Ein Obdachloser
New Yorker Geschäftsleute, alle in schwarz-blauen Nadelstreifenanzügen, eilten die Wall Street hinab. Die meisten blickten auf ihre teuren Uhren, während sie in der anderen Hand einen Aktenkoffer mitschwangen, so einfach, als wären die Koffer leer. Über allen baumelten amerikanische Flaggen, die von den Betonklötzen ausgingen. Das Sonnenlicht strahlte schräg durch den schmalen Korridor ein, den die Dächer der Hochhäuser dem Himmel ließen, wurde von den Fenstern gespiegelt und traf auf Lincolns Hut. Das war jeden Tag so. Es war seit vier oder fünf Jahrzehnten so. Lincoln lag auf dem Bürgersteig, mit dem Rücken gegen die Wand eines grauen, hässlichen Fertigbaus gelehnt und döste. Er wäre zertrampelt worden, wenn er nicht in seinen bunten Fetzen so aufgefallen wäre. Er suchte sich überall jede Kleidung zusammen, die er finden konnte. Gestohlen, würden manche sagen. Ja, und weiter? Lincoln musste sich seine Sachen stehlen. Am Tag bekam er von den reichen Börsenmaklern ungefähr 10 Dollar. Manchmal waren sie spendabler, aber das war selten. Heute hatte er immerhin schon 5 Dollar und 57 Cent in seiner kleinen Dose. Nun, manche spendeten auch Cents. Alles, was sie im Vorbeilaufen in ihrer Hosentasche fanden.
Obwohl es nicht so schien, war Lincoln sehr aufmerksam. Wer ihn mitleidig ansah, bei dem blickte er traurig auf. Das hatte sich über die Jahre bewährt. Das Problem war nur, dass die New Yorker sich allmählich an Obdachlose gewöhnten und ihr Geld lieber für sich behielten. Seine Augen zuckten unter der Hutkrempe berechnend hin und her.
Eine junge Frau blickte plötzlich von oben auf ihn herab.
„Sie tun mir aber Leid!“
„Ich tue mir selber Leid. Sind Sie eine Touristin, junges Mädchen?“
Er sah kurz auf ihren Rucksack und sie ebenfalls.
„Ja. Es ist eine schöne Stadt.“
„Nein, ist es nicht.“
„Wieso?“, wollte die Touristin wissen und nach einer Sekunde bereute sie auch schon ihre dumme Frage.
„Sehen Sie mich doch mal an. New York hat mir das angetan.“
„Wie meinen Sie das?“
„New York, mit seinen Trillionen Taxis, die jedes bisschen gute Luft aus diesem Drecksloch vertrieben haben!“
Die Touristin unterbrach ihn: „Aber zum Beispiel der Central Park. Da komme ich gerade her.“
„Ach, der Central Park! Ich bin dort nicht mehr sehr beliebt!“
Die Frau schaute ihn verdutzt an. Nach einer Weile, der Fluss aus Geschäftsleuten floss hinter ihr immer weiter und wurde nicht weniger, fragte sie: „Aber es war doch nicht New York, das Sie zum Penner gemacht hat, oder?“
„Ich mag das Wort Penner nicht. Ich bin ein Obdachloser.“
„Tut mir Leid...“
„Aber Ihre Frage... Wissen Sie, ich war früher ein reicher Mann, wie alle Leute hinter Ihnen.“
Die Frau drehte sich um und sah sich die Menschen an.
„Ja, ich war sogar noch viel reicher als die.“
„Was hatten Sie denn für einen Beruf?“
„Was mit Flugzeugen...“
„Genauer!“
Lincoln biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich wollte er nicht darüber reden, es war nur ein Beweis, wie er sein Leben verspielt hatte.
Ach, egal, sie hätte es morgen sowieso wieder vergessen.
Lincoln seufzte.
„Kennen Sie Lincoln Air?“
Sie überlegte einen Moment. Dann hatte Sie es anscheinend gefunden.
„Ja, diese Fluglinie, die bankrott gemacht hat. Mein Vater - er ist Pilot, müssen Sie wissen – ist ein paar mal für die geflogen. Er hat gesagt, so eine luxuriöse Behandlung hätte er selten erlebt!“
Die Touristin schien sich zu freuen, dass sie sich erinnert hatte, aber Lincolns Herz stockte. Die Frau wusste, warum er hier lag, aber sie schien es nicht zu begreifen. Lincoln half nach, er wollte kein Geld mehr an ihr verdienen, er wollte sie nur weg haben.
„Ich war Chef dieser Firma.“
Das Gesicht der Frau versteinerte, als hätte sie erst jetzt richtig realisiert, dass sie vor einem Bettler stand.
Sie reichte ihm wortlos einen 50-Dollar-Schein und mischte sich unter die Menge. Zwei Sekunden später war sie nicht mehr zu sehen.
Lincoln rief ein Dankeschön, aber es ging im allgemeinen Getrampel unter.