Mitglied
- Beitritt
- 11.05.2014
- Beiträge
- 258
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Ein perfekter Auftritt
Tausende Augen schauen mich an, tausende Münder lächeln mir zu. Ich stehe auf der Bühne und bewege mich nicht, betrachte die Menschen in der ersten Reihe. Ergraute Männer tragen Anzüge und Fliegen; ihre Frauen teure Kleider und Ohrringe, die im Licht glitzern. Sie alle sind gekommen, um mich spielen zu sehen, haben ihr Geld für Karten ausgegeben, auf denen mein Name steht. Ein Gesichtermeer erstreckt sich vor mir, über mir Dutzende Zuschauer auf mit goldenen Schwingen verzierten Balkonen.
Dann wird es dunkel in der Philharmonie. Nur der Scheinwerfer über mir erlischt nicht, taucht mich in weißes Licht, als wolle sogar Gott, dass die ganze Welt mich sieht. Alles ist schwarz um mich herum; ich höre nur Getuschel. Hinten im Saal hustet jemand. Ich schließe die Augen. Gleich werden sie die ersten Töne meiner Komposition vernehmen, mein Meisterwerk, jede Note wohl erdacht. Tränen werden Augen füllen, Münder werden offenstehen. Ich hebe meine Violine, klemme sie unter mein Kinn und spüre, wie Blut durch meinen Hals pulsiert. Ein einzelner Schweißtropfen rinnt über meine Stirn, doch ich bin nicht aufgeregt. Ich gehe ein paar Schritte auf die Menge zu; die Holzdielen knarzen unter meinen Füßen, ansonsten ist es jetzt still geworden, alle warten auf den ersten Ton. Ich lege den Bogen auf die Saiten und atme tief ein und die Muskeln in meinem Arm zucken, wollen spielen. Da spüre ich einen stechenden Schmerz zwischen meinen Rippen und öffne die Augen.
„Hast du wieder geträumt?“, fragt Hauke. Mein Brustkorb schmerzt dort, wo er seinen Ellenbogen reingerammt hat. „Konzentriere dich“, sagt er und leckt sich über die Lippen. Er hebt die Hand, Zeigefinger ausgestreckt. „Noch einmal.“
Wir sitzen zu viert in einem engen Raum und proben für unseren Auftritt bei der Erstsemesterbegrüßung Ende Februar. Wir nennen uns selbst Quattro Amici, aber Freunde sind wir nicht. Ich bin bloß hier, weil es die einfachste Möglichkeit ist, vor Publikum zu spielen. Hauke bedeutet der Auftritt viel, er möchte, dass jede Note sitzt, aber ich habe schon bei unserem ersten Treffen bemerkt, dass er kein Talent hat, nie zu den Besten gehören wird. Jede Passage übt er oft, während ich sie schon beherrsche. Er sagt: „Und streng dich diesmal an, oder willst du, dass wir zur Lachnummer werden, hm?“
„Nein“, sage ich.
„Na dann.“ Seine Stimme zittert ein bisschen, am liebsten würde er brüllen, ich erkenne es am Zucken seiner Unterlippe und am Beben seiner Nasenflügel. Er kann es nicht ertragen, dass ich ihm weit voraus bin. Nicht zum ersten Mal denke ich, dass er bloß ein Prolet ist und keine Ahnung von guter Musik hat und bestimmt spielt er nur, weil irgendein Weib das gut findet. Trotzdem kann ich seine Anspannung verstehen; es wird der größte Auftritt unseres kleinen Studentenklubs. Vier Violinen und eintausend neue Studenten. „Auf drei“, sagt Hauke.
Ich lege den Bogen auf die Saiten meiner Violine und wir üben unsere Version von We are the Champions, die nach der Rede unseres Dekans gespielt werden soll. Während der Durchgänge, in denen Hauke dieses oder jenes zu bemängeln hat, schaue ich bloß auf den PVC-Boden und schweige.
