekommen. Marie wurde uns durch einen Engel gebracht. Man hat sie vor unsere Haustür gelegt. Meine Frau hat sie gefunden. Wir sind mit ihr ins Krankenhaus gefahren. Ein Neugeborenes. Ganz winzig, wie ein Püpchen sah sie aus. Sie hat uns angelacht, als wollte sie sagen: ich bin ein Geschenk Gottes an Euch."
Herr und Frau Höfert weinen. Sie halten sich an den Händen fest.
„Die Fürsorge erlaubte uns, das Kind in Pflege zu nehmen. Später haben wir sie dann adoptiert.“

Hanne weint mit. Sie denkt an ihr Kind. An seinen Mund, wie es an ihrer Brust saugt.
An einem 15.April im deutschen Museum.

 

Hi mac, :)
danke schön fürs Lesen - und fürs Ausgraben.
Diese Geschichte ist die erste, die ich letztes Jahr nach einer Schreibpause geschrieben habe. Ich muss sagen, die Pause habe ich gebraucht, um mich stilistisch weiter zu entwickeln und daher freue ich mich, wenn du zum Stil nichts auszusetzen findest.

Es wird so erzählt, daß die beiden Parallelhandlungen erst am Ende zusammenkommen.
Dies erschwert dem Leser die Erfassung der Geschichte beim ersten Lesen.

Ich wollte es auch so. Vater dieses Gedanken ist gewesen, dass der Leser gezwungen wird, am Text mitzuarbeiten. Der Spannungsbogen sollte so aufgebaut sein, dass die Lösung erst am Ende präsentiert wird, bzw. dann erst der Schlüssel zur Lösung geliefert wird. Es ist ein psychologischer Aspekt, der meine Intention geleitet hat. Heute sehe ich es schon etwas ähnlich wie du -mit anderen Augen. Als die Geschichte entstand, fand ich das ineinander verwobende Schicksalsgespinst ist ein wichtiges Element, die Intention darzustellen. Es war mir so wichtig, dass ich sogar die einfache Lösung, den Parallelstrang in Kursiv zu setzen, einfach nicht wollte.
Durch das aus meiner Sicht teilweise willkürliche Setzen von Absätzen, ist es teilweise schwer erkennbar, welche Ebene gerade beschrieben wird. Die Absicht, bestimmte Parallelitäten anzudeuten
-> die aufstehenden Haare
-> das Fahrrad
sind für mich nicht nachvollziehbar und tragen eher dazu bei, die Verwirrung zu steigern, als evtl. die Verbindung zwischen Mutter und Kind zu zeigen.

Ich sehe sie natürlich nicht als willkürlich an, da ich der Meinung gewesen bin, die Parallelität rethorisch zu untermauern. Natürlich muss ich es mir gefallen lassen, wenn du sagst, dass die Verwirrung dadurch noch gesteigert wird. Als Autorin stecke ja drin in der Geschichte und aus meiner Sicht wollte ich es spannend machen, den Leser neugierig machen und dazu verführen bei der Stange zu bleiben.
Persönlich bevorzuge ich auch Texte, die es mir schwer machen. ;)

Die Geschichte könnte gewinnen, wenn zumindest beim zweiten Lesen bereits oben weitere Parallelitäten offenbar werden, die sich nicht nur in ähnlichen, aber willkürlichen Bildern äußern, sondern evtl. in gleichen Verhaltensmustern.
Das ist ein Ansatz, den ich aus dem Bauch heraus nicht passend finde. Die Aussage der Geschichte wäre in meinen Augen total verfälscht.
Ich weiß, es ist schwer, weil die Biographie von Marie nur über die Eltern und durch die Akte hindurchschimmert, aber es würde aus meiner Sicht, etwas klarer.
Gerade dieser Zufallsaspekt kommt als wichtiges Argument zum Tragen.
Denn so habe ich am Ende zwei Geschichten gelesen, die eigentlich zufällig verbunden sind und ich frage mich, was Du mir damit sagen willst, außer: Solche Zufälle gibt es also.
Dieser Rückschluss ist natürlich dürftig und ich sehe ein, dass dir etwas noch fehlt, um meinen Gedanken aufzunehmen.

