- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 8
Ein Mensch ist in der Stadt
Velorum fühlte sich schwach. Ein unangenehmes Gefühl, das in einer gewissen Gereiztheit resultierte. Noch dazu konnte er keinen Jäger zur Stärkung wecken, so hatte er das stinkende Blut eines Dieners trinken müssen. Fluchend stapfte er durch die verfallenen Katakomben unter der Stadt. Ja, er war wütend.
Wütend und besorgt. Es war ungewöhnlich, die Adeligen bei Tageslicht zusammen zu rufen. Etwas Außergewöhnliches musste passiert sein.
Der Marduk hatte das Treffen einberufen, und so etwas geschah nicht ohne triftigen Grund. Als er die unterirdische Halle erreichte, war er nicht der Erste. Viele der Oberhäupter der großen Häuser hatten sich bereits eingefunden, und selbst Tobias, der Wahrer der Jäger war anwesend, obwohl er nicht dem Adel angehörte. Sehr seltsam.
Velorum nahm seinen Platz an dem großen Holztisch ein. Der Marduk, ein sehr alter und mächtiger Vampir hatte den Vorsitz. Tobias, der keinen Platz am Tisch beanspruchen konnte, stand an seiner Seite.
"Manche werden sich fragen, warum ich Euch hier zusammengerufen habe, andere werden es bereits ahnen und wenige wissen...", begann der Marduk zu sprechen, als er von Tlavúl, dem Führer der Draculs unterbrochen wurde.
"Geziemt es sich nicht, auf die Anwesenheit aller zu warten? Belóra, das Oberhaupt der Metze ist noch nicht erscheinen" rief er in die Runde.
"Und das wird er auch nicht!", entgegnete der Marduk schallend.
Gemurmel machte sich breit in der Runde.
"Schweigt!" Ein Faustschlag, der den Tisch erzittern ließ, brachte ihm die Aufmerksamkeit zurück.
"Gestern wurde der Sarg des Belóra und dreier Diener aus seiner Gruft in das Tageslicht gezerrt und dort geöffnet. Belóra ist nicht mehr!"
Diesmal sprach der Marduk einfach weiter, ohne sich um das erstaunte Gemurmel zu kümmern, das erneut aufgekommen war. "Er ist bei weitem nicht der Erste, dem so widerfahren wurde. Es gibt Zeugnis von zahlreichen Begebenheiten, die sich so zugetragen haben. Doch handelte es sich dabei um degeneriertes Vieh, das in der Oberstadt lebt und von Ratten und seinesgleichen trinkt. Bereits mehr Tier als Vampir. Noch nie zuvor ist der Mörder so tief unter die Erde gedrungen, um sich am Adel zu vergehen!"
"Wie kann das möglich sein? Wer ist imstande, der Sonne zu trotzen, um solch eine Tat auszuführen?", wieder war es Tlavúl, der das Wort ergriff.
"Ein Mensch!" antwortete der Marduk.
Das Gemurmel verwandelte sich schlagartig in ein Aufheulen, gefolgt von wilden Debatten.
Das Geschrei bereitete Velorum fast körperliche Schmerzen. Er wünschte sich von einem Jäger trinken zu dürfen.
"Ein Mensch?", rief Tlavúl lautstark über das Stimmengewirr hinweg. "Wenn es sie wirklich jemals gegeben hat, wurde seit Jahrhunderten keines dieser Wesen gesehen, von denen wir nur aus Überlieferungen wissen. Woher soll dieser Mensch so plötzlich gekommen sein?"
"Narr, der du an meinen Worten zweifelst! Wie willst du mit dem Wissen von Jahrhunderten begreifen, was Jahrtausende zurückliegt?" Der Marduk war aufgesprungen und hatte seinen Worten ein weiteres Mal mit der Faust Ausdruck verliehen.
"Hast du jemals einen Vampir etwas erschaffen sehen? Hat einer von euch seine Gruft selbst erbaut? Woher glaubt ihr kommt all das? Die gesamte Stadt wurde von den Menschen erbaut, die das Licht der Sonne liebten. Ihr seht es und zweifelt an ihrer Wahrhaftigkeit?!" Er hatte sich in Rage gebrüllt. Nun aber sank er zurück in seinen Stuhl und schien betroffen. "So weit schon ist es mit unserem Geschlecht gekommen?", murmelte er.
