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Ein Mythos
Manchmal bewegt sich die Flamme einer Kerze im Rhythmus der Musik. Licht und Klänge tanzen dann gemeinsam und wirbeln herum, umarmen sich und stoßen sich weg, bisweilen wiegen sie sich sanft in eine andere Welt, ab und zu stolpern sie wieder in die Wirklichkeit. Licht und Musik – ein himmlisches Paar, welches im Liebesspiel dem Göttlichen näher kommt, wenn die Musik die Liebe spielt und die Flamme in derselben aufgeht, um wieder zu erlischen.
„In der griechischen Mythologie heißt es, dass der Wind und das Wasser die Sterne gezeugt hätten.“ Ich wache auf, ich rieche den Rauch einer Zigarette und höre eine Stimme neben mir. Für den Inhalt der Worte bin ich noch zu schlaftrunken. „Was? “ „Der Wind und das Wasser haben die Sterne gezeugt.“ Ein schöner Satz so früh am Morgen. „Und wer hat die Sterne geboren?“ Er lächelt. „Das Wasser natürlich. Der Wind hat seine Kinder dann in den Himmel geweht. Jedes einzelne an seinen Platz. Seitdem sind sie da.“ Ich bin einer der wenigen Menschen, die eine Guten-Morgen-Geschichte bekommen. Zum Glück gibt es von den Alten Griechen viele Geschichten. Ich lerne mich kennen. Ich bin ein Teil von ihnen.
Kaffe, Zigaretten, eine Zeitung. Wir fahren nicht nach London, nicht nach Ägypten, nicht in die Vereinigten Staaten, Italien wäre riskant, der Osten kommt nicht in Betracht, Terroristen und Tsunamis, ihr wisst schon. Wir können nirgendwo und überall hin, denn keine Geschichte steht für sich allein, jede neue entsteht aus allen alten und kehrt zu ihnen zurück, wie jedes Leben aus allen Toden hervorgeht und wieder zu ihnen wird. Alle Geschichten verbinden sich, sie werden zu einem alles umfassenden Netz, welches die Zeiten umspannt. Jede Geschichte wird zu einem Weltereignis und zu einem Ereignis der Zeiten. Sie wird zu Geschichte.
Ich kann mich heute nicht konzentrieren beim Lesen. Eine Seite zieht an mir vorüber, dann ermahne ich mich, alsdann ziehen drei Zeilen in mich hinein. Einmal möchte ich jedes Wort in mich aufnehmen können. Ein einziges Mal möchte ich ein Buch sein. Und wenn wir tanzen, bin ich die Musik und du die Flamme. Wenn du mir mein Herz stiehlst, bin ich Helena, und wenn ich verzweifelt und stark bin, bin ich Medea. Ich bin Aphrodite, wenn ich dem Schaum entsteige, und ich bin Sappho, weil ich Eros und Thanatos in mir trage. Ich bin die sterbende Semele, wenn ich dich schaue. Ich bin jede Geschichte.
Ich wache auf, die Sonne scheint mir auf das Gesicht, der Duft von Zigarettenrauch steigt mir in die Nase. Ich bin konzentriert und kann alle Worte in mich aufnehmen. „Unsere Horoskope sagen immer, dass zwei Skorpione schwer zusammen leben können, da sie sich gegenseitig aus Leidenschaft vergiften. Andererseits brauchen sie sich umso mehr. Es gibt einen mesopotamischen Mythos, erzählt im Gilgamesh-Epos, der uns genau entspricht. Gilgamesh muss an einen Ort, der ganz nahe an der Sonne liegt. Auf dem Weg dahin muss er dieselbe begleiten, dabei würde er aber verbrennen. Es gibt allerdings einen Ausweg, der zwölf Stunden durch eine Höhle führt. Er führt von Ost nach West, von Sonnenaufgang nach Sonnenuntergang. An jeder Seite steht ein Skorpion, ein Männchen und ein Weibchen. Sie sehen sich kaum, aber sie brauchen sich: Sie hüten den Weg der Sonne.“
Ich bin ein Teil von ihnen.