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- 01.09.2005
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Ein paar kommen nicht wieder raus
Gerrit hatte nicht damit gerechnet, die Brunnen-Passage in diesem Leben noch einmal zu betreten. Vor fünf Jahren hatte der letzte Händler die Türen geschlossen, ein Outdoor-Geschäft in der zweiten Etage. Mit dem Busbahnhof und den beiden Mulden hinter sich atmete Gerrit noch einen Zug kühler Herbstluft ein. Dann folgte er Youssef und Kira durch eine der sechs nebeneinander liegenden Glastüren. Die Scharniere knarzten.
Auf den schwarzen Gummimatten des Vorraums hatte man sich früher im Winter den Schnee von den Schuhen getreten. Heute roch es darin, als hätte jemand hineingepinkelt. Vor längerer Zeit allerdings. Der Uringeruch biss nicht. Er war fein, unterschwellig.
In einer Ecke lagen eine Spritze, eine Wodkaflasche und ein paar Dosen Red Bull. Mit dem Niedergang der Passage hatte sich das Publikum geändert. Schließlich war sie nur noch ein mehrstöckiger Durchgang von der oberen Altstadt runter zum Busbahnhof gewesen. Oder umgekehrt. Als sich keine Geschäftsleute mehr beschwerten, wenn jemand Graffiti sprühte oder den Darm in einen Blumenkübel leerte, gingen die Dinge ihren Weg. Irgendwann schloss die Stadt beide Eingänge ab.
Youssef hielt Kira und Gerrit die nächste Tür auf. Raus aus dem Vorraum, rein in die Passage. Gleich rechts war früher der Zeitschriftenladen gewesen. Links führte der Gang runter zum Supermarkt, geradeaus ging es am Schuhgeschäft und dem Asia-Imbiss vorbei zur Videothek. Vor deren offener Tür hatte Gerrit manchmal gestanden und Plakate mit Pumpkinhead und dem fäusteballenden Van Damme bewundert, in der Mittelstufe verdammt zum Dasein eines Peeping Tom. Der Eintritt war ab achtzehn gewesen.
„Wir gehen nach ganz oben“, sagte Youssef. „Da fangen wir an, da steht das meiste Zeug rum. Kisten und Kartons. Und mehr. Alles.“
„Da war mal die Stadthalle“, sagte Gerrit. „Als die raus war, haben sie wahrscheinlich eine Rumpelkammer draus gemacht.“
Sekunden des Schweigens. Gerrit fühlte etwas zwischen Nostalgie und der Angst, eines Tages zu riechen wie die Passage, aber er war allein damit. Kira war keine fünfundzwanzig, Youssef stammte womöglich nicht aus der Stadt, vielleicht nicht mal aus Deutschland. Sie verbanden nichts mit dieser Umgebung. Gerrit hatte hier drin geküsst, geklaut und vor dem Kino am anderen Ende der Innenstadt, das sein anderes zweites Zuhause gewesen war und das es inzwischen auch nicht mehr gab, noch Pommes oder gebratene Nudeln gegessen. Für seine beiden Begleiter war es ein großes, altes Haus voller Müll und mit Wasserschaden im vierten Stock. Falls sie in der Zeitung davon gelesen hatten. Wahrscheinlich hatten sie das nicht.
„Kann sein“, sagte Youssef. „Also, wenn du den Weg kennst, könnt ihr ja schon mal. Ich nehme die Türen raus, dann müssen wir da nicht immer durch.“
Gerrit und Kira stapften die erstarrte Rolltreppe hinauf. Zweiter Stock. HiFi-Peters, ein Friseur und Bekleidungsgeschäfte hatten dort früher Kundschaft empfangen. Es hatte Anzüge gegeben, etwas für Sie und zwei Läden für junge Leute. Auch ein Passbild-Automat hatte hier gestanden. „Kleinanzeigen.de?“, fragte Kira.
„Jo“, sagte Gerrit. Im Netz hatte Youssef geschrieben: Bin selbstständig suche für ein Tag Hilfe groß alte Haus ausräumen zahle gut.
„200 Euro für einen Tag sind ja nicht schlecht“, meinte Kira.
„Auf jeden Fall.“
Am Ende der Treppe blieben sie stehen.
„Was machst du sonst?“, fragte Kira.
„Journalist.“
„Wow.“
„Ach.“ Zuletzt war er beim Tag der offenen Tür im Autohaus Holtmann gewesen. Die hatten 40-Jähriges gehabt. Sie gingen weiter.
„Und du?“
„Studiere Lehramt.“
„Welche Fächer?“
„Bio und Chemie.“
„Auch wow“, sagte Gerrit. „Du bist Wissenschaftlerin.“
„Ach.“ Kira grinste. Sie gingen weiter. „Meinst du eigentlich, das ist legal, wie wir das hier machen?“
Gerrit zeigte mit dem Daumen über die Schulter. „Du meinst, ob er das versteuert oder irgendwas?“
„Zum Beispiel.“
„Niemals.“
Kira lachte. „Ich brauche dringend Kohle. Ich will nach Thailand.“
„Ich auch.“
„Ach krass, wann fliegst du?“
„Nein, das Geld mein ich.“
Sie gingen ein Stück schweigend und kamen an der Stelle vorbei, an der sich der Passbild-Automat befunden hatte.
„Wofür brauchst du’s?“, fragte Kira.
„Bin Vater geworden.“
Sie klatschte in die Hände. „Oh, herzlichen Glückwunsch!“
Gerrit zuckte zusammen. Das war zu plötzlich zu laut gewesen. Irgendetwas, irgendwo in der Passage, sah das ähnlich. Es raschelte. „Danke.“
„Was ist es denn?“
Gerrit stockte. Was sollte es sein? Dann verstand er. „Mädchen.“
Sie erreichten die nächste Treppe. Langgezogene Stufen wie bei einem Theater oder einem alten Kino führten zu einer Terrasse in Hufeisenform. In den besten Zeiten der Passage hatte das Café Glockheim eine Zweigstelle dort oben eingerichtet. Der Stammsitz lag seit Kaisers Zeiten neben dem Rathaus. Es gab mit Branchenpreisen ausgezeichnete Torten und unfair gehandelten Kaffee, weil das mit Ausnahme einiger Spät-Hippies und Politik-Lehrer noch kein Schwein interessiert hatte.
„Noch mehr Stufen.“ Kira seufzte. „Und dann das ganze Zeug da runterschleppen.“
„Tja“, sagte Gerrit. „Zur Stadthalle geht nochmal eine Rolltreppe rauf.“
Kira blieb stehen, geschockt. Gerrit ging weiter. Nachdem er ein paar Stufen allein genommen hatte, folgte sie ihm. „Hast du schon einen Namen?“
Gerrit sah sie kurz entgeistert an.
„Für deine Tochter.“
„Ach klar.“
„So ganz unter uns bist du nicht, oder?“
„Nicht so viel geschlafen zuletzt.“
„Kann ich mir vorstellen. Und wie soll sie jetzt heißen?“
Er dachte kurz nach. „Daenerys.“
Kira blieb wieder stehen. „Ernsthaft?“
„Quatsch.“ Hanne würde sich eher die Daumen abschneiden. Oder ihm. „Juliane fände ich gut.“
Kira stapfte schnell weiter, um ihn einzuholen. „Hast du mich mit oben kommt noch eine Treppe vielleicht auch verarscht?“
„Nein.“
„Schade.“
Sie kamen an im Café Glockheim. Der Auszug war ein Fanal gewesen damals. Ein Geschäft schließt mal hier und da, so ein Boot geht unter. Aber Leere auf Etage drei? Das war ein Tanker, der im Untergehen einen Sog erzeugte, der alles mit sich in die Tiefe riss.
Statt der überlebensgroßen Schwarz-weiß-Fotografien von Kaffee-und-Kuchen-Porzellan in Nahaufnahme, mit Pferdegespann und Schlossgarten im Hintergrund, schmückte jetzt Gesprühtes die Wände. Zwei Katzen spielten Playstation, ein Polizist trug Seitenscheitel und hatte seinen Oberlippenbart seitlich gestutzt. Außerdem Genitalien, das Anarchie-Zeichen und das Wu-Tang-W. Oder das Symbol der Klingonen? Nicht alles war eindeutig, wie es sich für Kunst gehörte. An den Tresen, auf dem früher Gebäck unter Glasglocken ausgestellt war, hatte jemand geschrieben: Der Schnitter hat mich aufgegeben.