Nun herrschte Schweigen, und es dauerte eine Weile bis einer wagte, das Wort zu ergreifen.
"Was wollen wir nun tun, ob des Mordes an Belóra? Wie wollen wir verhindern, dass solches erneut geschieht?" Es war Velorum, der üblicherweise kein großer Redner bei solchen Anlässen war, aber Missbehagen und Durst trieben ihn zu diesem Versuch, die Versammlung voranzutreiben.
Der Marduk erwiderte nichts darauf. Er saß in seinem Stuhl und schien zu grübeln.
"Wir müssen Wachen aufstellen!", rief einer in die Runde.
"Und wen? Die Diener-Kaste ist zu schwach, um zu wachen. Sie fallen in den Schlaf, ohne es zu wollen", entgegnete ein anderer.
"Die Jäger sind stark!" Alle wandten sich nun Ludmilla zu, einer der wenigen Frauen unter den Adeligen. Sie grinste bösartig und war sich der Provokation bewusst, die sie eben ausgesprochen hatte.
"Es ist nicht statthaft, den Jägern ihren Schlaf zu verweigern", ergriff nun Tobias das Wort.
"Ein Jäger könnte das nächste Opfer sein", zischte Ludmilla ihn an.
"Ein triftiger Grund, ihren Schlaf zu schützen", gab Tobias sich ungerührt.
"Soll vielleicht der Adel selbst sie bewachen? Was erdreistet du dich, dein Wort an dieser Tafel zu erheben! Du und die Jäger sind unsere Untertanen!", kreischte sie. Dabei blickte sie nach allen Seiten, um Unterstützung aus ihren Reihen einzufordern.
"Untertanen, die Eure Macht behaupten, das wisst ihr nur zu gut, verehrte Ludmilla aus dem Hause der Segur. Ich wurde erwählt, die Kaste der Jäger zu vertreten, und weder werde ich mich Befehlen zu ihrem Nachteil beugen, noch werde ich schweigen, wenn ich für sie sprechen muss", entgegnete Tobias, dessen Stimme nun merklich lauter geworden war.
Die Stille, bevor Ludmilla zu erwidern wusste, ließ ein Murmeln gewahr werden. Es war der Marduk, der mehr zu sich selbst, als zu den Anwesenden sprach: "Macht? Ihr habt keine Macht mehr! Ihr wisst nichts, keiner von euch. Ihr herrscht über die Degenerierten, wie der Einäugige über den Blinden herrscht. Stellt Wachen auf, soviel Ihr wollt. Euer Untergang ist bereits besiegelt!"
Ludmilla zischte erneut, doch bevor sie noch ihren Unmut über diese Worte ausdrücken konnte, sprach Tlavúl, der seine Sprache wiedergefunden hatte. "Was sagst Du da, Alter?" Dem Marduk seinen Titel zu verweigern, war eine unerhörte Beleidigung. "Selbst in den Überlieferungen heißt es, die Menschen wären schwach, und jetzt soll uns ein einziger so einfach ausrotten?" Die Worte waren an den Marduk gerichtet gewesen. Jetzt wandte er sich dem gesamten Tisch zu. "Es wird nicht nötig sein, eine Wache zu bestimmen! Ich selbst werde diesen Menschen fangen. Ich werde von ihm trinken und ihn zu meinem Diener machen, wie es die Überlieferungen erzählen! Amen!" Tlavúl hatte mit diesem Wort seine Entscheidung als Ergebnis besiegelt, somit die Zusammenkunft beendet und damit klar den Marduk herausgefordert, dem allein dieses Recht zustand. Tlavúl lachte triumphierend und die meisten am Tisch lachten mit ihm, aus Erleichterung, eine so einfache Lösung gefunden zu haben. Velorum war sehr erfreut von dem überraschend schnellen Ende und machte erste Anstalten sich zu erheben, als er bemerkte, dass alle zum Vorsitz blickten.
Denn, auch der Marduk lachte. Aber es war ein zynisches Lachen.
"Wenn Dir das gelingt, Tlavúl aus dem Hause der Dracul, dann wirst Du damit deine eigene Verdammnis heraufbeschwören.
Wo ein Mensch ist, gibt es auch andere. Das liegt in ihrer Natur. Er mag nur die Vorhut einer großen Anzahl sein. Aber er wird nicht der einzige bleiben. Wer weiß, vielleicht sind jetzt schon Dutzende von ihnen in der Stadt.