„Zwei Wochen noch“, sagt Hauke am Ende der Probe. „Seid ihr schon aufgeregt?“ Die anderen beiden nicken und sagen, wie sehr sie sich freuen. Ich sage nichts und sehe aus dem Fenster. Es ist schon dunkel, ich spiegele mich in der Scheibe, sehe mich die Violine halten und da habe ich das Gefühl, hier nur meine Zeit zu verschwenden. Ich stehe auf, lege mein Instrument in den Geigenkasten und verabschiede mich, während sich die drei noch unterhalten.
Ich verlasse allein das Gebäude und gehe Richtung Bushaltestelle. Es ist still um diese Zeit. Nur Kieselsteine knirschen bei jedem meiner Schritte, und der Wind fegt über das Campusgelände. Ich lege meinen Schal enger um den Hals und wische mir etwas Rotz von der Nase. Meine Wangen werden kalt und meine Ohren auch. Als die Probe begann, war es noch nicht so frostig. Der Weg ist dunkel, der Mond bloß ein vager Schimmer verborgen von Wolken. Vereinzelte Laternen werfen gelbliche Kreise auf den Pfad und auf die dürren und kahlen Bäume links und rechts. Es riecht nach nasser Erde, es hat wohl kurz geregnet.
Während ich gehe, versuche ich an meine Komposition zu denken, aber ich höre nur We are the Champions in meinen Gedanken, wieder und wieder, es ist kein Platz für etwas anderes. Und ich muss an Haukes Stimme denken, die erneut dasselbe Lied anstimmt, immer was zu meckern findet und mir die Laune vermiest hat und ich verziehe die Mundwinkel und balle die Fäuste. Als ich fluchen will, kommt mir jemand entgegen und ich verkneife mir die Worte. Es ist eine Frau. Ich senke den Blick und betrachte meine Schuhe, so als müsse ich aufpassen, wo ich hintrete, und gehe etwas schneller. Ich vernehme einen Hauch Aprikosenduft.
Als ich schon an ihr vorbei bin, sagt sie: „Wie lief es, amico?“
Ich bleibe stehen und drehe mich um. „Was?“ Ich sehe sie nicht richtig, sie steht im Dunkeln und ist bloß ein Umriss.
Sie sagt: „Na, dein Geigenkasten.“
„Was ist damit?“
„Da ist doch sicher eine Violine drin.“
Ich lege die Stirn in Falten. „Naja, eine MG habe ich darin nicht versteckt.“
Ich kann das Lächeln in ihrer Stimme hören, als sie sagt: „Du bist doch bestimmt einer der Quattro Amici, oder nicht?“
„Ja.“
„Also … wie lief die Probe?“
„Ganz gut“, sage ich und will weitergehen, bloß nach Hause und versuchen, einen klaren Kopf zu kriegen, damit ich weiter an meiner Komposition arbeiten kann.
Da sagt sie: „War Hauke wieder so angespannt?“
„Hauke?“
„Er ist mein Bruder.“
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ich wusste nicht, dass er eine Schwester hat, aber ich höre ihm ja auch nicht wirklich zu, wenn er von Privatem spricht. Also sage ich bloß: „Ja.“
„Nimm es ihm bitte nicht übel. Er möchte nur, dass es perfekt wird, weißt du? Ich kenne das.“
„So?“
„Bin selbst künstlerisch tätig. Behaupte ich jedenfalls gerne.“
Als ich fragen will, was sie denn macht, hat sie sich schon weggedreht und sagt: „Ich muss nun aber wirklich los. Habe versprochen, ihn abzuholen.“
Ich höre ihre Schritte, sie entfernen sich. „Ich … ich muss dann auch los … zum Bus“, sage ich und frage mich, warum sie das interessieren sollte.