„So, so“, sagte Kira.
„Tja“, meinte Gerrit.
„Lost Place.“
„Irgendwo kommen die Vögel rein.“ Überall war ihr Kot, auf dem Tresen hatte sich eine dicke Kruste gebildet.
Kira rümpfte die Nase. „Und ein paar kommen nicht wieder raus.“
Vor dem Tresen lag ein kleiner Haufen grauer Federn. Dünne Knochen staken daraus hervor. Gerrit beugte sich darüber. „Ich hab noch Masken im Auto von Corona“, sagte er. „Wenn wir wieder unten sind, hole ich uns die, ist glaube ich besser. Hätte er da unten eigentlich auch dran denken können.“
„Finde ich auch.“ Kira drehte sich langsam um sich selbst und ließ den Blick schweifen. „Heftig, dass du das hier noch kennst. Ohne tote Vögel.“
„Ja“, sagte Gerrit. Er ging am Tresen vorbei zur Rolltreppe und zeigte hoch. „Eine noch.“
Kira schnaufte. „Ich sterbe.“
Auf der Rolltreppe lagen noch mehr Federn. An einigen klebte Blut.
„Bah.“ Kira nahm zwei Stufen auf einmal. „Was ist da denn passiert?“
Gerrit stoppte und beugte sich über die blutige Hinterlassenschaft. „Fliegen in Panik vor die Wände“, sagte er. „Oder ein anderes Tier.“
Kira blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Was denn für ein anderes Tier?“
Gerrit sah sich um. In einem der Glaskästen links entlang der Rolltreppe hing noch ein Plakat. Es kündigte den Auftritt eines Komikers an, der sein Geld inzwischen im Internet verdiente. Unter anderem hatte er mal behauptet, auf dem Foto aus dem Warschauer Ghetto, auf dem der Junge die Hände hoch hält, trage der Soldat hinter ihm ein Maschinengewehr, das es zu dem Zeitpunkt noch gar nicht gegeben habe.
„Wenn die Vögel reinkommen, kommen andere vielleicht auch rein“, sagte Gerrit. „Katzen. Katzen und Vögel. Rest ist klar.“
„Ich will Handschuhe“, sagte Kira.
„Wegen Katzen?“
„Wegen Katzenkacke und Vogelkacke und den ganzen Kadavern und überhaupt. So habe ich mir das ehrlich gesagt nicht vorgestellt. Das ist ja eklig.“
Gerrit ging weiter. „Sieh es als Abenteuer. Wie Thailand.“
Kira lehnte sich gegen den Handlauf der Rolltreppe. „Geh vor, du kennst dich aus.“
Am Ende der Rolltreppe lag das Foyer der Stadthalle. Gedämpftes Sonnenlicht fiel durch verdreckte Fenster weit oben in den Wänden. In der Ecke lag eine rote Kordel. Gerrit ging auf die beiden großen Flügeltüren zu. Er erinnerte sich, wie er sich schon vor mehr als zwanzig Jahren beim Anblick dieses opulenten Portals gefragt hatte, was vor der Stadthalle dahinter gelegen haben mochte. Ein preußischer Tanzsaal? Hatten lange vor ihm Abiturienten wie er darin geschwoft, bevor sie in Frankreich Senfgas atmeten? Dann hatte er das erste Bier aufgemacht und der Gedanke war verflogen. Bis jetzt.
Er zog die Türen auf, schubste sie auseinander und blieb kurz mit ausgestreckten Armen stehen. Muffiger Geruch brandete über ihn hinweg: Vergilbtes Papier, verstaubte Möbel, Kleintierkot. Er drehte sich zu Kira um. „Voilà.“
Sie kam näher, behielt den Boden dabei im Auge. Schließlich blickte sie hoch und in die Halle hinein. Der vordere Teil war schwach illuminiert von dem, was aus dem bereits dämmerigen Foyer an Licht übrig blieb. Ein paar Meter in den Raum hinein lag eine Grenze, hinter der tiefes Schwarz die Welt verschluckte.
Von hier aus, schätzte Gerrit, sahen sie etwa ein Fünftel der alten Stadthalle. Im Zentrum des Raums thronte ein Gebirge aus Gerümpel. Seine Ausläufer ragten aus der Dunkelheit heraus: Sitzbänke, Kleiderständer, ein Regal. Hier oben hatten die Sachen niemanden gestört. Jedenfalls so lange, bis nun also tatsächlich jemand Geld auf den Tisch gelegt hatte. Für ein Kinocenter unten und oben Wohnungen, sagten die einen. Um es in irgendeinem Immobilien-Fonds zu parken und ohne tatsächliche Absicht, irgendwann irgendwas damit zu machen, sagten die anderen.
Gerrit entfuhr ein spöttischer Zischlaut.
„Was?“, fragte Kira.
Er hatte eine Vision von seinem Abiball gehabt, hatte sich mit Maike Wisskott tanzen und mit Marco Wedemeyer auf das vor ihnen liegende Leben voll kompromissloser Selbstverwirklichung anstoßen sehen. Sepiabilder bewegten sich zu Klaviertönen, und als Gerrit vom Parkett zur Theke wechselte, sprach er tonlos zu Maike, während das Klavier weiter klimperte. Dann wechselte das Bild zu einer verschnörkelten Texttafel, auf der stand: Ich gehe mal kurz rüber zu Marco.
„Nichts“, sagte er. „Wir müssen Youssef fragen, ob er Taschenlampen dabei hat.“
„Gibt es denn keinen Strom mehr?“
„Das wird alles abgeklemmt sein. Siehst du einen Schalter außerdem? Es gibt so einen zentralen Kontrollraum, noch über der Halle.“
Die Tür dorthin befand sich dem Eingang gegenüber, rechts neben der Bühne. Von dort oben waren auch Durchsagen gekommen wie Sehr geehrte Kunden, die Brunnen-Passage schließt in dreißig Minuten. Beim Ball hatte die Tür offen gestanden und Gerrit hatte mit anderen davor herumgelungert und überlegt, hineinzugehen, das Mikrofon zu finden und Dinge hinein zu sprechen, die man mit achtzehn lustig findet. Eine Thekenbedienung hatte sie freundlich aber entschlossen gebeten, einen Schritt zur Seite zu machen, und dann die Tür geschlossen. Ein Schild hatte daran geklebt, schwarze Schrift auf gelbem Hintergrund: Technikzentrale. Zutritt für Unbefugte verboten.
Kira machte die Taschenlampe ihres Handys an. Gerrit tat es ihr gleich. Das Müllmassiv vor ihnen war nun etwas besser zu erkennen. Es dokumentierte den Lebenszyklus der Brunnen-Passage von den zehn hervorragenden über die zehn guten bis zu den zehn Jahren, in denen ein Geschäft nach dem anderen geschlossen hatte. Vor dem Berg lag ein Aufsteller des Asia-Imbisses. Mittagstisch Huhn mit Reis und Gemüse.
„Wir werden mehr Licht brauchen“, sagte Gerrit. Er leuchtete in einen Tunnel, der sich beim Müllstapeln gebildet hatte. In der Entfernung glaubte er etwas zu sehen, das die Hülle einer Videokassette sein musste, ein Relikt aus den Regalen von HiFi-Peters.
Auf allen vieren kroch Gerrit in den Tunnel hinein.
„Ey, bist du bekloppt?“, fragte Kira. „Das kann doch alles über dir zusammenbrechen!“
„Ich muss was gucken.“
„Was denn?“
„Da hinten liegt glaube ich ein Film. Ich muss wissen, welcher das ist.“
„Was denn für ein Film?“
„VHS.“
„Das kann doch nicht dein Ernst sein.“
„Deine Generation versteht das nicht.“
„Mach wenigstens die Kamera an, dass wir das für YouTube haben, falls du stirbst.“
Gerrit drehte sich um. Kira zuckte die Schultern. „Das war ein Witz, aber im Ernst jetzt.“
„Hör mal“, sagte Gerrit. „Wenn der Haufen zusammenkrachen könnte, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass das ausgerechnet jetzt-“
Tap-Tap-Tap. Das Geräusch vor sich im Tunnel ließ ihn herumfahren. Er streckte den Arm aus, um mit dem Handy weiter hinein zu leuchten. Ein Stück weit hinter der Kassette ging es nach rechts um die Ecke, in eine Verlängerung des Tunnels oder eine Höhle. Tap-Tap-Tap.
