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Ein Mythos

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29.08.2003
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Ein Mythos

Manchmal bewegt sich die Flamme einer Kerze im Rhythmus der Musik. Licht und Klänge tanzen dann gemeinsam und wirbeln herum, umarmen sich und stoßen sich weg, bisweilen wiegen sie sich sanft in eine andere Welt, ab und zu stolpern sie wieder in die Wirklichkeit. Licht und Musik – ein himmlisches Paar, welches im Liebesspiel dem Göttlichen näher kommt, wenn die Musik die Liebe spielt und die Flamme in derselben aufgeht, um wieder zu erlischen.

„In der griechischen Mythologie heißt es, dass der Wind und das Wasser die Sterne gezeugt hätten.“ Ich wache auf, ich rieche den Rauch einer Zigarette und höre eine Stimme neben mir. Für den Inhalt der Worte bin ich noch zu schlaftrunken. „Was? “ „Der Wind und das Wasser haben die Sterne gezeugt.“ Ein schöner Satz so früh am Morgen. „Und wer hat die Sterne geboren?“ Er lächelt. „Das Wasser natürlich. Der Wind hat seine Kinder dann in den Himmel geweht. Jedes einzelne an seinen Platz. Seitdem sind sie da.“ Ich bin einer der wenigen Menschen, die eine Guten-Morgen-Geschichte bekommen. Zum Glück gibt es von den Alten Griechen viele Geschichten. Ich lerne mich kennen. Ich bin ein Teil von ihnen.

Kaffe, Zigaretten, eine Zeitung. Wir fahren nicht nach London, nicht nach Ägypten, nicht in die Vereinigten Staaten, Italien wäre riskant, der Osten kommt nicht in Betracht, Terroristen und Tsunamis, ihr wisst schon. Wir können nirgendwo und überall hin, denn keine Geschichte steht für sich allein, jede neue entsteht aus allen alten und kehrt zu ihnen zurück, wie jedes Leben aus allen Toden hervorgeht und wieder zu ihnen wird. Alle Geschichten verbinden sich, sie werden zu einem alles umfassenden Netz, welches die Zeiten umspannt. Jede Geschichte wird zu einem Weltereignis und zu einem Ereignis der Zeiten. Sie wird zu Geschichte.

Ich kann mich heute nicht konzentrieren beim Lesen. Eine Seite zieht an mir vorüber, dann ermahne ich mich, alsdann ziehen drei Zeilen in mich hinein. Einmal möchte ich jedes Wort in mich aufnehmen können. Ein einziges Mal möchte ich ein Buch sein. Und wenn wir tanzen, bin ich die Musik und du die Flamme. Wenn du mir mein Herz stiehlst, bin ich Helena, und wenn ich verzweifelt und stark bin, bin ich Medea. Ich bin Aphrodite, wenn ich dem Schaum entsteige, und ich bin Sappho, weil ich Eros und Thanatos in mir trage. Ich bin die sterbende Semele, wenn ich dich schaue. Ich bin jede Geschichte.

Ich wache auf, die Sonne scheint mir auf das Gesicht, der Duft von Zigarettenrauch steigt mir in die Nase. Ich bin konzentriert und kann alle Worte in mich aufnehmen. „Unsere Horoskope sagen immer, dass zwei Skorpione schwer zusammen leben können, da sie sich gegenseitig aus Leidenschaft vergiften. Andererseits brauchen sie sich umso mehr. Es gibt einen mesopotamischen Mythos, erzählt im Gilgamesh-Epos, der uns genau entspricht. Gilgamesh muss an einen Ort, der ganz nahe an der Sonne liegt. Auf dem Weg dahin muss er dieselbe begleiten, dabei würde er aber verbrennen. Es gibt allerdings einen Ausweg, der zwölf Stunden durch eine Höhle führt. Er führt von Ost nach West, von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang. An jeder Seite steht ein Skorpion, ein Männchen und ein Weibchen. Sie sehen sich kaum, aber sie brauchen sich: Sie hüten den Weg der Sonne.“
Ich bin ein Teil von ihnen.

 

Hallo kardia,

mhh... eine hochverdichtete, leider sehr handlungsarme Erzählung in der es offenbar um ein Liebespaar geht. Bist du dir sicher, dass diese Erzählung in sich widerspruchsfrei ist?