Es ist wahr, die Menschen waren den Vampiren nicht gewachsen, deshalb wurden sie auch von uns fast ausgerottet. Aber die Zeiten haben sich geändert.
Wenn Du von einem dieser Menschen trinkst, Tlavul, wird er ein mächtiger Vampir werden. Stärker als Du, oder sonst einer von euch."
"Woher willst du das wissen?", schrie Tlavúl, merklich gereizt vom Widerspruch des Marduks und der Tatsache, dass anscheinend niemand auf seinen Abschluss der Zusammenkunft angemessen reagierte.
"Du selbst hast es mir gesagt, Tlavúl. Du selbst hast gesagt, du kennst die Menschen nur aus Überlieferungen. Doch, ich sage dir, einst warst Du selbst einer von ihnen!"
"Lüge!", rief Tlavúl, doch es klang nicht als ob er selbst davon überzeugt war.
"Du erinnerst dich nicht. Keiner von Euch. Seit den Vampirkriegen ist viel Zeit vergangen. Damals gab es viele Millionen Menschen auf der Welt und nur wenige von uns. Woher wir kamen, wissen heute nicht einmal mehr die Ältesten unter uns. Für viele hundert Jahre lebten wir verborgen unter ihnen. Viele Menschen glaubten nicht einmal, dass wir existierten." Bei diesem Satz schickte er einen Blick an Tlavúl, der nun schweigend an seinem Platz saß.
"Wir tranken von ihrem Blut und manche machten wir zu unsereins, aber immer blieben wir im Schatten. Wir bekämpften uns auch untereinander, die großen Häuser lebten in ständigem Zwist um ihre Jagdgründe.
Die Zahl der Menschen wuchs immer weiter und mit ihnen die Zahl der Vampire.
Viele Vampire begannen, politischen Einfluss in der Menschenwelt zu gewinnen. Ein Leichtes, da sie den Mächtigen Unsterblichkeit anbieten konnten.
Irgendwann waren wir zu ihren Herrschern geworden, ohne dass sie es wussten.
Die Führer der Häuser wurden immer vermessener. Sie weiteten ihre Gebiete immer mehr aus und jagten bald, ohne sich vor Entdeckung zu fürchten. Schon bald darauf eskalierten die Fehden.
Das war der Beginn der Vampirkriege. Die Häuser fingen an, gigantische Vampir-Armeen zu erschaffen, die sich in nächtlichen Schlachten bekämpften. Die Menschen dienten entweder als Nachschub für die Armeen, oder als deren Nahrung.
Sie wurden oft zu Tausenden hingemetzelt, um vor einer wichtigen Schlacht die Krieger zu stärken. Wir dezimierten sie in ungeahntem Ausmaß. Jedes Haus entwickelte immer noch exzessivere Methoden. Wir berauschten uns an ihrem Blut, ohne Durst zu empfinden. Es gab Siegesfeiern, in denen die Population ganzer Städte ausgelöscht wurde." Der Marduk blickte in die Runde und seufzte, als ob die Erinnerung ihn schmerzte.
"Das war der Höhepunkt der Vampire auf dieser Welt", sagte er dann. "Eines Tages blickten wir auf, und es gab keine Menschen mehr. Wir hatten sie alle ausgerottet."
"Anscheinend nicht ganz." Es war Ludmilla, die sprach. "Es gibt also wieder Menschen. Ich sehe keinen Nachteil darin. Warum sollten wir nicht wieder von ihnen trinken. Was macht dich glauben, diese Menschen wären stärker als die aus vergangenen Zeiten?"
"Närrin!", entgegnete der Marduk "Die Menschen haben sich nicht verändert. Ihr seid es, die schwach geworden sind!
Als es keine Menschen mehr gab, hattet ihr nichts mehr, um euren Durst zu stillen. Vampire begannen, von anderen Vampiren zu trinken. Aber das Blut schmeckte schal und es stillte den Durst nur kurz. Schlimmer aber wog die Tatsache, dass dieses Vorgehen Auswirkungen auf die Vampire selber hatte. Sie begannen zu degenerieren. Sie wurden wie Tiere, die nur noch jagten und schliefen.