Gerrit zuckte zusammen. Das Tier trat ins Licht. „Oh, nein.“
„Was ist?“, fragte Kira. Gerrit blockierte ihre Sicht.
Zu sprechen traute er sich nicht. Er wollte die Ratte nicht auf sich aufmerksam machen.
„Was ist denn?“, fragte Kira wieder.
Gerrit machte ein Handzeichen: Still. Er war nicht sicher, ob das Tier ihn bemerkt hatte. Der Nager bewegte sich plump und schläfrig. Der Schwanz lag schlaff auf dem Boden. Außerdem schien das Atmen der Ratte große Kraft abzufordern.
Gerrit begann, rückwärts aus dem Tunnel zu kriechen. Das Handy in seiner Hand und mit ihm das Licht bewegten sich auf und ab. Die Ratte war zu sehen und wieder nicht, zu sehen und wieder nicht.
Sie stellte sich auf die Hinterläufe. Gerrit erstarrte. Ihr Körper dehnte sich und zog sich wieder zusammen. Dann schrie sie. Sie quiekte nicht, sie schrie, und sie tat es wieder und wieder, während sie auf ihn zu hüpfte. Es war ein Angriffsgebrüll. In Panik wich Gerrit zurück und rief: „Mach Platz, mach Platz, mach Platz!“
Als er aus dem Tunnel heraus war, stand er nicht auf, aus Angst, es könnte zu lange dauern. Stattdessen drehte er sich und rutsche weiter auf dem Hintern rückwärts. Die Ratte kam aus dem Tunnel gesprungen und war bereits auf Höhe seiner Füße. Kira schrie, als sie den Bewohner des Gerümpelhaufens sah. Im Reflex trat sie zu. Die Wucht nahm der Ratte den Atem für ihren Laut. Sie flog durch die Luft und blieb ein paar Meter weiter liegen.
Gerrit kam auf die Beine. „Danke.“ Er leuchtete auf den Boden. Die Ratte hatte kleine Blutflecken hinterlassen. „Du hast sie voll erwischt.“ Er stutzte. Eine Spur roter Spritzer führte auch zurück in den Tunnel. Irgendwas hatte sie schon vor Kira erwischt.
Langsam ging Gerrit auf die Ratte zu. Das Nagetier lag auf der Seite. Der kleine Körper hob und senkte sich noch immer, aber viel langsamer als zuvor.
Kira trat hinter Gerrit. „War ich das?“, fragte sie. „Das wollte ich nicht.“
Die Schnauze ging noch ein paar Mal auf und zu. Schließlich erstarrte alles an dem Tier.
Gerrit zog einen Regenschirm mit CDU-Logo aus dem Haufen. Mit der Spitze tippte er die Ratte ein paar Mal an. Das Fell war nass, matschig geradezu. Er drehte sie auf die andere Seite. „Siehst du das?“ Mit der Schirmspitze deutete er auf mehrere Löcher in der Ratte. „Sie muss sich in dem Haufen an irgendwas aufgespießt haben.“
Kira packte ihn am Oberarm. „Wie soll das denn passiert sein? Das sieht eher aus, als hätte was reingebissen.“
Gerrit ging in die Hocke, um die Wunden näher zu betrachten. „Für eine Katze zu groß“, sagte er. „Ein wilder Hund vielleicht.“
„Ach, leck mich“, sagte Kira. „Ein wilder Hund dann auch noch. Ich glaub, ich bin raus. Außer dem Flug ist Thailand nicht teuer. Außerdem-“
Etwas klickte. Gerrit fuhr herum. Im Eingang stand Youssef, mit Rucksack auf dem Rücken und einer großen, grellen Taschenlampe in der Hand.
„Nicht erschrecken“, sagte er. „Sorry, ich dachte, ihr hättet mich gehört.“
Kira stemmte die Fäuste in die Hüfte. „Hier gibt’s Ratten.“ Sie zeigte auf den Beweis am Boden.
Youssef zuckte die Schultern. „Klar. War mir nicht sicher, aber hab vorsichtshalber was gemacht.“
„Was gemacht?“, fragte Gerrit.
Youssef kam auf sie zu. „Sucuk ausgelegt. Mit Gift. Schon vor einer Weile.“ Er leuchtete das tote Tier an. „Hat auch was gebracht.“
„Was für Gift?“, fragte Gerrit. „Explodiert nach dem Fressen?“
Youssef betrachtete das blutverschmierte Tier. „Rattengift gibt immer Sauerei“, stellte er fest. „Jedenfalls wenn du welches nimmst, das wirkt.“ Er schob die Ratte ein Stück mit dem Fuß und trat sie dann bis zur Wand.
„Sehr respektvoll“, sagte Kira.
Youssef leuchtete sie an. „Es ist ’ne Ratte.“ Er legte die Taschenlampe auf den Boden und nahm den Rucksack ab. Daraus holte er Arbeitshandschuhe und FFP2-Masken hervor. Eine solche Kombination gab er an Gerrit. „Ein mal für dich.“ Die nächste an Kira. „Und ein mal für dich.“
Ein letztes Paar Handschuhe und Maske zog er selbst über und klatschte in die Hände. „Legen wir los!“
Gerrit trug zwei Stühle die Rolltreppe hinab, ging durchs Café weiter nach unten an der Videothek vorbei und schließlich durch den Pipi-Vorraum. Youssef hatte die Glastüren aus den Scharnieren geschraubt und sie gegen die Wand gelehnt. Gerrit trug die Stühle zu einer der Mulden und warf sie in hohem Bogen hinein. Dabei versuchte er, nicht an die Ratte zu denken. Er fühlte Ekel, aber auch Mitleid nach dem qualvollen Totentanz des Tieres. Vergiftete Sucuk, was für eine hinterfotzige Nummer. Was er für Angriffsgebrüll gehalten hatte war ein Schmerzensschrei gewesen. Schmerz und Angst. Er war mit seinem kalten Licht in ihr Haus gekommen, während die Todeswurst den Spieß umgedreht und sie von innen aufgefressen hatte. Rattengift gibt immer Sauerei. Wussten Ratten vom Ende? Gerrit vermutete, diese hier hatte so eine Ahnung gehabt.
Youssef kam kurz nach Gerrit raus. Er hatte sich den Aufsteller des Asia-Imbisses geschnappt. Auf dem Weg zu den Mulden klingelte immer wieder sein Handy. Der Ton war das Intro zu einem alten Rap-Album, mit amerikanischen Polizeisirenen und vielen N-Bomben.
„Ja, ja, ja, Bruder, meine Fresse!“ Youssef warf das Schild in die Mulde. Um ans Telefon zu gehen, zog er einen Handschuh aus. „Mindestens ein Tag“, sagte er. „Mindestens.“ Genervtes Durchatmen. „Vergiss es, Bruder, nein.“ Zum Telefonieren lehnte er an an der Mulde und steckte sich eine Zigarette an. „Mindestens ein Tag. Ein ganzer, ja. Inshallah.“
Er klemmte das Handy zwischen Ohr und Schulter und hielt Gerrit die Schachtel hin. Gerrit winkte ab. Nach der Geburt hatte er noch eine draußen vor dem Krankenhaus geraucht. Dann hatte er die Schachtel mit den letzten vier Zigaretten in den Mülleimer neben der Sitzbank geworfen.
Kira kam ihm entgegen auf dem Weg zurück. Sie trug einen Karton. „Warte mal bitte auf mich, ist unheimlich allein da oben“, sagte sie. Gerrit wartete und sie gingen gemeinsam wieder hoch.
In der Halle richtete er die Handylampe auf die tote Ratte an der Wand. Unterwegs zerfaserte das Licht, so dass der kleine Körper kaum noch zu erkennen war. Er zog die Maske runter. „Hattest du noch mal nach Taschenlampen gefragt?“
Auch Kira zog die Maske vom Gesicht. Vergessen.“
Gerrit nickte. „Auch.“
Kira zeigte auf die Ratte. „Die trage ich übrigens nicht nach unten. Auch nicht im Karton oder eingewickelt oder irgendwas. Das kann er selbst machen mit seiner Giftwurst, so was Gemeines.“
Gerrit hockte sich vor den Tunnel im Gerümpelberg und leuchtete hinein. „Vielleicht sind noch mehr drin.“
„Kann mich nur wiederholen“, sagte Kira.
