Mitglied
- Beitritt
- 17.08.2005
- Beiträge
- 123
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 12
Ein neuer Tag
Manchmal hörte man das Gemurmel sogar unten im Wohnzimmer.
Manchmal, wenn Charlie sich richtig hineinsteigerte.
Unverständlich zwar, aber doch laut.
Dann wieder Phasen, wo es still war oben.
Seine Familie saß ohne ihn zusammen. Seine Mutter und sein Vater saßen auf dem Sofa und sahen stumm und ratlos in ihren Schoß. David, sein Bruder, hingegen, lief seit er vor einigen Minuten nach Hause gekommen war, unruhig mit einem Glas Wasser in der Hand hinter dem Sofa herum. Schon als er den Blick seiner Mutter gesehen hatte, wusste er, dass es wieder so weit war.
„Er hat das öfter Mom, du weißt, wie er ist...“, sagte David zu ihr, in der Absicht, ihr irgendwie Trost zu spenden.
„Er hat recht, Sally. Charlie kommt schon wieder runter. Er hatte wahrscheinlich einen schweren Tag heute.“ Paul ging zu seiner Frau und nahm sie in die Arme. Sie begann zu schluchzen.
„Ist ja schon Gut, Schatz. Es kommt alles wieder in Ordnung. Komm, wir machen dir einen Tee, der beruhigt.“
„Wisst ihr was, ich gehe zu ihm", sagte David plötzlich. „Es reicht jetzt. Dieser verrückte Einzelgänger will doch nur auf sich aufmerksam machen. Er schafft es noch, die ganze Familie kaputt zu machen mit seinen wahnsinnigen Attacken!“
„David, nein“ , begann seine Mutter. „Du kennst ihn, er wird nur wieder böse und sagt, wir sollen ihn in Ruhe lassen.“
„Deine Mutter hat Recht, wir kommen nicht an ihn ran, wenn er so ist.“
David ignorierte die elterlichen Weißheiten und donnerte fest entschlossen sein Glas auf den Tisch und ging zur Treppe.
„Nein, ich habe kein gutes Gefühl dabei“, protestierte Sally „Es ist schlimm heute. Er braucht seine Zeit... du weißt doch, dass er seine Zeit braucht.“
„David, bist du sicher, dass es gut für Charlie ist?“, fragte Paul.
„Nein, aber er schert sich doch auch einen Dreck darum, ob das, was er tut gut für uns ist.“
Er stieg die Treppe hinauf und hämmerte mit der Faust gegen die braune Tür mit dem „KEEP OUT“ -Schild davor. „Mach dir Tür auf, Charlie!“ Für kurze Zeit wurde es still, doch dann begann wieder der das eintönige, unverständlich leise Murmeln.
„Mach die verdammte Tür auf und hör auf, diese verfluchte Freakshow abzuziehen.“ Wieder schnellten seine Fäuste auf das Holz der Tür nieder, aber dieses Mal machte Charlie keine Pause. Er redete und redete. Es kam öfter vor. Früher nur selten, aber in der letzten Zeit häuften sich diese Vorfälle und Charlie wurde immer merkwürdiger. Er sagte, dass er es in der Schule nicht gut mache, was immer er damit meinte. Er ging nie auf Partys, hing viel zu Hause rum und Freunde kamen auch niemals zu Besuch. Ein typischer Einzelgänger. Aber er bemühte sich auch nicht besonders.
„Wenn du nicht sofort aufschließt, dann trete ich die verdammte Tür ein, Charlie. Mach schon!“ Er hörte auf zu reden. Etwas tat sich hinter der Tür. Man hörte nackte Füße über den Holzfußboden gehen, dann drehte sich der Schlüssel und die Tür ging auf. Charlie setzte sich wieder teilnahmslos auf sein Bett.
„Du bist nackt“, sagte David während er ins Zimmer ging und die Tür hinter sich zumachte.
„Und? Macht dich das an?“, fragte er völlig apathisch. David stellte sich vor sein Bett und sah auf ihn hinunter.
„Ich weiß nicht, was du hier oben tust oder warum, und es ist mir auch egal, aber unten sitzt unsere Mutter und heult sich die Augen aus, weil sie glaubt, dass ihr Sohn wahnsinnig geworden ist. Verrückt, durchgeknallt, ein Freak, klar? Und so sollte es nicht sein, hörst du mich? Hör auf mit dem Scheiß. Das wird in letzter Zeit immer schlimmer und irgendwann machst du alles kaputt. Du zerstörst unsere Familie!“
„Ich bin ein Individuum, ein Fremdwort, ein Fremder, ein unwillkommener Gast, ein Parasit. Ein Indianer. Ein unerschrockener Indianer! Leckt mich am Arsch, ihr Penner. Ich brauche eure Hilfe nicht. Wenn ich am Boden liege, schreie vor Schmerzen, und wenn ich mich krümme und winde, dann ist es gut. Dann ist es ein neuer Tag. Ein neuer Tag beginnt jeden Morgen, jeden Morgen beginnt ein neuer Tag und die Sonne scheint. Ich liege am Boden und schreie vor Schmerzen. Leckt mich am Arsch, ihr Penner. Leckt mich...“
David schlug Charlie mit der flachen Hand ins Gesicht. „Halt den Mund!“, schrie er. „Was redest du denn da für einen Müll?“
„Da ist es wieder. Froh zu sein bedarf es wenig, was, Miss Chandler? Es ist alles nicht so schlimm, wenn man sich erst daran gewöhnt hat. Weißt du, dass das eine verdammte Lüge ist, Charlie? Du weißt es, wenn du wieder am Boden liegst und wenn du wieder schreist vor Schmerzen. Dann weißt du, dass es eine gottverdammte Lüge ist.“ Er sah an die Decke und wiegte sich nackt auf dem Bett hockend hin und her.
„Okay, in Ordnung, was ist heute in der Schule passiert, Charlie. Warum hast du dich hier nach der Schule eingeschlossen und warum redest du mit dir selbst? Kannst du mir das sagen, Charlie? Er sah weiter an die Decke, als hätte er David überhaupt nicht gehört.
„Charlie…“, begann er noch einmal.
„Wenn man den Weihnachtsmann fragt, wie viel zwei plus zwei ist, was wird er antworten? Es gibt nur einen Menschen auf dieser Welt, der das weiß. Er selbst. Der fette Junkie Mister Weihnachtsmann. Irgendwann ist Schluss. Dann ist es einfach zu Ende. So oder so. Ich besiege sie oder sie besiegen mich. Endgültig. Schluss. Aus. Wie spät ist es? Zwei plus Zwei? Ich muss zur Schule, es gibt eine Menge Leute, die auf mich warten. David, mein Bruder heißt David. Es ist der Name meines Bruders. Es gibt eine Menge Leute, die David heißen. Nette Leute, böse Leute, Leute, die den Verstand verlieren...“
Es schien, als würde er David gar nicht wirklich bemerken. Er war wie in Trance, nur halb bei Bewusstsein. „Charlie! Es reicht jetzt. Du brauchst Hilfe. Wenn du so weiter machst, bringen sie dich noch ins Irrenhaus.“ Er wandte sich ab von ihm und wollte wieder gehen. Es hatte keinen Sinn. Er würde schon wieder aufhören, er hatte immer wieder aufgehört. Jedes mal. Als er gehen wollte, stand Charlie plötzlich auf. Er humpelte zum Fenster. Er humpelte, wie er es immer tat. Seit seiner Geburt wuchs er nicht wie normale Menschen. Seine Hüfte zeigte immer deutlichere Fehlbildungen, sodass er nicht gerade laufen konnte. Bis er zwölf war, war es nicht sehr schlimm gewesen, aber in den letzten vier Jahren war es immer extremer geworden. Es sah krank aus, richtig mitleiderregend. Wahrscheinlich würde er im Rollstuhl sitzen, bevor er richtig ausgewachsen war. David sah ihn noch mal an. Dann stockte ihm plötzlich der Atem. „Was hast du da am Rücken.“ sagte er erschrocken.
„Es gibt Nächte“, sagte Charlie, „da schläfst du lieber auf dem Bauch.“
David ging zu ihm hin und je näher er kam, desto mehr Angst bekam er. Der ganze Rücken war rot und an vielen Stellen schimmerte es gelb und blau.
„Das sind ja richtig tiefe Fleischwunden, Charlie. Was ist passiert zum Teufel? Haben sie das in der Schule getan? Bist du geschlagen worden? Wer war das? Die Schweine mach ich fertig, wenn ich die in die Finger kriege. Wir müssen damit sofort zum Krankenhaus fahren! Du musst doch wahnsinnige Schmerzen haben, mein Gott.“
„Ich bin ein Indianer. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Verrate uns und wir reißen dir den Kopf ab, sagt man. Und man verrät nichts und dann ist es wieder ein neuer Tag. Immer auf die gleiche Stelle und der Indianer kennt wieder den alten Schmerz. Die Sterne leuchten. Da oben, der erste Stern ist da. Die Sonne geht schon unter und oh nein... das was man nicht verhindern kann, es wird wieder ein neuer Tag. Die Zeit wird nicht stehen bleiben.“
David wusste nicht, was er sagen sollte. Er stand nur hinter seinem Bruder, der in einer anderen Welt zu sein schien und aus dem Fenster zum Himmel hinauf starrte.
„Wir sollten wirklich ins Krankenhaus fahren. Das muss sicher genäht werden.“ Er griff Charlie am Arm und er erschrak. „Nein!“ schrie er und zuckte weg. Er verlor das Gleichgewicht, humpelte ein Paar Schritte rückwärts und viel zurück. Mit einem Lauten Knall schlug er auf dem Boden auf – mit dem Rücken. Er riss die Augen auf und sein Mund öffnete sich, aber er blieb stumm. Er konnte sich einen Moment lang nicht bewegen.
„Aufhören!“ schrie er schließlich. Dann stand er wieder auf und hinterließ auf dem Boden einige Blutflecken von den aufgeplatzten Wunden. „Charlie, oh mein Gott. Komm, ich helfe dir. Das tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Geht es? Tut es sehr weh?“ Aber Charlie erkannte ihn nicht. Er starrte ihn mit glasigen Augen ganz verstört an. „Hey, Charlie, ich bin es, David.“
„David...“ sagte Charlie ganz langsam.
„Ja, Charlie, was ist? Komm mit, kannst du gehen? Wir müssen sofort ins...“
„David holt wieder den Zeigestock und fragt, was ist zwei plus zwei? Man sagt vier und er sagt FALSCH und schlägt wieder zu. Immer auf den Rücken. Und die Anderen lachen. Alle lachen und man sagt fünf und FALSCH! Er schlägt wieder zu. Sie lachen lauter. Dann nimmt er das große, flache Holzlineal für die Tafel und FALSCH, Humpelstilzchen! BANG! David ist es. David!“
„Wovon redest du? Wer ist dieser Junge? Ist das heute passiert?“
„Heute? Was ist heute? Heute ist um diese Zeit ein alter Tag und ein alter Tag ist gut, weil es dann vorbei ist, bis der neue Tag da ist. Und dann ist da wieder David! Mein Bruder heißt David, David ist ein böser Name. David ist ein ganz böser Name, Bruder. Wenn David da ist, dann lachen sie alle und der Indianer kennt wieder den alten Schmerz!“
Er quälte sich hoch, stand auf und ging zu seinem Schreibtisch hinüber. Aus einem Etui holte er einen Bleistift und einen Anspitzer heraus.
„Charlie, was hast du vor? Du weißt doch, dass ich nicht dieser David bin, nicht wahr? Es gibt viele Menschen mit diesem Namen...“ Er überlegte kurz, ob er seinen Vater rufen sollte. Er sah Charlie den Bleistift anspitzen. „Charlie, lass das, wir müssen jetzt ins Krankenhaus fahren. Komm, gib mir den Stift.“ Er ging einen Schritt auf ihn zu und Charlie zog den Bleistift aus dem Anspitzer. „Alles klar, David, jetzt drehen wir das Spiel mal und der Indianer jagt den Cowboy, was? Tja, da schaust du blöd aus der Wäsche.“ Er schien ein wenig klarer im Kopf zu werden, aber er erkannte in David noch immer nicht seinen Bruder.
„Komm schon, Charlie, gib mir den Stift, okay?“ Er streckte vorsichtig die Hand nach ihm aus und plötzlich und blitzschnell stach Charlie zu. Der spitze Bleistift bohrte sich in Davids Handrücken und er schrie laut auf und ging in die Knie.
„Was ist da oben los? David? Antworte! Du wirst Charlie doch nicht wehtun?“ Es war die Stimme ihres Vaters, die in einer Mischung aus Wut und Besorgnis zu ihnen nach oben drang, aber bevor David antworten konnte, trat Charlie ihn mit voller Wucht ins Gesicht. Seine Nase knackte, sie war gebrochen. Charlie hatte den Stift wieder in seiner rechten Hand und trat noch mal zu. „Du widerlicher Dreckskerl. Jetzt wirst du bezahlen für all die langen Jahre. David ist ein böser Name!“
David sah alles nur noch verschwommen. Er fiel nach hinten und lag nun auf dem Rücken wie Charlie drei Minuten zuvor. „Charlie, ich bin nicht der David aus der Schule. Ich bin dein Bruder!“ sagte er. Charlie stand über ihm.
„Es wird niemals wieder Zeigestöcke geben, und auch keine Holzlineale und zwei plus zwei ist verdammt noch mal VIER!“ Bei dem letzten Wort ließ er den spitzen Stift auf seinen Bruder niedersausen und rammte ihn in seine Brust. David schrie.
„Was ist denn da oben los?“ rief der Vater und machte sich auf den Weg ins Obergeschoss.
„Charlie, bitte, ich bin es nicht! Ich bin nicht...“ Aber bevor er zuende gesprochen hatte, stach sein Bruder ein weiteres Mal zu. „DAS ERGEBNIS IST VIER! EINS, ZWEI, DREI, VIER!“ rief er und jedes mal stieß er mit dem Stift wieder zu. Die letzten beiden Stiche erwischten David schwer, bevor der Bleistift endlich brach. Er hustete und Blut floss seine Lippen hinunter. Charlie schlug immer wieder auf Davids blutigen Oberkörper ein, bis sein Vater endlich das Zimmer betrat. Er schlug beide Hände vor das Gesicht, als er Charlie auf seinem Bruder hocken und mit den blutigen Fäusten immer wieder auf den jetzt leblosen Körper einprügeln sah.
Er stürzte auf ihn zu und riss ihn von David herunter. „Hör auf! Was tust du um Himmels Willen!“, schrie er.
„David ist ein böser Name, Daddy. David ist ein böser Name!“ Sally stand plötzlich in der Tür als sie David sah und Paul, der den nackten Charlie fest mit dem blutigen Rücken auf den Holzboden presste und als Charlie vor Schmerzen die Augen verdrehte, da begann sie zu schreien.
„David ist tot!“ rief Charlie. „Tot! Totes, kaltes Schwein!“ Er kreischte regelrecht in seinem Glück, auch wenn sein Gesicht schmerzverzerrt war.
Fassungslos starrte sein Vater ihn an, er sah zu David und dann wieder in Charlies leuchtende Augen.
„Was hast du getan, du wahnsinniger Irrer?! Was hast du nur getan?“, schrie Paul ihn an, während eine heiße Träne seine Wange herunter lief. Er riss seinen Oberkörper hoch und donnerte ihn wieder auf den Holzboden. Charlie gab einen dumpfen Laut von sich, aber Paul riss ihn wieder hoch ließ ihn noch mal auf die harten, unebenen Holzdielen fallen.
„...tot...“, krächzte Charlie und seine Gesichtszüge hatten nichts menschliches mehr. „Warum hast du das getan? Warum hast du das getan?!“ Immer wieder landete Charlies aufgerissener Rücken auf dem Boden.
„Du bringst ihn um“, kreischte Sally und rannte durch das Zimmer auf ihren Mann zu. „Bring ihn nicht um, Paul!“
Ein letztes Mal fiel Charlies Oberkörper zurück auf den Boden und Paul bemerkte erst jetzt die Blutlache, die sich unter seinem Sohn geblidet hatte.
Ein letztes Mal bewegten sich Charlies Augen und er sah seine völlig aufgelöste Mutter an.
„David...“, flüsterte er und lächelte.