Mitglied
- Beitritt
- 14.12.2005
- Beiträge
- 13
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 3
Ein Reh
Sie stand auf der anderen Seite der Hecke. Ich konnte hören wie sie ihren Atem in schnellem Rhythmus in die beißend kalte Luft stieß. Ein weicher, blasser Mond hing am Himmel, während noch hinter den Reihenhäusern im Westen die Sonne glühend rot dahinschmolz. Sie hinterließ eine leuchtende Farbspur am Himmelszelt, die Wolken krochen durch den schwindenden Tag. Ich stellte mir ihr Gesicht vor. Bleiche, zarte Haut, hell wie Elfenbein, die Wangen gerötet von der Kälte des Januars. Den Blick stets schüchtern, reserviert gesenkt, dunkle braune Augen, wie von grünen Adern durchzogen. Lauschte auf ihre Worte. Sie hatte meinen Namen gerufen, nachdem die Hecke unseren Weg durchschnitt. Mein Herz schlug ruhig und langsam, weil ich sie nicht liebte. In mir regte sich nichts.
"Ich liebe dich" rief sie.
Ihre Stimme klang zittrig, tränenschwanger.
Ich erlebte ein Gefühl, als fahre ein kalter Regenschauer durch meine Knochen, beginnend vom Kopf, meinen Körper bis ins kleinste Glied durchrieselnd. Schon bevor sie die Worte aussprach, hatte ich sie erahnt. Glaubte sie etwa, ich habe es ihr nicht angesehen? Dabei war ihre Anbetung zu mir in großen Lettern in ihren kindlichen Rehaugen zu lesen. Wann immer ich anwesend war und ich genoß es sehr. Ich dachte nicht viel über sie nach, doch wenn sie in der Nähe war, bemühte ich mich ihr zu imponieren. Wollte ich die Liebe zu mir aufrecht erhalten, obwohl ich doch sah wie groß die Qual für sie war? Weil es mich stärkte, zu wissen daß ich geliebt werde? Ein wenig tat sie mir leid, dieses arme süße Geschöpf mit den tiefroten Narben auf dem Unterarm, die, wie ich wohl wußte, als Kinder ihrer unerwiderten Zuneigung geboren waren. Doch ich liebte sie nicht. Und tue es auch heute nicht.
“Echt?” antwortete ich.
Mein Kopf war leer und ich gefühllos.
“Ja!” rief sie.
Bittere Tränen wurden wegen mir vergossen. Das wußte ich. Was konnte ich schon tun. Mein Interesse war zu gering als, daß ich etwas hätte ausrichten können, oder nicht?
“Ich ruf dich nachher an”, versprach ich halbherzig.
“Wenn ich es bis dahin nicht vergesse”, fügte ich in Gedanken hinzu.
Doch so wenig sie mir auch bedeutete, ging es nicht spurlos an mir vorüber. Natürlich, ich mochte sie. Es ist unmöglich, ein armes kleines Mädchen, das so unglücklich in dich verliebt ist, nicht zu mögen. Und süß war sie ja. Süß im Sinne von kleiner nasse Welpe. Ich stieg die Treppen hinauf. Ihre Worte klebten wie ein großes Werbebanner in meinem Kopf. Ich liebe dich. Ich fühlte mich seltsam. Mein Vater war weder zu hören, noch zu sehen als ich die Wohnung betrat. Doch ich sah seine braunen Lederschuhe säuberlich neben der Tür stehen, und so wußte, ich daß er da war. Schon im Bett? Es war doch erst sechs Uhr. Die Tür fiel ins Schloß. Es war kalt. Jemand hatte die Heizung ausgestellt. Ein Mädchen hatte mir gerade gesagt daß es mich liebt. Ein kleines, armes Mädchen, für das ich nie etwas würde empfinden können. Mein Kopf fühlte sich zu taub und weich an um die Information zu verarbeiten. Wie ein vollgesogener Schwamm. Ich rief sie an diesem Abend noch an. Vielleicht, weil ich es für meine Pflicht hielt. Da ich allerdings nie gut im Erfüllen von Pflichten gewesen bin, überraschte ich mich selbst als ich dieser nachging. Ich hörte Schritte auf der Treppe, sie klangen menschlich und vertraut.
“Moritz? Bist du da?”
Mein Vater schob den Kopf durch den Spalt in der Tür. Sein Gesicht war müde, aschgrau, von tiefen Kummerfalten durchzogen. Unter seinen wäßrigen Augen lagen dunkle Schatten wie schwarze Halbkreise. Sorgenvoll und ruhelos war der Blick hinter den verschmierten Brillengläsern.
“ja bin grade gekommen”.
“gut gut...” murmelte er,
schien nach noch so unwichtigen Gesprächsthemen zu suchen, nur um die Tür nicht schließen und die Barriere wieder errichten zu müssen. Manchmal haßte ich ihn. Wir stritten oft. Doch jetzt war einer der Momente, in denen ich ihn einfach nur sah wie er war. Ein trauriger, einsamer Mann, der den Kontakt zu seinem Sohn verliert.
“Willst du was essen?” fragte er schließlich,
hastig, stolpernd.
“nein”.