Gerrit sah kurz hoch zu ihr und blickte wieder nach vorn. Seine Augen waren fixiert auf die Abzweigung nach rechts, von wo auch die Ratte gekommen war. Er hatte sich nichts bei den Fingern der Schaufensterpuppe gedacht, die von dort um die Ecke in den Tunnel ragten. Jetzt allerdings konnte er die ganze Hand sehen und ein Stück des Unterarms. Als ob … Er wechselte ein paar Mal die Position, blieb weiter in der Hocke. Vielleicht lag es am Blickwinkel.
„Alles in Ordnung?“, fragte Kira.
Als Gerrit gerade Ja sagen und sich wieder hinstellen wollte, zuckte der Zeigefinger der Puppe. „Ach du Scheiße“, flüsterte er.
Kira machte einen Schritt zurück. „Oh, nein, nicht ernsthaft noch eine!“
Er schüttelte den Kopf. „Ich-“ Das nächste Zucken. Es war weniger stark als das erste, aber weil er sich darauf konzentrierte nicht zu ignorieren. Die Puppenfinger bewegten sich.
Ohne sich umzudrehen, winkte er Kira zu sich hinunter.
„Ich will nicht“, sagte sie.
„Keine Ratte“, erklärte Gerrit. „Guck mal bitte.“
Nach einigem Zögern hockte Kira sich neben ihn. Er zeigte in den Tunnel hinein. „Da liegt wer.“ Er sprach leise und drehte ihr den Kopf zu ihr, damit sie seine Lippen lesen konnte. Kira sah einige Male zwischen ihm und der Puppenhand hin und her. Ihr Kinn schrubbte über die Maske vor ihrem Hals.
„Es sieht aus-“ Weiter kam sie nicht. Wieder zuckten die Finger, sehr kräftig diesmal. Kira presste die Hand vor den Mund.
„Was machen wir denn jetzt?“, flüsterte sie. „Wer ist das?“
Gerrit hatte es für eine Puppenhand gehalten wegen seiner unnatürlichen Farbe, ein dunkles Gelb wie ranziger Vanillepudding. „Obdachloser“, flüsterte er zurück. „Junkie. Ein obdachloser Junkie. So viele Möglichkeiten gibt es glaube ich nicht.“
„Hallo?“, rief Kira in den Tunnel hinein. Gerrit zuckte zusammen. Vor Schreck fiel ihm das Telefon zu Boden.
„Was machst du?“, fuhr er Kira an, während er es wieder aufhob.
Sie sah ihn an. Strenger Blick. „Was hattest du denn vor? Warten, bis wir bei ihm angekommen sind und ihn dann unten in die Mulde werfen?“
Ein Stöhnen drang aus dem Tunnel. Es klang wie eine Frau.
„Brauchen Sie Hilfe?“, fragte Kira. „Wir können helfen!“ Sie krabbelte in den Tunnel.
„Jetzt warte doch erst mal!“, flüsterte Gerrit ihr nach. „Mann!“
Auf ihrem Weg schob Kira die Videokassette beiseite. „Können Sie sich mit den Füßen abstoßen und mir entgegenkommen?“
„Nein!“, schimpfte Gerrit. „Nichts stoßen da drin, bist du bekloppt?“ Er horchte auf knarzende oder knarrende Geräusche, Warnhinweise. Grundsätzlich blieb er dabei: Sie müssten schon wirklich Pech haben, wenn der Tunnel ausgerechnet jetzt zusammenkrachte. Aber manchmal stürzte das Flugzeug eben ab, manchmal hatten Menschen: Pech.
Dass sie überhaupt da reingekrochen ist, dachte Gerrit. Vielleicht war sie eingeklemmt und lag wie lebendig begraben da drin. Und wäre ihr Trio nicht ausgerechnet heute hier aufgeschlagen, um den Müll rauszutragen, wäre es dabei geblieben.
Kira kam zurück. Weil sie die Gerettete mit sich zog, dauerte es bedeutend länger als der Weg hinein. „Kommen Sie, ein kleines Stück noch“, sagte sie. „Wir sind gleich raus.“
Als sie in Griffweite kam, schob Gerrit das Handy in die Hose und streckte die Hände aus, um Kira zu helfen. Es kostete Überwindung. Erbrochenes klebte an der Lederjacke der Frau. Es roch auch danach. Bei näherem Hinsehen war die Frau aus dem Müllberg keine Frau, eher ein Mädchen. Eine sehr junge Frau vielleicht. Nicht viel älter als Kira.
Das Mädchen aus dem Müll hatte auch Blut erbrochen. Es war rot ans Kinn getrocknet, ein scharfer Kontrast zu ihrer wächsernen Vanille-Haut. Ihre Augen schimmerten in einem hellen, glasigen Blau mit viel zu großen Pupillen. Was immer sie genommen hatte, dachte Gerrit, sie war möglicherweise noch drauf.
„Zum Glück sind wir hier“, sagte Kira. „Jetzt wird alles wieder gut.“ Sie strich ihr übers karottenfarbene Haar. „Wie heißt du?“ Sie waren sich jetzt wohl nahe genug, um aufs Sie zu verzichten.
Die halb offenen Augen des Mädchens zitterten. Die Ursache, vermutete Gerrit, hatte ihren Weg in den Körper entweder durch die Nase oder über eine Nadel gefunden.
„Vergiss es“, sagte Gerrit. „Sie-“
„Indre“, flüsterte das Mädchen.
Kira nickte. „Indre“, wiederholte sie. „Es ist alles gut, Indre, wir-“
Diesmal überraschte Youssef sie nicht. Auf dem Weg die Treppe hoch summte er irgendeinen orientalischen Schlager. Schließlich stand er wieder in der Tür.
„Was macht ihr denn jetzt schon wieder?“ Er zog die Maske runter. „Ich will hier heute …“ Ihr Vorgesetzter für einen Tag erkannte, dass sie zu dritt waren. Er kam näher und leuchtete Indre an. Sie stöhnte auf, schloss die blauen Augen und wandte den Kopf zur Seite.
„Nicht so direkt ins Gesicht“, sagte Kira.
„Wer ist das?“, fragte Yousseff. Kiras Hinweis ignorierte er.
„Hat da drin gelegen.“ Gerrit deutete auf den Tunneleingang.
Youssef zupfte an seinem Kinnbart. „Aber wer ist das denn?“
„Ist doch egal jetzt“, sagte Kira. „Wer ruft den Krankenwagen?“
„Ey!“, protestierte Youssef. „Dann werden wir heute auf keinen Fall mehr fertig! Wir helfen ihr raus und Salam Aleikum.“
„Jetzt mach mal ’n Punkt“, sagte Gerritt. „Ihr geht’s offenkundig dreckig.“
„Hast du schon mal gekotzt nach dem Feiern?“, fragte Youssef. Auch er hatte also Brocken und Geruch bemerkt. „Bist du dann immer gleich ins Krankenhaus?“
„Das ist doch wohl was anderes“, sagte Gerrit. „Sie sieht aus …“ Er sah runter zu Indre. Als würde sie gleich verrecken, lag es ihm auf der Zunge. Noch ehrlicher: Als hätte sie’s bereits getan. Keines von beiden. Indre war eine junge Frau, wie seine Tochter auch mal eine sein würde. „Als ob sie einen Krankenwagen braucht“, sprach er den Satz zu Ende. „Und den rufen wir jetzt auch. Kira hat Recht.“
Indre fing an zu zittern. Erst leicht. Dann zappelte sie wie ein gefangener Fisch.
Kira nahm ihre Hand. „Was machen wir denn jetzt, was ist das?“
„Epilepsie?“, fragte Gerrit. Er schämte sich für den hilflosen Klang seiner Stimme.
Youssef seufzte ungeduldig und wendete den Kopf nach links. Dann legte er seine Taschenlampe ab und hockte sich neben Kira. „Geh mal zur Seite.“ Er schob sie weg. „Der kleine Bruder von meiner Freundin hat so was auch.“ Er kniete sich hin und legte Indres Kopf auf seine Oberschenkel.
„Sie verschluckt ihre Zunge“, sagte Gerrit.
„Nein, das ist Blödsinn, Bruder“, sagte Youssef. „Aber die Zunge kann vor die Luftröhre rutschen.“ Er sah zu Gerrit. „Ruf Krankenwagen jetzt, zackig.“
Das Telefon steckte fest in Gerrits Hosentasche. Während er versuchte es herauszuziehen mit Fingern, die jetzt ebenfalls zitterten, legte Kira eine Hand auf Indres Wange. Indre hielt Kiras Unterarm. „Wird alles gut“, sagte Kira. „Wir sind hier.“
Indre hob den Kopf an. Gleichzeitig zog sie Kiras Arm zu sich. Was sie als nächstes tat, ließ Kira verwirrt dreinblicken. Youssef schüttelte den Kopf.