Allein die Kaste der Jäger, die von den Häusern gegründet wurde, konnte dem Einhalt gebieten. Sie bringen euch frisches Blut von Tieren. 'Starke Tiere' nennen sie diese. Nur sie selbst wissen, welche sich eignen und sie hüten das Geheimnis gut. Ihr trinkt von den Jägern in deren Adern dieses Blut fließt. Dafür macht ihr Zugeständnisse an ihre Kaste.
So habt ihr eure Macht und eure Häuser erhalten über die Jahrtausende. Aber seht euch an! Was ist übrig geblieben? Betrachtet Tlavúl!" Der Angesprochene reagierte nicht, er saß immer noch schweigend und schien in seine Gedanken versunken. "Er grübelt noch immer, woher er kommt. Er kann sich nicht erinnern, was früher war! Keiner von euch kann das. Ihr habt es nicht aufgehalten, nur verlangsamt. Die schleichende Entartung frisst an eurem Körper und an eurem Geist. Ihr denkt ihr seid stark, aber ihr seid nur noch ein Schatten eures früheren selbst. Die großen Häuser bestehen nur noch aus euch und euren degenerierten Dienern, die sich kaum noch von dem Vieh aus der Oberstadt unterscheiden. Wir sind eng mit den Menschen verbunden. Ihr Blut gab uns Kraft und ihre Ausrottung brachte unseren Untergang.
Wenn ihr von einem Menschen trinkt, wird er sich in einen Vampir verwandeln, der so stark sein wird wie ihr früher. Er wird euch zu seinen Sklaven machen, oder einfach vernichten."
"Würde uns sein Blut nicht Kraft geben?" Es war Velorum, der noch immer nur daran denken konnte, seinen Durst zu stillen.
"Es hat lange gedauert, Eure Kraft zu verlieren, verehrter Velorum. Es ginge hundertmal schneller, sie wiederzuerlangen, aber auch das würde Jahrzehnte dauern. Denkt Ihr, Ihr könntet den Menschen so lange trotzen?" entgegnete der Marduk freundlich. Er hatte die Qual in Velorums Augen erkannt.
Nun wandte er sich wieder dem gesamten Tisch zu: "Auch ohne verwandelt zu sein, sind sie stärker als Ihr oder die Jäger.
Ja, es mag eine neue Generation von Vampiren geben, aber keiner von Euch wird dazu gehören. Die Zeit der alten Häuser ist vorbei. Amen!" Der Marduk hatte die Versammlung beschlossen. Es herrschte Schweigen, und nach einer Weile erhoben sich die Ersten und verließen den Saal.
Velorum folgte als letzter, nur der Marduk und Tobias waren noch da, als er den Saal verließ. Ständig drehte er sich nach ihnen um. Er hoffte, Tobias dazu bewegen zu können, ihn von ihm trinken zu lassen. Aber auch der blickte sich immer um und schien auf den Augenblick zu warten, dass der Saal sich endlich leerte. Velorum begriff, dass er nicht kommen würde, bevor er mit dem Marduk gesprochen hatte.
Velorum ging also wenige Schritte in die Dunkelheit des Tunnels, um dort zu warten.
"Werter Marduk, verzeiht meine Anmaßung, aber gewährt mir einen Augenblick. Mich quält eine Ungewissheit, die Ihr vielleicht zu besänftigen wisst."
"Was möchtest Du wissen, Tobias? Weder bin ich in Eile, noch will ich Dir Hoffnung machen, zumal meine eigenen Ungewissheiten heute zur Gewissheit wurden."
"Ich danke Euch, werter Marduk, denn ich bin verwirrt von der Zusammenkunft. Ist es denn wirklich so, dass alle an Kraft und Wissen eingebüßt haben? Sind wir wirklich so schwach, dass wir unsere alte Beute nicht mehr erlegen könnten?"
"So ist es, Tobias. Ich fürchte, es sind die letzten Tage für die großen Häuser angebrochen. Ein neues Zeitalter der Menschen wird beginnen, und die Vampire werden für lange Zeit wieder heimlich unter ihnen wandeln."
"Ich will Euch nicht verschweigen, werter Marduk, dass wir Jäger schon länger das Gerücht von den Menschen vernommen haben. Ja, wir wagten sogar nach ihnen zu suchen, aber keinem von uns ist es je gelungen, auch nur ihre Spur zu entdecken.", meinte er nun.
