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Ein Obdachloser

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15.06.2007
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Ein Obdachloser

New Yorker Geschäftsleute, alle in schwarz-blauen Nadelstreifenanzügen, eilten die Wall Street hinab. Die meisten blickten auf ihre teuren Uhren, während sie in der anderen Hand einen Aktenkoffer mitschwangen, so einfach, als wären die Koffer leer. Über allen baumelten amerikanische Flaggen, die von den Betonklötzen ausgingen. Das Sonnenlicht strahlte schräg durch den schmalen Korridor ein, den die Dächer der Hochhäuser dem Himmel ließen, wurde von den Fenstern gespiegelt und traf auf Lincolns Hut. Das war jeden Tag so. Es war seit vier oder fünf Jahrzehnten so. Lincoln lag auf dem Bürgersteig, mit dem Rücken gegen die Wand eines grauen, hässlichen Fertigbaus gelehnt und döste. Er wäre zertrampelt worden, wenn er nicht in seinen bunten Fetzen so aufgefallen wäre. Er suchte sich überall jede Kleidung zusammen, die er finden konnte. Gestohlen, würden manche sagen. Ja, und weiter? Lincoln musste sich seine Sachen stehlen. Am Tag bekam er von den reichen Börsenmaklern ungefähr 10 Dollar. Manchmal waren sie spendabler, aber das war selten. Heute hatte er immerhin schon 5 Dollar und 57 Cent in seiner kleinen Dose. Nun, manche spendeten auch Cents. Alles, was sie im Vorbeilaufen in ihrer Hosentasche fanden.
Obwohl es nicht so schien, war Lincoln sehr aufmerksam. Wer ihn mitleidig ansah, bei dem blickte er traurig auf. Das hatte sich über die Jahre bewährt. Das Problem war nur, dass die New Yorker sich allmählich an Obdachlose gewöhnten und ihr Geld lieber für sich behielten. Seine Augen zuckten unter der Hutkrempe berechnend hin und her.
Eine junge Frau blickte plötzlich von oben auf ihn herab.
„Sie tun mir aber Leid!“
„Ich tue mir selber Leid. Sind Sie eine Touristin, junges Mädchen?“
Er sah kurz auf ihren Rucksack und sie ebenfalls.
„Ja. Es ist eine schöne Stadt.“
„Nein, ist es nicht.“
„Wieso?“, wollte die Touristin wissen und nach einer Sekunde bereute sie auch schon ihre dumme Frage.
„Sehen Sie mich doch mal an. New York hat mir das angetan.“
„Wie meinen Sie das?“
„New York, mit seinen Trillionen Taxis, die jedes bisschen gute Luft aus diesem Drecksloch vertrieben haben!“
Die Touristin unterbrach ihn: „Aber zum Beispiel der Central Park. Da komme ich gerade her.“
„Ach, der Central Park! Ich bin dort nicht mehr sehr beliebt!“
Die Frau schaute ihn verdutzt an. Nach einer Weile, der Fluss aus Geschäftsleuten floss hinter ihr immer weiter und wurde nicht weniger, fragte sie: „Aber es war doch nicht New York, das Sie zum Penner gemacht hat, oder?“
„Ich mag das Wort Penner nicht. Ich bin ein Obdachloser.“
„Tut mir Leid...“
„Aber Ihre Frage... Wissen Sie, ich war früher ein reicher Mann, wie alle Leute hinter Ihnen.“
Die Frau drehte sich um und sah sich die Menschen an.
„Ja, ich war sogar noch viel reicher als die.“
„Was hatten Sie denn für einen Beruf?“
„Was mit Flugzeugen...“
„Genauer!“
Lincoln biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich wollte er nicht darüber reden, es war nur ein Beweis, wie er sein Leben verspielt hatte.
Ach, egal, sie hätte es morgen sowieso wieder vergessen.
Lincoln seufzte.
„Kennen Sie Lincoln Air?“
Sie überlegte einen Moment. Dann hatte Sie es anscheinend gefunden.
„Ja, diese Fluglinie, die bankrott gemacht hat. Mein Vater - er ist Pilot, müssen Sie wissen – ist ein paar mal für die geflogen. Er hat gesagt, so eine luxuriöse Behandlung hätte er selten erlebt!“
Die Touristin schien sich zu freuen, dass sie sich erinnert hatte, aber Lincolns Herz stockte. Die Frau wusste, warum er hier lag, aber sie schien es nicht zu begreifen. Lincoln half nach, er wollte kein Geld mehr an ihr verdienen, er wollte sie nur weg haben.
„Ich war Chef dieser Firma.“
Das Gesicht der Frau versteinerte, als hätte sie erst jetzt richtig realisiert, dass sie vor einem Bettler stand.
Sie reichte ihm wortlos einen 50-Dollar-Schein und mischte sich unter die Menge. Zwei Sekunden später war sie nicht mehr zu sehen.
Lincoln rief ein Dankeschön, aber es ging im allgemeinen Getrampel unter.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Glorp,