Indre küsste Kiras Unterarm. Immer länger, immer leidenschaftlicher. „Ist okay“, sagte Kira. Sie wirkte angeekelt wegen der Kotze, aber auch amüsiert. „Wir sind … oh, hey.“ Ihr Lächeln zeigte jetzt eher Verwirrung. Indre presste die Lippen fest auf den Stoff von Kiras Pullover, ohne abzusetzen.
„Warte, mal.“ Kira legte die freie Hand auf Indres Kopf. „Das ist jetzt irgendwie … hey, autsch!“
Kira zog zurück. Indre griff fester zu. „Hör mal bitte auf!“ Kira presste die Hand gegen Indres Stirn. „Du-AUA, EY!“ Sie schlug zu. Der Hieb wirbelte Indres rote Haare durcheinander.
Youssef, der eben noch den Hinterkopf gehalten und angehoben hatte, machte jetzt das Gegenteil: Er hatte die Hände um Indres Stirn gelegt und zog. „Hey!“, sagte er. „Hey, hey, hey! Loslassen! Hey!“
Kira schlug noch einmal zu, mit der Faust diesmal. „Lass los!“, schrie sie. „Du tust mir weh!“
Indre stöhnte.
Zwischen Jackenärmel und Handschuh lag bei Youssef ein Stück vom Unterarm frei. Im Schummerlicht der Taschenlampe auf dem Boden sah Gerrit, wie er die Muskeln anspannte. Indres Kopf bewegte sich kaum. Sie hatte sich festgebissen wie ein Pitbull.
Yousseff weckte Gerrit aus der Schockstarre: „Mensch, hilf mir jetzt, du Vogel!“
Gerrit packte Kira an den Schultern und zog.
„Auf drei!“, rief Youssef und krallte sein Finger in Indres Haare. Gerrit nickte.
„Eins!“
Jetzt ließ Indre Kira los und fuhr herum, sodass sie auf der Seite lag. Sie packte Youssef am Hinterkopf. „Hurensohn!“, schrie er.
Blitzschnell zog Indre sich hoch und biss zu. Sie klebte an Youssefs Hals wie zuvor an Kiras Arm. Youssef kreischte. Blut floss. Sehr schnell sehr viel. Indre musste die Halsschlagader erwischt haben.
Gerrit hatte jetzt Angst, Indre anzufassen. Hier war ihr wilder Hund, mit Lederjacke und roten Haaren, und er schnappte um sich. Er griff nach Youssefs Taschenlampe.
„Mach!“, schrie Kira. „Sie ist irre!“
Gerrit schlug zu. Die Taschenlampe traf Indres Hinterkopf. Youssef schrie nicht mehr. Aus seinem Mund floss Blut. Seine Augen waren weit aufgerissen und leer. Das Leben floss aus ihnen wie das Blut aus seinem Hals. Die Hände in Arbeitshandschuhen plumpsten zu Boden. Da war noch ein Geräusch. Schlucken. Indres Kehlkopf hüpfte auf und ab. Gerrit schlug wieder zu. Indres Kopf bewegte sich nicht.
„Noch mal!“, rief Kira. „Schlag zu!“
Gerrit griff Kira am Oberarm. „Lass uns abhauen.“
„Was?“
„Wir hauen ab jetzt!“ rief Gerrit. „Es hat keinen Zweck mehr!“ Er zog Kira, Kira hielt dagegen. Indre ließ Youssef fallen. Sein Hinterkopf schlug mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden. Indre machte einen Satz und landete auf allen vieren. Bis zur Nasenmitte und den Schläfen war ihr Gesicht blutverschmiert. Auch aus ihren Haaren tropfte es. Gerrit und Kira erstarrten.
Indre hockte wie ein Affe und fauchte wie eine Schlange. Im Halbdunkel sahen die Eckzähne kurz aus, als wären sie lang wie Streichhölzer.
Gerrit zog Kira nach links. Indre lehnte den Kopf nach rechts. Wenn sie zum Eingang wollten, mussten sie an ihr vorbei. Vergiss es, dachte Gerrit. Und noch etwas schoss ihm durch den Kopf: Zutritt für Unbefugte verboten.
Der Kontrollraum! Sie müssten dafür um das Müllmassiv rennen und hoffen, dass dessen Fuß unterwegs nicht irgendwo bis zur Wand ragte. Wenn sie erst klettern müssten oder stolperten-
Indre schrie auf. Sie sah zu ihrem Fuß. Ein Schraubenzieher steckte zwischen Knöchel und Achillessehne. Youssef hielt den Griff noch kurz fest, dann ließ er los und sein Kopf fiel wieder auf den Boden.
„Lauf!“, rief Gerrit.
Beim Rennen drehte er sich einmal um und sah, wie die brüllende Indre sich das Werkzeug aus der Wunde zog und es Youssef in die Stirn rammte. Als sie halb um den Müllberg herum waren, nahm Indre die Verfolgung auf. Sie war schnell auf allen vieren, aber nicht so schnell, wie sie vielleicht hätte sein können. Mit der frischen Wunde humpelte sie wie ein angeschossener Wolf.
Sie erreichten die andere Seite des Gerümpelhaufens. Gerrit tastete sich an der Wand entlang.
„Sie kommt!“, schrie Kira. Gerrit fehlten Spucke und Atem, um etwas zu antworten.
Eine Einbuchtung in der Wand. Fieberhaft ertastete er die Klinke. Die Tür war offen. „Hier rein!“
Das Licht der Taschenlampe schnitt durchs Dunkel. Hinter der Tür führte eine Treppe rechts nach oben. Vor den Stufen stand ein Rollwagen mit Dingen darauf: Bierflaschen, eine Zange, ein kleines Radio. Gerrit schob Kira auf die untersten Stufen der Treppe, griff den Wagen und trat die Tür zu. Den Rollwagen schob er unter die Türklinke. Das Radio war zu hoch. Er legte es auf den Rücken, aufs Batteriefach. Wieder nichts. „Scheiße!“ Er schlug mit dem Griff der Taschenlampe gegen die Seite des Radios. Stück für Stück rutschte es kratzend unter den Griff. Noch zwei Schläge und es saß fest zwischen Wagen und Klinke eingeklemmt.
Sie hörten nur ihr eigenes, gehetztes Atmen. Draußen wurden polternde Schritte langsamer und leiser. Kurz war es ganz still. Dann hörten sie Indre fauchen. Und schließlich … schnüffelte sie.
Das Geräusch wurde leiser und wieder lauter. Jetzt war es direkt vor der Tür. Etwas schlug mit Wucht dagegen. Holz wäre gesplittert, aber sie war aus Stahl. Kira japste.
„Alles gut!“ Gerrit streckte die Hand nach ihr aus. Für eine Berührung war sie zu weit weg. Die andere Hand hatte er noch immer am Rollwagen. „Sie kann nicht rein. Es ist alles gut.“
Wieder ein Schlag. Ein Trommelfeuer von Hieben folgte, begleitet von Fauchen und Kreischen. Kira schrie und presste die Hände auf die Ohren.
Schließlich wurde es still. Als eine Zeit lang nichts geschehen war, löste Gerrit sich langsam von dem Rollwagen. „Lass uns hoch“, flüsterte er, ging zu Kira und berührte sie vorsichtig an der Schulter. „Sie kann nicht rein.“
„Mein Arm“, sagte sie.
Gerrit leuchtete mit der Taschenlampe darauf. Die Wunde hatte mehr vom Biss eines wilden Tieres als von dem eines Menschen. Stoff und Fleisch hingen in Fetzen. Durch die Befreiungsversuche waren die Löcher, die die Zähne in Kiras Arm gebohrt hatten, weiter aufgerissen. „Wir kümmern uns darum“, sagte er. „Komm.“
Sie gingen die Treppe hinauf und kamen in einen Flur, an dessen Enden es jeweils etwas Licht gab. Es fiel durch offene Türen. Sie gingen in die Richtung, aus der mehr Licht kam. In dem Raum lagen Kabel auf dem Boden. Kurz vor der Wand stand ein langes Pult mit Knöpfen und Hebeln, museumsreife Elektronik ohne Touchscreens. Alles analog. Die Herbstsonne schien durch ein kleines Fenster oben in der Ecke.
