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Ein modernes Märchen oder nicht?
Die meisten Märchen beginnen mit den legendären Worten "Es war einmal". Auch die nächste Geschichte beginnt damit, ob sie ein Märchen ist, das überlasse ich gerne den Lesern.
Es war einmal ... ein junger Mann, der an einem ganz gewöhnlichen Tag durch einen ganz gewöhnlichen Wald ging. Dieser junge Mann erfreute sich an der farbenfrohen Natur, dem Grün der Bäume und dem Violett des Heidekrauts.
Es war früh am Morgen und die Vögel sangen ihr Morgenlied. Der junge Mann jedoch hörte dieses Lied nicht.
Nach einem langen Spaziergang entdeckte der junge Mann eine kleine, niedrige Holzhütte mit einem spitzen Dach. Die Hütte hatte nur eine Eingangstür und keine Fenster. He, murmelte er erstaunt, was macht diese Hütte dort und wem gehört sie wohl?
"Diese Hütte gehört mir", ertönte eine alte, krächzende Stimme. Der junge Mann hörte diese Stimme nicht.
Plötzlich erschrak der junge Mann sehr: Die Tür der Hütte öffnete sich und eine alte Frau in einem langen, bunten Kleid, dunklen spitzen Schuhen und langen grauen Haaren stand im Türrahmen.
"Ich sagte, diese Hütte gehört mir", wiederholte die Frau mit ihrer alten, krächzende Stimme. Und wieder hörte der junge Mann die Stimme der alten Frau nicht. Aber er sah, wie sich ihr Mund bewegte, und las die Worte von ihren Lippen ab.
"Oh", antwortete der junge Mann "Sie leben so abgelegen und allein in dieser Hütte. Sie sind nicht zufällig eine Hexe, oder"? Er sah die alte Frau lachen. Das Knacken im Lachen hörte er allerdings nicht.
"Nein, ich bin keine Hexe, wirklich", las der junge Mann von ihren Lippen ab, als sie mit dem Lachen fertig war.
"Ich bin nur alt und lebe gern allein in dieser Hütte". Die alte Frau musste diesen Satz noch einmal wiederholen, weil der junge Mann nicht alles verstand.
"Oh, wie schade", antwortete der junge Mann. "Wenn Sie eine Hexe wären, hätten Sie meine Taubheit wegzaubern und mich hörend machen können".
Die alte Frau dachte über diese Worte einen Moment lang nach. Dann erwiderte sie dem jungen Mann folgendes: "Wenn ich eine Hexe wäre und dich wieder hätte hören lassen können, hätte ich dafür deine Seele verlangen müssen. Deshalb bin ich froh, dass ich keine Hexe bin".
Sie vereinbarten, dass der junge Mann am nächsten Tag um die gleiche Zeit zurückkommen würde, um der alten Frau seine Antwort zu geben, weil er noch etwas länger darüber nachdenken wollte.
Am nächsten Tag kehrte der junge Mann frühmorgens an den Ort zurück, an dem er am Vortag die Hütte und die alte Frau gefunden hatte. Die alte Frau wartete bereits in der Tür auf ihn. Sie wünschten sich gegenseitig einen guten Morgen und der junge Mann war bereit für seine Antwort an die alte Frau.
"Sie haben Recht"', sagte der junge Mann. "Ohne eine Seele könnte ich nicht denken, fühlen, riechen und sehen. Ohne eine Seele könnte ich nicht leben. Ohne Gehör ist das Leben nicht immer einfach, aber ich kann trotzdem die Dinge genießen, die aus meiner Seele kommen. Deshalb bin ich froh, dass Sie keine Hexe sind".
Die alte Frau nickte. Der junge Mann und die alte Frau verabschiedeten sich voneinander und er setzte seinen Spaziergang fort.
Der junge Mann kehrte später noch einige Male zurück, um die Hütte und die alte Frau zu suchen, aber er fand sie nie wieder.