Das Stadtbild, das du zunächst entwirfst ist stimmig und die Geschichte hat auch eine gewisse Spannung. Man ist schon darauf aus, zu erfahren, was es mit dem Obdachlosen auf sich hat.
Aber: Ein Großunternehmer, der für die Pleite seiner Firma tatsächlich persönlich mit dem eigenen Vermögen haftet? Liest man heute Zeitung, dann erscheint einem das weniger als erschreckend, sondern viel mehr in den meisten Fällen wünschenswert...
Und: Warum hat New York ihm das angetan? Die Stadt erscheint bei dir zwar als Sinnbild des modernen Kapitalismus, aber über das Bildhafte hinaus: War es nicht die herrschende Wirtschaftsordnung, die ihm das angetan hat?
Die beiden eben genannten Punkte bedürften, meiner Ansicht nach, nach einer Klärung, da sie so den eigentlich positvien Gesamteindruck trüben.


Gruß,
Abdul

 

Hallo Glorp

die Fragen, die Abdul aufwirft scheinen mir sehr berechtigt.
Ich allerdings hätte noch eine: was genau ist die Aussage deines Textes?
Ich begreife das Ende nicht. Warum spendet die Frau 50 Euro für den P... äh Obdachlosen? Hat er mehr Mitleid/ Hilfe verdient, nur weil er mal die dünne Luft von ganz oben kosten durfte?

Alles, was sie im Vorbeilaufen in ihrer Hosentasche fanden.
dieser Satz ist irritierend. Wenn sie alles spenden würden, was sie in ihren Taschen fänden, ginge es dem Obdachlosen sicherlich ziemlich gut ;)

Alles in allem recht dünn, wie ich finde.
Die eigentliche Dramatik, nach dem Motto "the higher you climb, the deeper you fall" sparst du aus. Daraus resultiert ein skizzenhafter Eindruck.

grüßlichst
weltenläufer

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Glorp,
Gratuliere, eine gute Anekdote.
Die Kritik an dem von Weltenläufer zitierten Satz ist zwar berechtigt, und sein Einwand klingt lustig. Aber insgesamt eine in sich stimmige anekdotenhafte Geschichte, die kontrastiert ohne zu kommentieren und frei von jeder Meinungsäusserung. Meine beiden Vorredner tun Dir Unrecht; jedenfalls schliesse ich mich deren Kritik nicht an, mit Ausnahme der kleinen sprachlichen Schwächen. Ein Meister fällt eben nur selten vom Himmel, gell?
Pfiffig finde ich, dass Du den Obdachlosen "Lincoln" nennst: Die Sonne, die auf Lincolns Hut fällt. Hier dachte ich an ein grosses Standbild, womit ich zunächst ganz automatisch, ohne es zu wollen, diesen Lincoln mit dem Präsidenten a.D. und schliesslich mit Amerika allgemein gleichgesetzt habe. Wenn dieser kleine Kniff wirklich Absicht war, dann, ist er gut gelungen. Der heruntergekommene, zerlumpfe Lincoln, der sich sein Zeug zusammestiehlt, wird so zum Sinnbild für den Verfall des Amerikanismus überhaupt.
Kurz, pointiert, gut. Weiter so!
Gruss
Claus

 

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