Kira setzte sich hin, lehnte sich gegen das Pult und hielt ihren Arm. „Ruf die Polizei“, sagte sie. „So lange halten wir’s hier aus.“
Gerrit zog die Handschuhe aus, warf sie weg und wählte. Nichts tat sich. Er sah aufs Display.
„Kein Empfang“, sagte er.
„Was?“, sagte Kira.
Er blickte sich um. „Vielleicht ist das hier irgendwie gedämmt. An Handyempfang hat damals noch keiner gedacht.“ Sein Blick ging zur Tür. „Ich probiere es draußen.“
Auch auf dem Flur blieb die Netzanzeige rechts oben leer. Er ging zurück in den Raum, schüttelte den Kopf.
„Ich hab meins verloren“, sagte Kira. Es klang, als wäre es ihr unangenehm.
„Ist nicht schlimm“, sagte Gerrit. „Kein Empfang ist kein Empfang.“
„Was machen wir denn jetzt?“
Gerrit hockte sich vor sie. „Als erstes mal binden wir deinen Arm ab.“
Kira nickte. „Blöde Junkie-Kuh. Dabei wollte ich ihr helfen.“
Gerrit schob vorsichtig den mit Blut vollgesogenen Pulloverärmel nach oben. Kiras Unterarm glänzte rot. Wo die Zähne eingedrungen waren, konnte er an einer Stelle bis zum Knochen gucken. Er griff eines der herumliegenden Kabel und schnürte Kiras Unterarm kurz vor dem Ellenbogen ab. „Au, fuck!“, sagte sie.
„Tut mir leid“, sagte er. „Aber ist besser, als wenn das Blut weiter raus läuft.“ Jedenfalls hoffte er das. Er hatte so etwas noch nie gemacht, war im Grunde auf etwas zurückgefallen, das er aus Film und Fernsehen kannte. Wie die verschluckte Zunge. Außerdem hörten die Löcher nicht auf zu bluten. Es floss jetzt nur sehr viel langsamer aus ihnen heraus.
Gerrit setzte sich neben Kira und nutzte die erste ruhige Minute seit dem Biss, um seine Gedanken zu ordnen. „Ich glaube, sie ist kein Junkie.“
Kira sah ihn an. Ihr Blick war erschöpft. „Sag’s einfach nicht“, sagte sie.
„Du hast es auch gedacht?“
Kaum merklich schüttelte Kira den Kopf. „Nein. Ja. Ich meine …“
„Weißt du noch die Ratte?“
Kira blinzelte ein Mal.
„Die hat ausgesehen wie dein Arm.“ Gerrit strich ihr Haare aus dem Gesicht. „Sie hat reingebissen.“
Kira lachte dünn.
„Überleg mal“, sagte er. „Sie hat euch gebissen.“
„Ich weiß. Aber das kann nicht sein.“
„Das denkt man auch, wenn jemand stirbt. Ist dann aber doch so.“
Kira lehnte den Hinterkopf ans Mischpult. „Und falls es wirklich stimmt, was macht sie hier?“
„Es ist dunkel und hier ist keiner. Also, bis wir aufgetaucht sind.“
Kira atmete langsam. „Ich kann hier nicht so sitzen bleiben.“ Sie blickte auf ihren Arm.
Gerrit biss sich auf die Unterlippe. „Wir finden was. Wir kommen raus.“
Er prüfte das Fenster. Ein paar Zentimeter lagen zwischen seinen Fingern und dem Rahmen, wenn er sich streckte und auf die Zehenspitzen stellte. Außerdem wäre es zu klein gewesen, um hindurchzukriechen. Vermutlich. Genau das hatte er prüfen wollen. Das Tageslicht fiel gefiltert durch milchig verschmiertes und von Vögeln zugeschissenes Glas herein, aber es war heller hier drin als im Treppenhauses und auf dem Flur.
„Glaubst du, die Tür unten hält?“ fragte Kira.
Gerrit wandte sich vom Fenster ab. Kiras Schoß war rot.
„Sonst wäre sie glaube ich schon durch“, sagt er.
„Vielleicht kennt sie einen anderen Weg.“
Gerrit sah zu einem kleinen Lüftungsgitter oben in der Wand. Der Tunnel dahinter mochte für eine Ratte reichen. Mehr nicht.
„Ich glaube, sie bekommt sie nicht auf.“
„Vielleicht sind sie ja bald zu zweit.“
„Was?“
„Ich meine, wenn du Recht hast …“
Kira hatte nicht gesehen, wie der Schraubenzieher in Youssefs Kopf gedrungen war.
„Nein“, sagte Gerrit. „Glaube ich nicht.“
Kira grinste. Es sah schmerzhaft aus. „Das glaubst du nicht.“
„Hab meine Gründe.“ Er ging zur Tür. „Halt deinen Arm ruhig. Ich bin sofort wieder da.“
Als er im Türrahmen stand, sagte sie: „Was ist mit mir?“
Gerrit sah sie nicht an. „Lass uns erst mal hier raus“, sagte er.
Mit der Taschenlampe durchsuchte er zwei weitere Räume. Beide waren ohne Möbel oder Maschinen. Und ohne Fenster. In einem lag die BILD-Zeitung auf dem Boden. Dem Datum über dem Namens-Schriftzug zufolge war sie neun Jahre alt.
Hinter einer vierten Tür, ganz am anderen Ende des Flurs vom Technikraum aus gesehen, entdeckte Gerrit, was die Toilette gewesen sein musste. Anschlüsse und Rohre ragten aus der kaputten Wand. Wahrscheinlich war hier damals der Wasserschaden passiert. Gerrit ballte die Faust: Auch hier gab es ein Fenster, und dieses war groß genug. Jemand hatte Zeitungspapier darüber geklebt. Darum war es hier dunkler als im Technikraum.
Zu hoch in der Wand lag auch dieser Weg nach draußen. Sie würden eine Räuberleiter machen müssen, um heranzukommen. Eine Herausforderung mit Kiras Arm, egal ob sie seinen Fuß hielt oder ob sie zuerst durchging und ihn hochzog. Sie war jetzt schon schwach. Ganz abgesehen von den Schmerzen. Sie mussten sich beeilen.
Gerrit lief zurück auf den Flur und rief ihren Namen. Unten krachte von der anderen Seite etwas gegen die Stahltür. Es war der dumpfe Aufprall eines Körpers. Fleisch und Knochen. Weniger heftige Einschläge folgten. Diesmal klangen sie nach Metall. Holz und Plastik. Indre musste ihre Munition von dem Berg aus Gerümpel holen. Dem Lärm nach warf sie mit Wucht, dazu schrie sie frustriert auf. Gerrit leuchtete über die Treppe hinweg nach unten. Durch die Erschütterungen erzitterten Tür und Rollwagen, aber noch war das Radio zwischen Klinke und Wagen eingeklemmt.
„Gerrit?“
Er lief weiter zum Technikraum. „Alles okay“, sagte er. „Die Tür hält. Aber-“
Er versuchte, sie nicht anzustarren. „Jetzt müssen wir uns beeilen.“ Sie verlor weiterhin Blut und zwar viel. So kurz war er weg gewesen, aber Kira war jetzt kreidebleich. Die Hose hatte sich bis zu den Knien, das Oberteil bis zur Brust mit Blut vollgesogen.
„Mir ist schlecht“, sagte sie. Es war ein Flüstern. Die Einschläge vom Flur übertönten es fast vollständig.
„Ich habe einen Weg raus gefunden“, sagte Gerrit.
„Ich muss glaube ich kotzen.“
„Ist okay.“ Er hob sie hoch und trug sie über die Schwelle raus auf den Flur. Ihr Arm um seinen Hals hielt sie nicht fest. Er lag einfach nur schlaff in seinem Nacken.
„Wohin wollen wir?“, fragte sie.
„Raus.“ Er stierte geradeaus, als sie das Treppenhaus passierten. Das Kind in ihm sagte: Wenn du nicht hinsiehst, kann auch nichts passieren.
Als er Kira im Raum mit den Rohren absetzte, gaben die Beine sofort unter ihr nach, sobald ihre Füße den Boden berührten. Er fing sie an den Achseln auf, ließ sie langsam runter und lehnte sie mit dem Rücken gegen die Wand. Immer wieder fielen ihr die Augen zu. Gerrit blickte frustriert hoch zum Fenster. So viel zur Räuberleiter.