Ihre Stimme ist schon ganz leise, als sie sagt: „Ich freue mich auf euren Auftritt. Ihr spielt Queen, oder?“
Sie ist schon hundert Meter weg, als ich mich nochmal umdrehe. Sie geht gerade unter einem Lichtkegel entlang und da sehe ich ihr langes, blondes Haar. Sie ist groß und wirkt schlank, obwohl sie Winterklamotten trägt. Als ich mich umdrehen will, bevor sie merkt, dass ich ihr nachsehe, treffen sich unsere Blicke. Ich glaube, sie lächelt, und meine Wangen werden warm. Ich huste kurz und tue so, als müsse ich meine Schuhe zubinden.
Zwei Wochen vergehen und ich komme mit meiner Komposition nicht voran. Eigentlich habe ich genug freie Zeit; die Prüfungen sind vorbei und die nächste Prüfungsphase ist noch Monate entfernt, also schleppe ich mich nur zur Uni wegen Haukes Proben. Dann höre ich ihn meckern und spiele lieblos die Töne, die sich in meinen Gedanken festsetzen und die Hoffnung vernichten, an meine eigenen Töne zu denken.
Ich hatte gehofft, wenigstens an Wochenenden an meiner Musik arbeiten zu können, da sind keine Proben, aber oft sitze ich bloß stundenlang vor dem Fenster und schaue hinaus, auf die Wohnblöcke und die Straßen und ich betrachte die Autos und frage mich, wer da drinsitzt und wo sie hinwollen. Zu Freunden oder Familie, das neueste Meisterwerk im Kino sehen oder zur Ausstellung eines berühmten Künstlers gehen. Dann komme ich mir vor, als stecke ich fest, also wäre ich gefangen in meiner Wohnung und meinem Studium und würde nur warten auf das Leben, das ich mir erträume. Das schnürt mir die Gedanken ab, ich finde keine Inspiration, denke nur an das, was ich nicht habe und das nimmt mir die Lust, an meiner Musik zu arbeiten. Aber ich kann mich auch nicht von den Fenstern losreißen, ich weiß nicht, wie.
Es gibt Tage, die verbringe ich in Unterhose, rühre mich kaum aus dem Bett. Ich denke an mein Stück und schreibe ein paar Noten nieder, aber das klingt nicht gut genug, ich muss besser werden, ich weiß, dass ich es kann. Manchmal frage ich mich, wie lange wohl Beethoven gebraucht hat, um seine Symphonien zu kreieren. Eigentlich ist es ja einfach: Man muss nur die richtigen Töne in der richtigen Reihenfolge aneinanderreihen. Beethoven hat die richtige Reihenfolge gefunden, mehr als einmal. Und wenn er das vollbracht hat, obwohl er taub war, dann kann ich das auch. Aber nach einem langen Tag, an dem ich kaum was geschafft habe, frage ich mich oft, wozu ich das alles überhaupt mache.
Zwei Tage vor der Aufführung der Quattro Amici besucht mich meine Mutter. „Was läuft das Studium?“, fragt sie. Ich habe Kaffee gemacht. Mutter gießt Milch in ihre Tasse und der Löffel klimpert, als sie umrührt. Hinter ihr bricht die Sonne kurz aus der Wolkendecke und für einen Augenblick sieht es aus, als wäre es warm draußen. Mutter trinkt einen Schluck und ihre Ohrringe schwingen dabei sacht hin und her und glitzern im Licht. Mutter trägt immer Ohrringe, die glitzern.
„Ganz gut“, sage ich und betrachte die braunen Bläschen in meinem Kaffee, warte, bis sie platzen, dann sage ich: „Die Prüfungen sind überstanden.“
Sie hebt den Blick, sieht mich an mit ihren hellblauen Augen, ich fühle mich durchleuchtet. „Bloß überstanden? Oder auch bestanden?“
Ich will sagen, dass sie sich keine Sorgen machen braucht, aber ich mache mir ja selbst welche und ich kann meine Zweifel nicht verbergen, sie würde es sehen. Also sage ich bloß: „Ich habe noch nicht alle Noten.“
Sie grummelt und nimmt wieder einen Schluck.