Davon abgesehen haben mich zwei grammatikalische Stolpersteine beim Lesen gestört:

Manchmal bewegt sich die Flamme einer Kerze im Rhythmus der Musik. Sie tanzen dann gemeinsam und wirbeln herum, umarmen sich und stoßen sich weg,
Ich bin einer der wenigen Menschen, der eine Guten-Morgen-Geschichte bekommt.
Der erste Satz liest sich für mich so, als ob besagte Flamme, wenn schon, mit dem Rhythmus und nicht mit der Musik zusammen tanzen würde. Auf jeden Fall war es für mich schwer das "Sie" zu Beginn des zweiten Satzes zu verstehen.
Der zweite Satz müsste mAn "Ich bin einer der wenigen Menschen, die eine Guten-Morgen-Geschichte bekommen" lauten.

 
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Hi!

Den Kritikpunkt der Handlungsarmut kann ich dir nicht absprechen, war mir deshalb auch nicht sicher, in welche Rubrik ich den Text geben sollte (Sonstiges, vielleicht sogar Experimente, Seltsam???). Aber da es letztendlich um Geschichtszusammenhang auf der Basis von Mythen und Einzelgeschichten geht, was ich dann auch im gedankenflussartigen Stil repräsentatieren wollte, hielt ich Philosophisches dann doch für die richtige Rubrik. Die "Liebesgeschichte" sollte nur ein kleiner Aufhänger sein, auf dem ich das eigentliche Thema etablieren wollte.
Danke für die grammatikalischen Hinweise, die Mehrdeutigkeit der ersten unklaren Stelle wäre mir nie aufgefallen. Der zweite problematische Satz stand ursprünglich deinem Korrekturvorschlag entsprechend im Text. Allerdings war ich mir dann nicht mehr sicher, ob sich das Relativpronomen auf die "Menschen" oder dann nicht doch auf "einer" bezieht. Dabei ist die Phrase "einer der Menschen, die" eh eine geläufige Wendung, die man so und nicht anders im Kopf hat. Man darf bei solchen Sachen nicht ins Grübeln kommen, wenn man Verwirrungen und Fehlern aus dem Weg gehen will...

Danke für die Kritik!
kardia

 

Hallo Kardia,

ich lese aus Deinem Text die Bindung mancher Menschen an eine mythologische Vorzeit. Dein Paar lebt heute, es ist den Zwängen und Nebenbedingungen unseres Alltags unterworfen, aber gleichzeitig fühlt es sich der griechischen Antike verbunden, sieht sein eigenes Schicksal in der Mythologie jener Zeit (und der Zeit davor: Gilgamesh ist ja noch älter) widergespiegelt. Der Mensch ändert sich kaum, auch wenn sich die Lebensumstände wandeln sind die Leute dieselben wie vor 5000 Jahren.

Ich bin zwar nicht tief beeindruckt von Deinem Text, aber doch positiv überrascht. Dein Stil gefällt mir, er liest sich gut, ohne zu verschnörkelt oder zu simpel daherzukommen, sehr ausgewogen.

Grüße,
Naut

 

Hi Naut!

Es geht nicht nur um die Verbindung zur Antike oder zum Alten Orient, jene eignen sich aber gut als Repräsentanten für Geschichtszusammenhang, eben weil noch immer aktuell. Ich möchte auch nicht sagen, dass wir noch dieselben Menschen wie vor über 2000 Jahren sind, das lässt Zeit einfach nicht zu. Vielmehr wollte ich zum Ausdruck bringen, dass wir alle - wenn auch keine fertigen bzw. endgültigen - Resultate von Allem davor sind. Auch der 11. September oder die Anschläge in London sind solch ein Resultat. Meiner Meinung auch jede Kurzgeschichte hier auf dieser Seite. Jedes Geschehen unterliegt einer Entwicklung, die schon lange lange vorher begonnen hat.

Danke für die Kritik!
kardia

 

Seine Geschichtsphilosophie und das dialektische Prinzip haben schon was für sich. Als Hegelianerin würde ich mich dennoch nicht bezeichnen...

 

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