In unregelmäßigen Abständen schlugen weiter die Geschosse gegen die Tür. Indre wütete. Sie brauchten … irgendwas, um sich zu verteidigen. Nur für den Fall.
Links von Kira ragte eine dünne Wasserleitung aus einem großen Riss in der Wand hervor. Gerrit griff sie. Er hatte Glück. Wahrscheinlich war sie bei Arbeiten schon angesägt worden. Außerdem bestand sie nicht aus Metall, sondern aus hartem Kunststoff. Er zog ein paar Mal daran, stemmte sich dafür schließlich mit dem Fuß gegen die Wand. Halb bog, halb riss er das Stück der Leitung aus der bröckeligen Bausubstanz. Am Ende, das in der Wand gesteckt hatte, bildete sich beim Herausbrechen eine Stelle, die spitz zusammenlief. Gerrit inspizierte sie und wandte sich dann dem Fenster zu. Mit der Spitze zerriss er das Zeitungspapier davor. Die Sonne schien jetzt direkt herein. Ihr Licht gab - Gerrit zumindest - Hoffnung, auch wenn sie ihnen nicht helfen würde, nach draußen zu klettern, raus aus diesem mehrgeschossigen Mausoleum der Ratten und Vögel und …
Ein neues Geräusch kam vom Flur. Ein Poltern. Der Klang war klar, auf dieser Seite der Tür. Etwas war zu Boden gefallen. Ein paar weitere Schläge von der anderen Seite, dann hörte Gerrit, wie Indre die Klinke nach unten riss und sich gegen den Stahl warf. Der Rollwagen flog durch den Raum und knallte am anderen Ende gegen die Wand. Immer noch humpelnde, aber trotzdem schnelle Schritte kamen die Treppe herauf. Zu viele Schritte. Sie lief weiter auf allen vieren.
Am oberen Ende der Treppe stoppten sie. Dann kamen sie in ihre Richtung.
Gerrits Herz raste. Seine Hände schlossen sich fest um das Stück Wasserleitung. Die Spitze zeigte zum Flur.
Indre hockte im Rahmen der Tür und starrte ihn an. Plötzlich war sie ganz ruhig. Anstatt sich auf sie zu stürzen, ließ sie den Blick umherschweifen. Sie betrachtete seine Waffe, die löchrigen Wände, und besonders lang ruhten ihre Augen auf Kira. Gerrit zitterten die Knie in Erwartung des Angriffs. Seine Achseln schwitzten, der Nacken war heiß.
Indre fauchte und zeigte ihre langen Dolchzähne. Es galt nicht ihnen, bemerkte Gerrit. Das Fenster. Sie fauchte das Fenster an. Sie fauchte das Licht an.
Das Mädchen, das sie jagte, setzte eine Hand in den Raum und zog sie sofort wieder zurück. Diesmal hisste sie wie eine Echse. Dann verschwand sie wieder im dunklen Flur.
Einen Moment wartete Gerrit. Möglicherweise handelte es sich um eine Taktik und sobald er die Waffe senkte, stürmte sie auf ihn zu. Als nichts geschah, sah er Kira an.
„Die Sonne“, sagte er leise. „Sie …“
Gleichgültig und matt sah Kira ihn an. Gerrit zeigte mit dem Leitungsstück hoch zum Fenster. „Da gehen wir raus.“
Sie blickte nach oben. Er stellte sich unter das Fenster und streckte ihr die Hand entgegen. „Komm. Gleich haben wir es geschafft.“
Zweimal setzte Kira an, aufzustehen. Beim dritten Mal stützte Gerrit sie. Sie stand auf wackeligen Beinen, lehnte an seiner Schulter. Sofern das möglich war, war sie jetzt noch ein bisschen weißer.
Er musste um die zwanzig Kilo mehr wiegen als sie, schätzte Gerrit. Auch ohne alles, was passiert war, hätte sie wohl Schwierigkeiten gehabt, ihn hochzuziehen.
„Du hältst“, sagte er. „Du hältst und ich ziehe dich hoch.“
Kira nickte. Ihre Augen blickten, als hätte sie nichts verstanden. Gerrit half ihr, die Finger ineinander zu stecken. „Lehn dich an die Wand“, sagte er. Sie würde alle Kraft zum Halten brauchen. Bevor er seine Waffe zu Boden legte, drehte er sich noch einmal zur Tür. Dann ging er in die Knie, um das spitze Stück Kunststoffrohr geräuschlos abzulegen. Den Eingang ließ er nicht aus den Augen.
Er kam wieder hoch, unbewaffnet, und setzte den Fuß in Kiras Hände. Für die Arbeit hatte er etwas Stabiles gesucht und klobige alte Wanderschuhe angezogen. Sobald er sein Gewicht darauf verlagerte, flutschten ihre Finger auseinander. Kira trug immer noch die Arbeitshandschuhe. Sie waren blutverschmiert. Er zog sie ihr aus. Seine eigenen warf er dazu in die Ecke. Dann steckte er ihre Finger wieder zusammen. Kira schien jetzt mit offenen Augen zu schlafen. Sie wehrte sich nicht, half aber auch nicht. Diesmal konnte er seinen Fuß schon etwas mehr belasten, aber es reichte immer noch nicht. Wieder flutschten die Finger auseinander und er trat auf den Boden. Er packte sie an den Schultern. „Kira, du musst dich jetzt zusammenreißen!“
Aus dem Augenwinkel sah er Indres Kopf vom Flur um die Ecke lugen. Er ging in die Knie, griff das Stück Leitung und fuhr herum zur Tür. Indre war jetzt anders. Das Tier war fort. Was seinen Platz eingenommen hatte, sah ihnen interessiert zu.
„Bleib, wo du bist“, sagte Gerrit. Er drohte mit dem spitz zulaufenden Rohr. Es zitterte in seinen Händen. „Ich warne dich.“
Der Kopf verschwand wieder um die Ecke.
„Genau, verpiss dich“, flüsterte Gerrit. Noch einmal führte er Kiras Hände zusammen. Diesmal behielt er seine Waffe dabei in der Hand und sah immer wieder zur Tür.
Er trat in die Hände. Sie flutschten auseinander. „Kira, Mensch …“ Er schnippte mit den Fingern, direkt vor ihrem Gesicht. Nichts.
Vom Flur kam ein Seufzen. Gerrit sah zur Tür.
„So war es bei mir auch.“
Beim Klang ihrer Stimme fuhr er zusammen. Es war, als hätte ein Hai plötzlich gesprochen.
„Ich bin hier rein, dann saß ich fest.“
Gerrit dachte kurz nach. Ja, gut so. Hock da draußen und quatsch. „Was heißt das?“ Er sah Kira an und hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen. Kira glotzte geradeaus und schwankte hin und her. Noch einmal führte er ihre Hände zusammen. Wieder stampfte er direkt hindurch und auf den Boden.
„Lange Geschichte“, sagte Indre. „Fängt unter Stanislaw II. an.“ Sie lachte. „Die Zeit haben wir nicht mehr. Zuletzt hatte ich ein bisschen Pech und hab hier Tauben und Ratten gefressen. Ratten!“ Gerrit hörte sie mit der Faust gegen die Wand schlagen.
Rattengift gibt immer Sauerei, dachte Gerrit. Außerdem ist Sucuk … randvoll mit Knoblauch.
„Ich bin fast verreckt.“ Indres Gesicht lugte um die Ecke. „Aber zum Glück seid ihr gekommen.“
Gerrit sah sie an. Die Fratze war jetzt ein Gesicht. Ein hübsches sogar. Blass wie im Rokoko. Zumindest der Teil, der nicht mit Blut bespritzt war. „Wenn du reinkommst-“
Indre rollte die Augen. Ihr Gesicht verschwand wieder auf dem Flur. „Ja, ja, ich weiß.“
Kira stieß auf. Speichel und dunkler Saft liefen ihr über das Kinn und tropften zu Boden. Sie rülpste wieder und ein ganzer Schwall plätscherte auf den Boden.
„Scheiße, Kira!“ Gerrit schaffte gerade noch den Schritt zur Seite.
„Oha“, kam es vom Flur.
Gerrit griff Kira am Arm. Ihre Haut war eiskalt. Wütend sah er zur Tür. „Was ist mir ihr?“
„Die Sonne tut ihr nicht mehr gut“, sagte Indre.
Gerrit gierte nach dem Fenster. Diese paar elenden Zentimeter.