„Aber es sieht gut aus“, sage ich noch, aber meine Stimme klingt schwach und meine Mutter geht nicht weiter darauf ein. Stattdessen stellt sie ihre Tasse auf den Tisch, betrachtet mein Wohnzimmer und fragt: „Wie lange wohnst du jetzt hier?“
Ich bin sicher, sie weiß es ganz genau, und ich überlege kurz, ob ich überhaupt antworten soll, aber nach einigen Sekunden des Schweigens werden meine Hände schwitzig. „Schon über zwei Jahre.“
„Zwei Jahre“, wiederholt sie und nickt dabei. „Und es sieht hier immer noch aus, als wärst du gerade erst eingezogen. Die Wände kahl, keine Bilder.“ Sie deutet auf die Wand neben dem Fernseher. „Da würden doch gut Bilder hinpassen. Von dir und deinen Freunden.“
Ich sage: „Heutzutage sind alle Bilder auf dem Handy.“
„Dein Bruder hat überall Bilder von seinen Freunden.“ Mein Magen zieht sich zusammen und ich sehe es kommen, jedes Mal spricht sie es an. Mutter sagt: „Und von seiner Freundin.“
„Ich weiß.“ Ich habe das Gefühl, sie hört mich kaum.
„Hast du denn mittlerweile jemanden gefunden?“
„Nein.“
„Hm. Du musst mal rauskommen, mal was unternehmen.“
„Das Studium ist zu anstrengend, ich habe kaum Zeit.“
„Dein Vater hat auch Jura studiert in deinem Alter, und ich war trotzdem schon mit ihm zusammen.“
„Heute ist das Studium fordernder.“
„Ist das so?“ Wieder sieht sie mich mit lange an, ich reibe mir die Stirn und sehe weg, starre auf den Tisch, als würde da ein interessantes Insekt krabbeln. Mutter sagt: „Dein Vater und ich, wir wissen gar nicht, was du so treibst, nie meldest du dich.“ Ich öffne den Mund, doch Mutter ist schneller. „Ich weiß, ich weiß, das Studium. Wenn du nur zuhause sitzt, kannst du ja kein Mädchen kennenlernen.“
Ich knete meine Finger. „Es ist ja nicht so, dass ich keine Hobbys habe.“
„So?“
„Ich spiele wieder Violine.“ Es ist still und ich fühle mich, als hätte ich etwas Großes enthüllt. Als würde ich mich outen oder Mutter sagen, dass sie Oma wird.
Sie presst die Lippen zusammen und sagt dann: „Doch nicht etwa auf dem alten Ding, das wir dir damals geschenkt haben?“
Meine Eltern haben mir die Violine zu Weihnachten gegeben, als ich zehn war. Damals waren sie so stolz und ich hatte sogar Unterricht. Das alles ist aber lange her, das war ein anderer Sohn, ein anderer Charakter. „Ja“, sage ich.
Mutter pfeift. „Verrückt, dass das Ding noch funktioniert.“ Mehr fragt sie nicht, das Thema ist erledigt. Sie schaut auf ihre holzfarbene Armbanduhr. „Ich muss jetzt auch los, dein Bruder kommt zum Abendessen. Willst du mitkommen?“
Ich schüttele den Kopf. „Ich muss hier noch aufräumen und ein bisschen Violine üben.“
Sie hebt den Zeigefinger. „Aber nicht, dass deine Noten noch drunter leiden.“
Ich versichere ihr, dass das nicht der Fall sein wird. Sie steht auf und sagt: „Meldest du dich, wenn du die Prüfungsergebnisse hast?“
Ich sage ihr, dass ich sofort Bescheid geben würde.