“ok...”
er stand noch kurz in der Tür, zögerte, zog sie dann zu und entfernte sich mit schleppenden Schritten. Es stimmte, wir entfernten uns voneinander. Die Stille zwischen uns war unerträglich. Er bemühte sich, doch ich blockte bewußt ab. Mitleid empfand ich nur selten. Obwohl er es vielleicht wohl verdient hätte. Ich sah auf die Uhr. War sie jetzt schon zu Hause? Ich stellte mir vor, wie sie wohl zu Hause vor dem Telefon saß und weinte, sich vielleicht etwas antat. Das süße Mädchen mit dem schüchternen Blick, scheu wie ein Reh, so unschuldig ängstlich unglücklich. Ja man kann ihr das Unglück ebenso ansehen wie ihre verzehrende Liebe. Man konnte sehen, wie es jeden Tag mehr an ihr nagte. Manchmal schien sie sich ihre Haare tagelang nicht zu waschen, oft trug sie den selben Pullover zwei Wochen, und schien es nicht einmal zu merken. Abwesend hing ihr Blick stets in der Luft, oder vertieft auf ein kariertes Blatt Papier, das sie mit Friedhöfen voll kritzelte. Manchmal saß sie einfach nur da und sah mich an, und ihre Augen standen voller süßer Tränen, wandte den Blick so schnell ab, daß ihre schwarzen Haare flogen sobald ich sie bemerkte. Was soll man in so einer Situation schon tun? Sie hätte sich wohl gefreut, wäre ich zu ihr gekommen und hätte mich mit ihr unterhalten. Hätte wahrscheinlich die ganze Nacht davon geträumt und sich Hoffnung gemacht, nur um sie am nächsten Tag gnadenlos zu zerschlagen. Und sich an den Scherben zu schneiden.
Ich rief sie an. Sie ließ es zweimal klingeln. Zweimal. Ihre Stimme klang tränenerstickt, doch nicht hysterisch. Ich wußte nicht recht was ich sagen sollte. Was hätte ich auch sagen können. Sie hatte sich geschnitten, erzählte sie mir, und das jetzt alles vorbei sei. Ich betrachtete meinen eigenen Arm, während ich über eine Antwort nachsann. Auch ihn zierten verblaßte Narben. Doch mochte ich mir nicht ihren vorstellen. In der Küche klapperte Geschirr. Mein Vater kochte wohl doch.
Heute habe ich sie wiedergesehen. Über ein Jahr war es nun her. Ich hatte sie schon beinah vergessen. An sie gedacht hatte ich so gut wie nie. Es schneite und der Schnee verbarg tückisch das Glatteis auf Straßen und Bürgersteigen. Der Himmel strahlte weiß , einige schmutziggraue Wolkenklumpen klebten zäh dort oben, die Sonne war nur ein trüber Fleck. Die Stadt fror, rückte enger zusammen. Selbst die Häuser schienen mit den Zähnen zu klappern und sich aneinander zu pressen. Ich sah sie erst als ich schon fast vorbei war. Sie sah gut aus. Sie ist hübsch geworden in der ganzen Zeit. Ihre Haare waren glatt und glänzend, sie sah glücklich aus. Es versetzte mir einen Stich, daß sie ihr Glück offenbar woanders gefunden hatte. Dabei hatten weder sie noch ihr Leben mich je interessiert. Sie hatte mich wohl schon von weitem erkannt. Sie lächelte. Hätte ich sie etwas früher bemerkt, hätte ich ihr geschocktes Gesicht gesehen, wie sie abrupt stehen blieb, die Augen aufriß und hätte vielleicht ihren erst stockenden, dann immer schneller gehenden Atem hören können. Wie damals. Ich grüßte sie kurz und ging weiter. Ich spürte wie sie sich umdrehte und mir nachsah. Sie wollte mir doch soviel sagen. So viele Fragen. So viele Tränen, die all die Zeit auf mich gewartet hatten. Doch ich ging weiter. Feige, wie ich war wagte ich mich nicht einmal, mich umzusehen. Was für sie Gefühle jetzt wohl auf sie einprasseln mochten. Liebte sie mich denn noch? Ihre Augen hatten geschrieen. “Ich habe dich nicht vergessen!” Für Schuldgefühle war es zu spät. Zu kalt ließen mich diese fremd gewordenen Klagerufe heute. Oder nicht? Ich spürte ihren Blick wie ein frisches Brandmal in meinem Nacken. Meine Füße liefen wie von selbst weiter, als ich spürte wie auch mir plötzlich Tränen in die Augen schossen. Ich wußte daß ihre Wunden noch offen lagen. Ob sie sich wünschte, daß ich mich umdrehte und sie in den Arm nahm? Was hielt mich davon ab es zu tun? Sie war so zerbrechlich, so schön, wie eine filigran gearbeitete Glasfigur. Als könne sie jeden Moment zerspringen. Ich bin mir sicher, daß sie schon oft zersprungen und wieder zusammen geklebt worden war. Doch der Leim war schwach, zu schwach um die Scherben zusammenzuhalten. Zu Hause wartete mein Vater auf mich. Wahrscheinlich trommelte er unruhig mit seinen Wurstfingern auf der Tischplatte herum, wie er es immer tut wenn er nervös ist. Wie ich ihn haßte. Ich weinte, weil ich ihn haßte, und weil da niemand war. Ich haßte ihn und mich zugleich und wollte sterben, ich sah ihre Augen, ihr Blut auf meiner Haut, Menschen die an mir vorbeiströmten während ich selbst stillzustehen schien.
Doch zu Hause wartete er auf mich.
Sie ist fort und kommt nie wieder, das weiß ich. Es war das letzte Mal daß ich sie sah.