„Wenn ich du wäre, würde ich ich ihr deinen Spieß da in die Brust rammen“, sagte Indre. „Sonst sind wir bald zu weit.“
Gerrit biss die Zähne zusammen. „Der Spieß da ist für dich.“
Indre lachte wieder. „Nein, jetzt nicht mehr. Aber bei ihr hast du noch eine Chance.“
Kira rutschte an der Wand hinab. Gerrit machte ein paar Schritte zurück und tat es ihr gleich, auf der anderen Seite des Raums. „Mir fällt was ein“, sagte er leise.
„Wenn du meinst“, kam es vom Flur.
Kira röchelte. Tropfen spritzten aus ihrem Mund. Gerrit bemerkte, wie die Schatten sich verändert hatten. Die Sonne war gewandert, Richtung Westen. Nicht mehr lang und sie würde hinter den Dächern und Schornsteinen der alten Schnapsfabrik verschwinden.
Das scheiß Fenster mit seinen scheiß Zentimetern. Sie würden hier drin sterben wegen ein paar Zentimetern. Langsam und leise ging er rüber zu Kira und hockte sich vor sie. Er strich ihr über die Wange. Die Haut war schmierig vom Erbrochenen. Als er ihre Lider hochzog, zuckten die Augen kurz. Er zögerte und wiederholte das Ganze mit ihrer Oberlippe. Die Eckzähne waren lang und spitz, aber normale Eckzähne. Oder?
Er schlug gegen die Wand. Es tat weh, doch das Gemäuer in seinem bröseligen Wasserschaden-Ruin bekam auch sein Fett weg. Stücke fielen zu Boden.
Neugierig lugte Indre um die Ecke. Gerrit ignorierte sie. Noch war die Sonne da. Er strich über die Wand, ließ die Finger über das grobe Innere gleiten, wo sie aufgebrochen war. An einer Stelle saß ein faustgroßes Stück lose. Mit der Spitze des Rohrs löste er es heraus. Er hielt es in der Hand und betrachtete es.
„Willst du ihr den Schädel einschlagen?“, fragte Indre.
„Dir zuerst.“
„Du musst das Herz durchstoßen. Das stimmt wirklich. Das mit dem Holzpflock ist Quatsch.“
Gerrit studierte wieder die Wand, suchte nach großen und kleinen Rissen, großen und kleinen Stücken Stein, die bereits lose saßen.
Draußen auf dem Flur kicherte Indre, aber es klang unsicherer als zuvor. „Was machst du denn da?“ Lange konnte sie ihm nicht zusehen. Gerrit roch Rauch.
Mit dem Stück Stein in der Hand hämmerte er auf die Schwachstellen der Wand ein und trat zwischendurch gegen die größer werdenden Risse, Löcher und Lücken, um möglichst große Teile herauszulösen. Der Brocken in seiner Hand war keine Waffe, sondern ein Werkzeug.
Die Mauerstücke schichtete er auf zu einem wackeligen Turm, der ihm schließlich fast bis zu den Knien reichte. Die Sonne fiel nur noch als dünner Strahl in den Raum, als er fertig war. Sein Werk erinnerte ihn an Jenga. Er spielte es auf Leben und Tod. Oder Schlimmeres.
Ihm blieben Minuten, Sekunden vielleicht. Dass er schnell sein musste, würde den Balanceakt zusätzlich erschweren.
Indre sah wieder um die Ecke. „Kreativ“, stellte sie fest.
Gerrit steckte sich das angespitzte Leitungsstück unter den Gürtel. Er stellte den linken Fuß auf den Turm aus Mauersplittern. Eine Hand drückte er gegen die Wand vor sich, die andere gegen die Wand neben sich, um die Balance zu halten. Dann verlagerte er das Gewicht auf den Fuß und erhöhte es so lange, bis das Wackeln darunter nachließ. Ein tiefer Atemzug folgte. Er behielt ihn in der Lunge, als der den zweiten Fuß nachzog.
Es funktionierte! Er stand jetzt auf dem Podest aus Mauerbruch und drehte den Kopf nach links zu Kira. „Ich …“, sagte er. Nichts an ihr reagierte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich nicht länger.
Gerrit drehte den Fenstergriff. Er knarzte, aber das Fenster ließ sich öffnen. Kühle Herbstluft strömte in den Raum. In wenigen Sekunden würde die Sonne hinter der Fabrik verschwinden.
Gerrit streckte die Arme nach draußen und bekam die Außenwand zu fassen. Dafür musste er sich nach vorne lehnen. Seine Füße warfen den Turm aus Geröll dabei um. Die Sonne blinzelte noch ein letztes Mal hinter einem Schornstein hervor. Gerrit liefen Tränen der Erleichterung über die Wangen. Hinter dem Fenster lag der flache Teil des Passagendaches. Er würde rüberlaufen und am anderen Ende die spiralförmige Feuerleiter nach unten steigen. Als Teenager hatte er sie manchmal von der Marktstrasse aus betrachtet und sich gefragt, was das für ein Gefühl wäre, sie hinabzusteigen.
Etwas bohrte sich in seine Wade. Gerrit schrie und sah zurück. Er zog das Leitungsstück aus dem Gürtel. Nur die vordersten Fingerglieder hielten ihn noch am Rahmen. Kira sah hoch zu ihm. Gerrit stieß zu. Die Spitze bohrte sich in Kiras linkes Auge. Sie ließ Gerrits Bein los und griff nach dem Rohr.
Gerrit gab die Waffe auf, um sich wieder mit beiden Händen festzuhalten. Eine Sekunde, nachdem er die freigewordene Hand an den Rahmen bekommen hatte, löste sich erschöpft die andere. Kurz schüttelte er sie aus und wechselte dann zurück in den festen, zweihändigen Griff. Er zog die Beine nach draußen. Seine Jeans hatte am Unterschenkel einen dicken, roten Fleck. Und zwei Löcher. Er sah durchs Fenster und sah, wie Kira das Leitungsstück mit beiden Händen hielt und es sich aus der Wunde zog. Sie ließ es auf den Boden fallen und stierte ihn mit dem verbliebenen Auge an.
Hinter ihr kam Indre herein. Sie legte einen Arm um Kira und streichelte ihren Kopf. Dann sah sie hoch zu Gerrit. „Komm doch wieder rein“, sagte sie.
Gerrit hielt sich den Unterschenkel. Er spürte das Blut aus der Wunde fließen. Sein Socken sog sich voll. Er schüttelte den Kopf.
„Du kannst nicht zurück“, sagte Indre.
Gerrit spuckte aus, als wäre er vierzehn. „Das lass mal meine Sorge sein.“
Indre zuckte die Schultern. Er zeigte ihr ihr den Mittelfinger.
Sie drückte Kira fester an sich. „Komm, wir machen’s uns schön.“
Nachdem die beiden Frauen verschwunden waren, sah Gerrit noch eine Weile in den leeren Raum. Er spürte etwas von der Wunde im Bein durch seinen Körper strömen. Mal war es heiß, mal war es kalt. Er humpelte über das Dach zu dessen Rand und setzte sich. Vier Stockwerke unter ihm lag die Marktstraße. Kopfsteinpflaster aus dem Mittelalter, Bäcker, Döner, Kiosk und Ein-Euro-Shop. Inzwischen sogar zwei. Links von ihm lag die Feuerleiter, ein rostiger, vergitterter, meterhoher Zylinder.
Gerrit dachte an Hanne, zu Hause mit Daenerys. Juliane. Ihr Kind. Er ließ die Beine baumeln. Ab und zu fiel etwas Blut aus seiner Wunde runter aufs Pflaster. Es tropfte von seinem Wanderschuh. Er dachte an Kira, wie sie gewesen war. Und an seinen Abiball. Beides war jetzt eine Ewigkeit her. Gerade hatte sie ihn ins Bein gebissen, weil sie nicht mehr anders konnte. Weil das jetzt ihre Natur war. Das war jetzt sie. Reisen Tote nach Thailand?
Indre hatte Recht: Zurück nach Hause konnte er nicht. Youssef hatte einen Schraubenzieher im Kopf und Youssef war tot. Salam Aleikum. Wenn er mit dem Kopf voraus sprang, wäre das wohl eine sichere Sache. Für ihn, für Hanne, für das Kind, für alle.
Er stand auf und streckte die Arme aus, sah nach oben und schloss die Augen. Die Zehen ragten über die Kante. Das war’s. Sein Leben, seine Entscheidung. Er drehte sich um und ging wieder rein.
Er wollte immer noch wissen, welcher Film das war.