Dann bringe ich sie zur Tür und als sie im Treppenhaus steht in ihrer teuren Jacke und ihrem dicken Schal sieht sie ganz alt aus. Das gräuliche Licht, das durch die milchigen Fenster fällt, lässt ihre Falten tiefer erscheinen und ihr Gesicht wirkt falsch wegen des Make-Ups. Wie eine angeschmolzene Wachsfigur. „Wir wollen doch nur stolz auf dich sein“, sagt sie noch. Ich sage, ich werde mein Bestes geben.
Sie geht die Treppen hinab. Ich höre ihre Schritte durch das Treppenhaus hallen, es klingt wie das leiser werdende Ticken einer Uhr. Als ich nichts mehr höre, schließe ich die Tür und lehne meine Stirn gegen das kalte Holz.
An diesem Abend schreibe ich ein paar Noten nieder, denke dabei an meine Mutter und meinen Vater, von dem ich seit Weihnachten nichts gehört habe. Und an meinen großen Auftritt in der Philharmonie, und in der ersten Reihe sitzen meine Eltern und sie lächeln und eine Träne kullert über die Wange meiner Mutter.
Stundenlang tüftle ich an diesem Abend an meinen Tönen und als ich sie spiele, hallen sie durch das Wohnzimmer. Es gibt ein leichtes Echo, aber das macht nichts, ich bin es gewohnt. Die Töne klingen gut, ich spiele sie wieder und wieder und mir gefällt es. Zufrieden lege ich mich später ins Bett und ich schlafe sofort ein.
Ich träume von meinem Vater. Er sagt, ich solle meine Zeit nicht mit Kunst verschwenden, lieber was Vernünftiges lernen. Ich sage, dass es das sei, wozu ich geboren wurde. Er lacht. Seine Zähne sind ganz gelb, seine Haut voll roter Flecken, seine Haare spröde und glanzlos, als wäre das Leben aus ihnen gewichen. In seinen Augen spiegelt sich Enttäuschung wider.
Als ich aufwache, wiederhole ich mein Spiel, aber irgendwas klingt anders, ich kann es nicht definieren. Die Noten sind dieselben, die Akustik hat sich nicht verändert, trotzdem sind die Töne nicht so gut, wie ich sie in Erinnerung habe. Meine Sicht verschwimmt und ich spüre etwas Warmes über meine Wange rinnen, als ich das Notenpapier packe und zerreiße. Dann sitze ich wieder am Fenster, sehe hinaus auf das Leben unter mir und warte.
Wir sitzen im Halbdunkel auf der Bühne. Der Dekan redet über neue Chancen und das große Abenteuer Studium. Tausende Augen starren ihn an, viele Münder gähnen. Als er fertig ist, klatschen alle. Er winkt der Menge lächelnd zu, und als sie verstummt, kündigt er die Quattro Amici an, der musikalische Abschluss des Abends. Wir treten vor.
Es ist warm unter dem Scheinwerferlicht und ich schwitze. Das weiße Licht blendet mich. Für uns stehen vier Hocker bereit und wir nehmen Platz und klemmen uns unsere Violinen unter die Kinne. Wir spielen, aber ich fühle nichts dabei. Mein Arm bewegt sich mechanisch, ich treffe die richtigen Töne, mehr nicht. Ich betrachte die Menschen in der ersten Reihe; es sind Teenager, die sich mit ihren Sitznachbarn unterhalten oder auf ihre Handys starrten. Der grelle Schein der Displays taucht ihre pickligen Gesichter in Leichenblässe. Dann zieht irgendwas meinen Blick nach rechts, als wäre dort ein Magnet, ich kann nicht genau sagen, wieso ich hinsehe, vielleicht Zufall. Jedenfalls sehe ich eine blonde Frau und ich weiß einfach, dass es Haukes Schwester ist. Sie zwinkert mir zu und lächelt und da muss ich auch lächeln, obwohl mir gar nicht danach ist.