"Oh, Tobias, wisst ihr denn, wonach ihr suchen müsst? Wisst ihr denn, welche Spuren sie hinterlassen?" entgegnete der Marduk gütig
"Ihr solltet nicht glauben, dass wir dumm sind!", antwortete Tobias, und es war Zorn in seiner Stimme zu vernehmen "Vielmehr frage ich mich, weshalb es Euch möglich war, Euer Wissen zu erhalten. Ihr nehmt auch nicht die Dienste der Jäger für Euch in Anspruch. Ihr selbst habt gesagt, nur Menschenblut ist dazu im Stande. Kann es möglich sein, dass ihr ein Bündnis mit ihnen eingegangen seid, um die großen Häuser zu vernichten?"
Der Marduk starrte ihn überrascht an und begann plötzlich, schallend zu lachen. "Das ist es also? Du denkst ich würde mein Geschlecht betrügen?
Ja, du hast Recht, ich besitze noch all mein Wissen. Doch ich habe einen Preis dafür bezahlt! Einen Preis, den ihr nicht im Stande ward aufzubringen! Tatsächlich habe ich als Letztes von einem Menschen getrunken, und seit dreitausend Jahren quält mich bereits das Verlangen, es wieder zu tun.
Niemals habe ich von Tieren oder anderen Vampiren versucht. Ich musste zusehen, wie die glorreichen Häuser der Dekadenz anheim fielen. Wie ihre stolzen Anführer in ihren Körpern zu verrotten begannen.
Unser Geschlecht ist nichts ohne die Menschen, und ich sehnte ihr Erscheinen herbei, um diesem unwürdigen Zustand ein Ende zu machen."
"Verräter!", knurrte Tobias nun. "Es gibt keine Menschen! Ihr habt dieses Märchen erfunden, um unsere Pläne zu durchkreuzen! Wir Jäger sind die stärkste Kaste und wir werden die großen Häuser beherrschen! Heute ist der Tag der Neuordnung!“
Als Tobias diesen Satz vollendet hatte, begannen Jäger in den Saal zu strömen. Sie hielten ohne zu zögern auf den Marduk zu. Der packte Tobias mit einer Hand am Hals und hob ihn hoch. Dann sprach er laut: "Nicht nur mein Wissen habe ich bewahrt, du Narr, auch viel meiner früheren Kraft!" Noch bevor der erste Jäger die beiden erreicht hatte, fiel Tobias mit gebrochenem Genick zu Boden.
Velorum war entsetzt. Die Jäger hatten sich gegen die großen Häuser erhoben. Er dachte daran zu fliehen, aber ein letzter Rest seines Verstandes ließ ihn erkennen, dass auf dem Weg zu seiner Gruft bereits ein Hinterhalt auf ihn warten würde. Die Jäger mussten alles geplant haben. Vielleicht waren sie selber diejenigen, die Belóra getötet hatten, um diese Versammlung zu provozieren.
Von allen Seiten kamen weitere Gruppen von Jägern in die Halle. Sie heulten und hielten triumphierend abgetrennte Köpfe in die Luft. Es waren die Häupter der Anführer der großen Häuser.
Immer mehr von ihnen drangen nun auf den Marduk ein, der sich heftig zur Wehr setzte. Um ihn häuften sich die Körper der Gefallenen, denen er das Genick gebrochen oder den Kopf zerschmettert hatte, aber auch ihn würden irgendwann die Kräfte verlassen.
Velorum fühlte sich plötzlich unendlich traurig und allein. Es gab keinen Platz, an den er gehen konnte. Seine Zeit war zu Ende. Der Durst quälte ihn, und er konnte ihn nicht stillen. So wandte er seine Schritte den oberen Hallen zu. Sein Weg würde ihn nicht nach Hause bringen, sondern ans Licht.
Kein Jäger würde ihm den Kopf abreißen oder das Genick brechen.
Während er durch die Gänge schritt, erkannte er die Wahrheit in den Worten des Marduk. Er konnte sich nicht ins Gedächtnis rufen, was früher gewesen war. All seine Erinnerungen beschränkten sich auf wenige ereignisreiche Jahrhunderte. Die glorreichen alten Zeiten waren nur noch in Gesprächen darüber am Leben erhalten worden, wobei schon lange niemand mehr etwas Konkretes darüber zu erzählen gewusst hatte. Vielmehr hatte es gereicht, dieses Thema zu erwähnen, um eine unbestimmte Sehnsucht auszulösen. Ein Verlangen nach etwas, von dem er nicht wusste was es war. Sein ganzes Haus bestand nur noch aus ihm und seinen debilen Dienern, die kaum noch wach bleiben konnten.
