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- 19.02.2006
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Ein reißendes Geräusch
Die beiden sehen wirklich tot aus.
Ich suche mit Blicken die Straße ab. Nichts als flirrende Hitze auf schwarzem Asphalt. Zieht sich von einem Ende der Welt zum anderen, eingebettet in das trostlose Ocker von verdorrtem Gras. Die Luft steht, ein nahendes Auto würde man meilenweit im Voraus hören.
Meine Aufmerksamkeit wandert zurück zur Szene vor mir. Ich nage nervös die spröde Haut von meiner Unterlippe und reime mir das Bild zusammen. Mit offenen Türen steht der Chevrolet da. Die Bremsspur und die Furchen im Gras sprechen eine deutliche Sprache. Einer der Kerle hat es nicht weit weg vom Auto geschafft. Nach zwei Schritten muss er zusammengebrochen sein. Der andere Typ wollte wohl Schutz hinter dem mickrigen Erdhügel suchen, einen Steinwurf vom Chevy entfernt. Dicke schwarze Flecken summen über den Rücken des Kerls. Wie lange dauert es, bis Fliegen an Leichen kleben? Bedeutet das, dass der Unfall erst vor kurzem passiert ist? Oder liegen die beiden hier schon eine Weile?
Scheiße, will ich das so genau wissen? Ich sollte mich um meinen eigenen Dreck scheren und ...
Verschwinden?
»Verschwinde aus meinem Leben, du Niete!«
»Sarah, bitte ...«
»Was war es diesmal - hä? Hat dein Rücken wieder schlappgemacht? Oder hat dich ein Kollege angeschwärzt? Lass mich raten, dein Boss - der hat dich einfach auf dem Kieker gehabt.«
»Hör mir bitte zu«, flehe ich, doch Sarah denkt gar nicht daran.
»Ich habe mir diesen Scheiß zum letzten Mal angehört! Warum passiert das immer dir? Immer dir! Soll ich dir sagen weswegen«- sie sticht mit einem Zeigefinger nach mir - »weil du ein verdammter Versager bist.«
Sarah holt kurz Luft. »Wenn du so weitermachen kannst, bitte. Ich will was andres. Ich will leben. Leben, verstehst du?«
»Das will ich doch auch ...«
»Dann tu das gefälligst - aber ohne mich!«
»Sarah ...«
»Deine wimmernde Stimme macht mich fertig. Verschwinde. Verschwinde!«
Ich spähe noch einmal in beide Richtungen der Teerzunge, dann gehe ich auf den Chevrolet zu. Aus größtmöglicher Distanz versuche ich einen Blick ins Innere zu werfen, verrenke mir den Hals so weit ich kann. Eine Reisetasche klemmt zwischen Rückbank und Fahrersitz. Der Schlüssel steckt noch. Das Handschuhfach ist offen, voller Papier. Ich will nicht noch näher herangehen, bereits jetzt erkenne ich schon zu viel von dem Toten. Er liegt auf der Seite, mir den Rücken zugewandt, die Beine angewinkelt, der Oberköper abgekippt. Eine halbe Fötusstellung. Dunkelblondes Haar, Tweedjacke, schwarze Hose, Lederschuhe. Sehen teuer aus. Herrgott, weswegen starre ich da so hin?
Ich will mich abwenden, aber etwas an dem Papier im Handschuhfach ... Sind das wirklich ...?
Meine Skrupel sind vergessen. Verdammt, das ist kein Papier, es sind Geldscheine. Viele Geldscheine. Es wirkt beinahe so, als hätte das Fach den Geldstau nicht ausgehalten, als wäre es von innen gesprengt worden. Die Scheine liegen auf dem Fahrersitz, der Fußmatte, zetteln eine Spur ins Gras.
Ich drehe mich rasch um, kneife die Augen zusammen und suche den Horizont ab. Nichts. Das Blut rauscht mir in den Ohren. Ich halte die Luft an, lausche. Kein Motorengeräusch. Aber das könnte sich schnell ändern. Ich zögere noch eine Sekunde, dann beuge ich mich ins Fahrzeug. Meine Finger zittern leicht, als ich die Scheine aufklaube. Ich stopfe sie in die Taschen meiner Jeans, doch es sind zu viele.
Für einen Moment bin ich überfordert, die Hände voller Noten stehe ich da. Mein Blick fällt erneut auf die Reisetasche. Rasch kraxle ich auf den Beifahrersitz und nestle nach einer Schlaufe. Die Rache für diese unachtsame Verrenkung erfolgt sofort. Ein rotglühender Schürhaken wird mir in den Rücken getrieben, bohrt sich seinen Weg vom Steißbein die Wirbelsäule hoch. Der Schmerz lässt mich aufkeuchen. Ich kann mich nicht bewegen. Will mich auch nicht bewegen. Verharre, die eine Hand in das abgenutzte Leder gekrallt, die andere umklammert die Schlaufe der Reisetasche.