Ich habe mir vorgestellt, dass Hanna alles, was die Schwangerschaft und die Geburt betrifft, verdrängt hat. Für verdrängte Traumata ist es typisch, dass bestimmte Anlässe, sie wieder aus dem Unterbewußtsein holen. Das Foto in der Akte, der Inhalt, als Hanne den Fall bearbeitet, sollte ihre Erinnerung wachküssen. Offen sollte bleiben, ob Marie tatsächlich ihr Kind ist. Wichtig war nur, dass sie zum ersten Mal den Verlust des Kindes betrauern konnte.

Ich finde die Idee ausbauwürdig...

All das was du schreibst finde ich wirklich gut. Es ist der Stoff für einen Roman, den ich in der Zei,t wo diese Geschichte entstand noch nicht hätte schreiben können. Jetzt könnte ich es mir vorstellen, daraus mehr zu machen.
Danke für diese lieben Worte, die sehr ausführliche Kritik.
So etwas hilft mir sehr.
Liebe Grüße
Goldene Dame

 

Servus Goldene Dame!

Dies ist eine der Geschichten, deren ursprüngliche Version mir aufgrund meines defekten Druckers vorenthalten wurde. Schade, aber letztendlich unerheblich, da mir dieser Text ausgesprochen gut gefällt. Die Gegenüberstellung bzw. Zusammenführung der beiden Handlungsstränge ist durch die kursive Schrift deutlich herausgearbeitet, und an Spannung mangelt es ebenfalls nicht. Klasse!

Was die bemängelte Leibesfülle der Schwangeren betrifft: Mir sind zwei SEHR junge Mütter bekannt, deren Angehörige bis zur Entbindung keinen blassen Schimmer vom Zustand der Betreffenden hatten. Sie selbst angeblich ebenfalls nicht. :D


Lieben Gruß
Antonia

 

Hallo Antonia,
mir ist dein Kommentar total entgangen. Das tut mir leid. Ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat. Passt sie jetzt doch auch zu dem Challenge. :)

Danke fürs Lesen und lieben Gruß
Goldene Dame

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Goldene Dame,

Deine Geschichte wirkt im Augenblick noch nach. Ich bin dabei das erwartet Unerwartete zu sortieren.
Du hast den Albtraum einer Tochter und einer Mutter, nach meiner Meinung gelungen in Worte gefasst.

Bemerkung am Rande: Gerade Frauen, welche an Bullemie leiden sind zwar sehr schlank, aber keineswegs so dünn wie Magersüchtige. Diesen Frauen fällt es leicht eine Schwangerschaft fast bis zum Ende zu verstecken. Das einzige was man diesen Frauen ansieht ist oft nur, dass sie ein wenig zugenommen haben.
Das Einbringen des Großvaters hat mir sehr gut gefallen. Gerade diese kurze Erwähnung erklärt verdammt gut den psychologischen Hintergrund von Hannes Mutter.

Viele liebe Grüße
Alexandra

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Alexandra,

Vielen Dank fürs Ausgraben dieser Geschichte.

Du hast den Albtraum einer Tochter und einer Mutter, nach meiner Meinung gelungen in Worte gefasst.
Ein Lob, dass ich gerne lese :)
Bemerkung am Rande: Gerade Frauen, welche an Bullemie leiden sind zwar sehr schlank, aber keineswegs so dünn wie Magersüchtige. Diesen Frauen fällt es leicht eine Schwangerschaft fast bis zum Ende zu verstecken. Das einzige was man diesen Frauen ansieht ist oft nur, dass sie ein wenig zugenommen haben.

Kill (not)your Darlings. *seufz* ;) Hier einer der meinen! Danke für die Bestätigung!

Gerade diese kurze Erwähnung erklärt verdammt gut den psychologischen Hintergrund von Hannes Mutter.
Freut mich, dass du diesen Teilaspekt auch als tragend für die Geschichte gesehen hast.

Danke fürs Lesen und Kommentieren.

Lieben Gruß, Goldene Dame

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom