Ein neuer Tag
Es ist kalt und dunkel. Ich höre das Toben des Windes, der den Schnee durch die leeren Straßen treibt. Kälte fühlt sich in der Dunkelheit noch viel schlimmer an, aber ich kann kein Licht machen. Schon lange gibt es keinen Strom mehr, was aber eigentlich kein Problem darstellen sollte, ich habe es kommen sehen und Kerzen gekauft. Was aber nützen die Kerzen, was nützt ihr warmer und sanfter Schein, wenn er mich verraten würde? Das nennt man wohl Ironie. Ich lausche dem Wind und schließe die Augen. Jetzt ist alles wie früher. Ein behagliches Zimmer in der Winternachmittagssonne. Ich liege in einer unmöglichen Position auf dem Sessel und lese ein Buch. Wenn ich zum Fenster sehe, erkenne ich leichte Schlieren, die von der Heizung aufsteigen und dahinter, draußen in der kalten Stadt, fällt Schnee und ich frage mich, ob es nicht doch zwei Schneeflocken gibt, die gleich aussehen.
Ich öffne die Augen und es ist so, als müssten sie sich wieder an die Dunkelheit gewöhnen.
Plötzlich höre ich ein Geräusch aus dem Treppenhaus. Ich halte den Atem an. Endlose Sekunden vergehen. Ich zähle sie. Eins. Kurze Pause. Zwei. Kurze Pause. Drei. Kurze Pause. Ich muss zählen, damit ich weiß, wie lange ich die Luft schon anhalte. Vor einiger Zeit habe ich nicht darauf geachtet und bin fast ohnmächtig geworden. Und dann wäre ich wehrlos.
Eigentlich bin ich immer wehrlos. Was sollte ich auch schon unternehmen, falls es in die Wohnung käme? Weglaufen? Verstecken? Keine Chance.
Also wäre es egal, denn in der Ohnmacht wäre ich wehrlos in der Wehrlosigkeit, und das ist nicht möglich, weil es keine Steigerung von wehrlos gibt. Aber ich glaube, dass es nicht egal ist. Ich glaube, dass allein die Tatsache, dass ich wach bin - dass ich in meiner eigenen Wohnung wach bin – dem was da draußen ist den Weg versperrt. Vielleicht auch deswegen, weil ich weiß, dass es existiert. Einer dieser Gründe, möglicherweise auch alle zusammen und eventuell noch einer oder mehrere, die ich nicht kenne, habe mich bisher geschützt.
Jetzt ist es ganz deutlich zu hören, als würde etwas Großes über den Boden geschleift. Es kommt näher und verharrt vor meiner Tür. Dann setzt es seinen Weg fort und wird allmählich leiser. Endlich darf ich wieder atmen. Mit aller Kraft widerstehe ich dem Verlangen meiner Lungen, schnell und viel Luft zu inhalieren. Ich dosiere den Bedarf, bis sich die Atmung wieder stabilisiert. Ich habe gelernt, vorsichtig zu sein.
Ich esse nur, wenn die Sonne aufgeht und da draußen so etwas wie ein Wachwechsel stattfindet, denn nachts hört es sich anders an als am Tage. Und manchmal, ganz selten und nur tief in der Nacht, verschwindet es plötzlich und ein leichtes Vibrieren geht in Wellen durch das Haus. Danach rührt es sich einige Zeit nicht mehr, ich kann aber die Anwesenheit von irgendetwas spüren. Ich weiß, dass es da draußen lauert. Mich kann es nicht mehr täuschen.
Ich hatte es kommen sehen. Die Zeichen waren eindeutig. Hatte es in den leeren Gesichtern der Menschen gelesen. Vor drei Wochen konnte ich das letzte Mal die Wohnung verlassen und hatte mich mit Lebensmitteln und Kerzen eingedeckt. Die Kassiererin fragte mich, ob ich einen Ausflug machen wollte. Ich dachte mir eine Lüge aus, damit niemand aufmerksam wurde. Ich glaube, ich habe ihr erzählt, dass ich die Sachen für Obdachlose spenden will.