Nach dem Stück ernten wir unseren Beifall und verbeugen uns und gehen hinter die Bühne. Der Dekan wartet auf uns und schüttelt unsere Hände und sagt, wie stolz er sei, einen so talentierten kleinen Klub an seiner Fakultät zu wissen.
Dann vernehme ich den Geruch von Aprikosen und drehe mich um. Haukes Schwester steht da und ihr Bruder geht auf sie zu. Sie umarmen sich. Der Dekan versperrt mir die Sicht. „Was kommt als Nächstes für die Quattro Amici?“, fragt er mich.
„Ich weiß es nicht“, sage ich. „Vermutlich eine Nummer bei der nächsten Absolventenverabschiedung.“ Das scheint ihn zu befriedigen. Er sagt, dass sich das sicher einrichten ließe und geht weg.
„Na“, sagt Haukes Schwester, als sie auf mich zukommt. Sie streckt ihre Hand aus. „Wir haben uns noch nicht richtig vorgestellt. Ich bin Bea.“ Obwohl es mir vorkommt, als sei meine Hand eiskalt und nass vor Schweiß, nimmt Bea sie ohne zu zucken, ohne ihr Lächeln zu verlieren. „Du hast wirklich perfekt gespielt“, sagt sie. „Hatte richtig Gänsehaut.“
Hauke schielt zu uns rüber, aber er kommt nicht, er sagt auch nichts, weil die anderen beiden Amici ihn beiseite nehmen und über den Auftritt reden wollen. Sie wenden uns den Rücken zu und quatschen und lachen. Bea sagt: „Lief echt gut, ihr vier könnt stolz auf euch sein.“
„Das sind wir auch“, sage ich. Ich will ihr in die Augen sehen, wissen, welche Farbe sie haben, aber sie trägt eine Brille, die das Licht der Deckenlampen reflektiert. „Kommst du auch zum nächsten Auftritt?“
Sie sagt: „Selbstverständlich.“
Ich spüre etwas an meiner Handfläche kratzen und als Bea ihre Hand wegnimmt, halte ich einen Zettel. Zahlen stehen darauf, eine Telefonnummer. „Wenn du mir mal schreiben willst, würde es mich freuen.“ Ihre Wangen werden rot und meine bestimmt auch. Ich will wegsehen, kann aber nicht. Bea schielt über die Ränder ihrer Brille und lächelt. „Bist ein Stiller, was? Finde ich irgendwie süß.“ Ihre Augen sind blau.
Die nächsten Wochen schreiben wir viel. Ich möchte ein Date, aber traue mich nicht zu fragen, ich weiß nicht, wie sehr sie mich schon mag. Und vielleicht ist ihr das zu unangenehm, ein Mitglied des Klubs ihres Bruders zu daten.
Es ist mittlerweile Frühling und das neue Semester hat begonnen und ich bekomme das Gefühl, zu lange zu warten, vermutlich hält sie schon nach einem anderen Ausschau.
Eines Abends vibriert mein Handy und als ich draufgucke, kribbelt es in meinem Bauch und das Atmen kommt mir plötzlich so schwer vor. Es ist eine Nachricht von Bea. Willst du nach der Uni mit mir in den Stadtpark gehen?
Gras spießt links und rechts vom Wegesrand. Der Park ist schon ganz grün. Nur vereinzelt sieht man noch einen kahlen Baum. Der Himmel ist grau, aber der Wind ist mild, kein Bedarf für Schal und Winterjacke.
Bea geht dicht neben mir, ich glaube, sie will meine Wärme spüren, aber mein Herz rast jedes Mal, wenn sich unsere Körper berühren und das ist mir unangenehm. Ich weiche leicht zurück; Bea scheint es nicht zu stören. Sie fragt: „Warum spielst du eigentlich Violine?“
„Weil ich das gut kann“, sage ich. „Und ich denke, das ist die einzige Art, wie ich Leute berühren kann.“
„Das klingt schön.“ Sie legt ihre Hand auf meinen Arm, ich habe das Gefühl, die Stelle wird heiß. Bea lächelt. „Und irgendwie auch traurig.“
Wir erreichen eine kleine Brücke und bleiben stehen. Ein Flüsschen fließt unter uns entlang, es ist kaum mehr als ein Rinnsal. Das Plätschern des Wassers wirkt beruhigend. Ich lehne mich gegen das Geländer der Brücke. Es duftet nach Holz und Blumen und nassen Blättern. Ein paar Steine ragen aus dem Wasser und teilen das Flüsschen; sie sehen aus wie Schiffe, die sich nicht bewegen.
Bea lehnt sich auch gegen das Geländer. Ihr Arm drückt gegen meinen, aber ich rühre mich nicht, lasse es geschehen. „Als wir uns das erste Mal gesehen haben, hast du gesagt, du machst auch etwas Künstlerisches“, sage ich. „Ich habe nie gefragt, was.“
Es fängt an zu nieseln, kleine Tropfen sammeln sich auf Beas Brille. „Ich male.“ Sie schaut genervt gen Himmel, flucht, nimmt die Brille ab und steckt sie in ihre Jackentasche.
„Gemälde?“
Sie nickt. „Auf dem Dachboden meiner Eltern schwinge ich manchmal den Pinsel. Ist zwar nicht perfekt, aber das ist mein kleiner Ruhepol, weißt du? Wenn ich male, geht’s mir einfach gut.“
Ich spüre die kalten Tropfen auf meiner Stirn. Das Holz wird nass und ich entferne mich von dem Geländer. Grünlicher Staub haftet an meinen Ärmeln. „Hast du denn vor, damit mal Geld zu verdienen?“
Sie schnaubt. „Das kann ich vergessen. Gibt einfach zu viel Wettbewerb, und es gibt eine Menge Leute, die talentierter sind als ich.“ Strähnen ihrer Haare kleben in ihrem Gesicht, ich will sie wegwischen, aber verharre. Bea sagt: „Außerdem würde ich mich dann nur stressen. Manche sind einfach nicht dafür gemacht, Kunst professionell zu betreiben.“
„Warum machst du es denn dann?“
„Um mich selbst zu finden.“ Bea nimmt meinen Arm und gemeinsam gehen wir durch den Park. Vögel zwitschern über uns und ich glaube, ein Eichhörnchen zu sehen, das einen Baum hochrennt. Die Grashalme bewegen sich sanft im Wind und Regen sammelt sich auf Ästen. „Schön hier“, sage ich. „So friedlich.“ Ich sehe Bea in die Augen. „Irgendwie inspirierend.“
Sie lächelt. Ihre Zähne sind ganz weiß, aber nicht alle sind gerade. Ihre Wangen sind gerötet vom Wind und sie hat zwei Leberflecke auf dem Kinn. Ich will Bea anfassen, sie streicheln. Und da überkommt es mich, ich will es sagen. „Ich spiele auch zuhause ein bisschen Violine.“
„Was spielst du denn so?“
„Dieses und Jenes.“ Es kratzt in meiner Kehle, die Worte wollen raus. Aber es fällt mir schwer, als würde ich ein Geheimnis preisgeben, etwas sagen, das mich verwundbar macht. Ich konzentriere mich auf Beas Leberflecke. „Ich komponiere auch selbst.“
Ihre Augen werden groß. „Tatsächlich?“ Sie stellt sich direkt vor mich, versperrt mir den Weg. Regen glänzt auf ihren Lippen. „Das würde ich gerne mal hören.“
Ich zwinge mich, wegzusehen, betrachte eine Parkbank. Ein alter Mann mit Dackel sitzt da, er streichelt den Hund hinter den Ohren; es sieht zärtlich aus. Der Mann hustet und ich sehe, dass der Hund nur drei Beine hat. Ich stelle mir vor, dass die beiden nur einander haben, dass die Zeit alles andere genommen hat. „Es ist noch nicht fertig.“
„Dann komm ich halt vorbei, wenn du bereit bist.“
Der Hund schleckt dem Mann über die Hand und ich sehe zurück zu Bea. „Ich mag dich wirklich sehr“, höre ich mich sagen. „Aber ich glaube, ich zeige es dir lieber nicht. Es ist alles andere als perfekt.“
„Was ist schon perfekt?“, sagt sie. „Perfekt ist langweilig. Und ich mag dich auch sehr.“ Dann kichert sie und ich nehme ihre Hand in meine, sie ist ganz warm und weich und gemeinsam gehen wir zur Bushaltestelle. Bevor sie in ihren Bus steigt, küsst sie mir zum Abschied auf die Wange.
Während ich auf meinen Bus warte, fällt mehr und mehr Regen. Dicke Tropfen trommeln auf den Asphalt und tränken meine Jacke, ich kann spüren, wie mich das kalte Wasser durchweicht, aber es macht mir nichts aus.
Zuhause schreibe ich das Stück weiter und denke viel an Bea. Nicht ein einziges Mal sehe ich aus dem Fenster, obwohl der Regen daran klopft, als wolle er unbedingt meine Aufmerksamkeit. Ich schreibe und schreibe, nehme die ersten Töne, die mir in den Sinn kommen, höre auf meinen Bauch, der kribbelt, wenn ich mich an Beas Kuss erinnere.
Das Telefon klingelt und ich erschrecke. Es ist mein Bruder. „Hey“, sagt er.
„Hey“, sage ich. Dann schweigen wir, nur der Regen verhindert Stille.
Dann räuspert sich mein Bruder und sagt: „Du wirst Onkel.“ Ich schweige. Er fragt: „Freust du dich denn?“
Ich nicke, aber das kann er natürlich nicht sehen, also sage ich nach einer weiteren Sekunde: „Klar.“
„Ihr seid am Wochenende alle zum Essen eingeladen. Papa und Mama haben schon zugesagt. Kommst du auch?“
Es wundert mich, dass er überhaupt noch fragt, da ich jedes Mal ablehne. Er hat wohl die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Aus irgendeinem Grund muss ich an den alten Mann im Park denken und an seinen Hund und an Beas Worte. Manche sind nicht dafür gemacht. „Ja, ich komme gerne“, sage ich.
Als ich am nächsten Abend von der Uni nach Hause fahre, spielt jemand Gitarre im Bus. Der Mann hat lange Haare und trägt eine Lederjacke und zerrissene Jeans. Ein Cap liegt vor ihm, Kleingeld glänzt darin. Er spielt ein Lied, das ich nicht kenne. Er verspielt sich ein paar Mal, die Töne sind ganz schief, aber er hört nie auf zu lächeln und irgendwie klingt es schön. Manche Fahrgäste schließen die Augen, während sie ihm lauschen, andere erwidern sein Lächeln. Wenn der Bus hält und Leute aussteigen, werfen die meisten Münzen in sein Cap.
Ich presse meine Stirn an die kalte Fensterscheibe und mein Atem beschlägt das Glas. Ich frage mich, wann ich je beim Spielen gelächelt habe. Erinnern kann ich mich nicht. Nur an ein einziges Mal. Als ich bemerkt habe, dass Bea mir zusieht.
Ich zücke mein Handy und schreibe Bea. Das Stück ist fertig. Wenn du willst, kannst du morgen vorbeikommen. Spiele dir gern vor. Ich warte, bis die Häkchen blau werden.
Dann schreibt sie, und ich starre auf das Display, bis ihre Antwort erscheint. Auf jeden Fall. Ich kann auch was vom China-Mann mitbringen.
Nachdem ich geschrieben habe, dass ich mich schon freue, suche ich die Nummer meiner Mutter aus den Kontakten. Ich will ihr sagen, dass ich etwas auf meiner Violine spielen möchte, wenn wir bei meinem Bruder sind. Es wird Zeit.