Das Haus Serg war niemals besonders mächtig gewesen, und Velorum regierte es allein, solange er zurückdenken konnte. Aber er zweifelte nicht daran, dass die Zustände in den anderen Häusern ähnlich waren. Jetzt, wo er darüber nachdachte, konnte er nicht sagen, wann er zum letzten mal die Schwester des Tlavúl gesehen hatte, oder die Gemahlin des Arbon. Velorum ahnte, in welchem Zustand sie waren.
Die Erkenntnis über die Situation ließ ein lange nicht empfundenes Gefühl in Velorum erwachen: Freude.
Velorum lächelte, denn die Revolte der Jäger war töricht.
Was wollten sie erreichen? Worüber wollten sie herrschen?
Sie selbst hatten den letzten Rest der einst mächtigen Vampir-Geschlechter ausgerottet. Der Rest war des Herrschens nicht wert, sie würden den Wechsel kaum bemerken.
Diese Erkenntnis, und die Tatsache, dass er ihnen entschlüpft war, verschaffte ihm Genugtuung.
Schon konnte er ein Schimmern am Ende des Ganges erkennen.
Noch nie hatte er die Sonne gesehen. Es würde das erste und letzte Mal sein.
Unerwartet hörte er Geräusche aus dem Gang hinter sich. Die Jäger! Sie waren hinter ihm her. Velorum beschleunigte seine Schritte, sie würden ihn nicht rechtzeitig erreichen.
Das Licht schmerzte bereits in seinen Augen, so nahe war er, als es plötzlich von einem Schatten verdunkelt wurde.
"Meister Velorum? Wohin eilt ihr? Es ist gefährlich dort draußen."
Velorum erkannte die Stimme. Es war Fenzel, einer seiner persönlichen Jäger.
"Geh zur Seite Fenzel, Ich will dir kein Harm.", sagte er, ohne stehen zu bleiben.
"Alter Narr!", knurrte Fenzel und schlug nach seinem Meister, als dieser ihn erreicht hatte.
Velorum stürzte zu Boden und Fenzel lachte. "Die anderen Adeligen erwarten Euch bereits, Meister. Euer Kopf wird ihnen Gesellschaft leisten. Auf der Spitze einer Lanze."
Er beugte sich tief über den Wehrlosen und setzte ihm einen Pflock an die Brust. Langsam drückte er die Spitze zwischen Velorums Rippen hindurch in Richtung Herz.
Inzwischen waren mehr Jäger herangekommen. Sie sahen zu und lachten.
Ein dumpfes Krachen und Velorum fühlte, wie der Druck nachließ. Aus Fenzels Brust ragte ein Stück Holz. Auf seinem Gesicht zeichnete sich Überraschung ab, dann fiel er wortlos vornüber und rührte sich nicht mehr. Ein Schatten sprang über ihn hinweg auf die Jäger zu, die laut aufheulten.
Kurz darauf verstummten ihre Schreie.
Velorum fühlte, dass sein Tod nahe war. Er bedauerte, das Licht nicht erreicht zu haben. Die Jäger hatten ihn am Ende doch noch erlegt.
Der Schatten, der sie getötet hatte, kauerte nun neben ihm.
Es war der Mensch.
Velorum war sich sicher, denn solch ein Wesen hatte er noch nie gesehen.
Sein Körper war ähnlich gebaut wie der eines Vampirs. Aber er war größer und viel muskulöser.
Das seltsamste aber war die Haut des Menschen. Vollkommen schwarz, konnten Velorums, vom Licht geblendete Augen, ihn kaum vom Dunkel des Ganges unterscheiden. Auch seine Haare waren schwarz. Einzig das Weiß seiner Augäpfel hob sich deutlich vom Dunkel seines Gesichts ab.
Der Mensch öffnete seinen Mund und entblößte zwei Reihen weißer Zähne, um irgendetwas zu sagen, in einer Sprache, die Velorum nicht verstand.
Velorum hob seine Hand und deutete auf den Weg nach draußen.
Der Mensch lächelte, dann half er Velorum auf die Beine und führte ihn ins Licht.
-Gewidmet der fleissigsten Pädagogin die ich kenne, die noch dazu auf Vampire steht.