Die Morgendämmerung kriecht heran. Ich schleiche ans Fenster und sehe hinaus. Die Straßen sind bedeckt von grauem Schnee und die Autos stehen in ihren Parkbuchten als sei nichts passiert und werden immer weiter vom Schnee vergraben, weil niemand mehr da ist, um sie zu befreien.
Ich habe es nie gesehen. Es verlässt das Haus anscheinend nicht. Vielleicht geht es in den Keller und ruht sich dort aus. Bin ich der letzte? Ist dieses Haus das einzige, in dem sie umherschleichen? Was würde passieren, wenn ich die Wohnung verlasse? Würde ich verschwinden, so wie alle anderen?
Im Herbst fing es an, soweit ich mich erinnern kann. Ende Oktober, als sich die Blätter der Bäume goldfarben oder rot gegen einen blauen Himmel abhoben. Ich war genau ein Jahr arbeitslos und voller Hoffnung auf dem Weg zu einem Vorstellungsgespräch, als ich an der Bushaltestelle sah, wie ein Mann verschwand. Er ging um eine Litfasssäule herum, bis er aus meinem Blickfeld war und tauchte nicht wieder auf. Als der Bus kam, auf den er, wie ich annahm, gewartete hatte, stieg er nicht ein. Obwohl ich den Bus hätte nehmen müssen, stand ich auf und ging zur Litfasssäule, weil mich eine Vorahnung beschlichen hatte. Der Mann war weg. Ich umrundete die Säule. Nichts. Er konnte sich nicht unbemerkt davongemacht haben, ich hatte meinen Blick die ganze Zeit über nicht abgewendet. Ich ließ das Vorstellungsgespräch platzen und setzte mich in ein Café. Ich musste nachdenken. Vielleicht hätte ich die Sache auf sich beruhen lassen, hätte es auf meine Aufregung geschoben oder auf meine manchmal nicht sachbezogene Sicht der Dinge, wie meine Mutter immer sagte. Vielleicht hätte ich alles auch einfach vergessen, verdrängt, was auch immer, so wie ich es gewohnt war, wenn ich mit der Welt nicht zurecht kam. Aber in der nächsten Woche geschah es wieder. Männer, Frauen, Kinder. Immer mehr und in immer kürzeren Abständen. Es stand in keiner Zeitung, war nicht im Fernsehen. Die Menschen verschwanden, und niemanden schien es zu interessieren. Eines Tages lief nur noch das Testbild und die Zeitung wurde nicht mehr geliefert und die Geschäfte hatten geschlossen. Und dann fiel der Strom aus und kam nicht wieder.
Ich öffne eine Dose und verschlinge kalte Ravioli. Meine Hand zittert vor Kälte und ich frage mich, wie lange ich es hier noch aushalte. Die ersten Strahlen der Sonne klettern über die Dächer. Die Wolken haben sich verzogen und der Wind ruht sich aus. Früher konnte man sehen, wie aus einigen Kaminen Rauch aufstieg. Jetzt lag die Stadt da wie aufgegeben, von den Menschen verlassen weil sie nutzlos geworden war. Ich lausche. Noch ist alles ruhig. So still war es noch nie. Vielleicht kommt es heute nicht. Aus der Toilette stinkt es bestialisch. Ich wage nicht, die Klospülung zu ziehen. Zum Glück ist es anscheinend für Ungeziefer zu kalt. Ich selbst rieche bestimmt auch nicht viel besser. Zuletzt habe ich mich vor drei Wochen gewaschen.
Als ich zum letzten Mal draußen gewesen bin, nach dem Kauf der Vorräte, habe ich gesehen, wie eine Frau verschwand. Sie war sehr schön und hielt ein kleines Mädchen an der Hand. Sie gingen an mir vorbei und ein wunderbar sanftes Parfüm folgte ihr. Ich sah kurz auf meine Armbanduhr und als ich wieder aufblickte, war die Frau verschwunden. Das Mädchen starrte mit offenem Mund in meine Richtung. Ihre Augen, ihre weit aufgerissenen Augen, schrien um Hilfe, schwammen in Panik und Furcht. Ihre Hand, an der sie gerade eben noch die Wärme ihrer Mutter gespürt hatte, war verschwunden, statt dessen hing dort ein schwarzer Klumpen, der von unzähligen nur stecknadelkopfgroßen Fliegen umschwirrt wurde, deren bösartiges Summen bis zu mir drang. Ich glaubte nicht, dass es Fliegen waren, ich glaubte auch nicht, dass diese wuselnden schwarzen Punkte in unsere Welt gehörten.
Ich wollte nicht blinzeln, ich wollte es wirklich nicht. Ich konnte das Mädchen doch in ihren letzten schmerzerfüllten Sekunden auf der Welt nicht alleine lassen. Aber ich blinzelte dennoch. Nicht einmal einen Bruchteil einer Sekunde verschlossen sich meine Augen vor dem, was geschah. Als sich die Augenlider wieder öffneten, war auch das kleine Mädchen verschwunden. Nichts deutete auf ihre Anwesenheit hin. Sogar der Duft des Parfüms ihrer Mutter hatte sich aufgelöst, so als hätte er niemals existiert.
Ich höre es wieder. Es wird niemals aufgeben.
Die Sonne scheint, keine Wolke ist am Himmel zu sehen.
Ich sehe auf die offene Dose. Ein Tropfen Tomatensauce wandert träge das Etikett hinunter. Ich mochte Ravioli noch nie.
Ungefähr eine Woche nach dem Vorfall mit der Frau und dem Mädchen hörte ich es zum ersten Mal. Der Strom war noch da, aber Fernsehen, Radio und Telefon waren tot. Meine Nachbarn hatte ich eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Natürlich konnte ich nicht wissen, ob das Geräusch etwas mit dem Verschwinden der Menschen zu tun hatten, aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass es so war. Es war die selbe Ahnung, die mich dazu bewogen hatte, Lebensmittel zu kaufen und in meiner Wohnung zu bleiben. Also vertraute ich ihr. Ich saß im Dunkeln auf dem Boden in meinem Wohnzimmer. Es war besser so, da war ich mir sicher.
Dann hörte ich das Geräusch. Ich erstarrte. Angst, die in den dunklen Ecken des Zimmers lauerte, kroch langsam auf mich zu. Es war vor der Tür. Es lauschte. Dann zog es weiter. Und seitdem ist es immer da. Hier im Haus und, das muss ich wohl annehmen, überall auf der Welt.
Wie lang soll das noch so weitergehen? Ich hatte gehofft, dass drei Wochen ausreichen würden. Dass es nach so langer Zeit davon überzeugt davon wäre, dass niemand mehr da ist.
Ich habe mal irgendwo gelesen, dass die Welt so ist wie sie ist, weil wir nicht da wären, wenn sie nicht so wäre, wie sie ist. Kann ich diese Weisheit auch umdrehen? Wäre die Welt - jedenfalls die Welt, die wir kennen - nicht mehr da, wenn wir nicht mehr da wären? Vielleicht existiert diese Wohnung, die Kälte, der Sonnenaufgang und diese beschissene Dose Ravioli nur noch, weil ich das alles sehe?
Ich stehe auf. Meine Gelenke knacken. Langsam gehe ich zur Tür.
Ich kann nicht mehr. Vielleicht werde ich verschwinden und die Welt besteht weiter. Dann wird nur noch ein Haufen Müll und eine Toilette voller Fäkalien beweisen können, dass ich jemals existiert habe. Vielleicht verschwindet die Welt mit mir, weil ich der Letzte bin. Wäre das schlimm? Würde ich es bedauern, würde es irgendjemand bedauern?
Ich öffne vorsichtig die Tür.
Jedenfalls nicht wegen einer Dose Ravioli.