Ich warte bis der Schmerz abebbt, dann ziehe ich die Tasche zu mir. Als ein reißendes Geräusch die Stille zerfetzt, schreie ich auf. Von einem Augenblick auf den nächsten bin ich in Schweiß gebadet. Angstschweiß, der nach verbranntem Gummi stinkt.
Nur zögerlich wird mir bewusst, dass es nicht mein Rücken war, in dem etwas gerissen ist, sondern die Reisetasche.
Mein Fluch bleibt irgendwo auf halbem Wege stecken, als ich sehe, was aus dem Schlitz quillt. »Heilige Schei...«
Die Gier lässt den Schmerz plötzlich duldbar werden: Viel zu hektisch hieve ich die Tasche auf den Vordersitz. Ich öffne den Reißverschluss, halte mir die Hände vor den Mund. Ich bin wieder ein zehn Jahre alter Bengel, dem die Worte fehlen, als Mutter mein erstes Fahrrad ins Zimmer schiebt. Damals war ich von derselben Angst paralysiert wie jetzt. Ich fürchtete, dass sich das Fahrrad in Luft auflösen würde, wenn ich es berührte. Deswegen wollte ich es einfach nur anstarren, jedes Detail in mich aufnehmen, sodass es selbst dann noch da wäre - wenigstens in meiner Vorstellung - wenn es wie ein böser Traum unter meiner Berührung zerplatzt.
Ich greife in die Tasche, greife tief hinein, bade meine Hände, meine Unterarme, fast bis hoch zu den Ellenbogen in Geldscheinen. Ich reibe die Scheine zwischen den Fingern, sie lösen sich nicht auf. Ich kichere unkontrolliert.
Mit dem Geld könnte ich ... ich könnte ... Mir wird ganz schwindelig von der Flut an Möglichkeiten, die mir plötzlich offen steht.
Mein Rücken, der Arzt hat gesagt, er würde meinen Rücken wieder hinkriegen. Es gäbe Behandlungen dafür. Und Sarah. Sarah will leben. Sie braucht Geld. Ein neues Auto, eine größere Wohnung - ach was, ein eigenes Haus. Jawohl. All das ist zum Greifen nah. Das sind locker, locker ... Ich bekomme Atembeschwerden beim Überschlagen der Geldbündel. Zählen kann ich später, jetzt muss ich erst einmal ... Ich blicke mich hektisch um. Fingerabdrücke. Überall Fingerabdrücke, ich habe das ganze Auto beschmiert damit. Ich suche nach einem Lappen, einem Stofffetzen, irgendwas, mit dem ich meine Spuren verwischen kann. Dabei betatsche ich das Auto von Neuem. Stopp!
Bleib ruhig, Ruhe bewahren. Ich atme gezwungen tief ein und wieder aus. Dann noch einmal, dann ... Konnte die Polizei überhaupt etwas mit meinen Fingerabdrücken anfangen? Ich war doch nirgends registriert. Aber wenn sie mich schnappten? Ich muss hier weg!
Nicht kopflos werden, ermahne ich mich. Die Tasche in mein Auto. Ein Tuch suchen. Abdrücke verwischen. Verdammt, wo habe ich überall angefasst? Das dauert zu lang.
Ich klettere aus dem Wagen, hinterlasse dabei noch mehr Fingerabdrücke, reibe die Tür mit meinem Shirt ab. Meine Hände sind nass und ich kann deutlich die frischen Spuren sehen. Doch je mehr ich reibe und wische, desto mehr Abdrücke entdecke ich. Die Tür ist voll davon. Die Armaturen. Das ganze verdammte Auto. Scheiße, das konnten nicht alles meine Spuren sein! Aber wenn doch, wenn doch?
Hör mit dem Wischen auf, du musst hier weg!
Gehetzt suche ich die Straße ab. Nichts. Aber war da ein Motorengeräusch?
Idiot, jetzt stehst du hier und lauschst - du könntest längst in deinem Wagen sitzen und abdampfen.
Außerdem ist da kein Motorengeräusch. Nada. Nur deine Pumpe. Also, komm wieder runter, bevor dich der Schlag tri-
»Hilfe ...«
Es ist nicht mehr als ein Flüstern und doch hat dieses eine Wort die Wucht eines Peitschenknalls.
Hatte der Kerl in Fötusstellung sich eben bewegt?
»Scheiße, der ist nicht tot.«
Ja, kein Zweifel, der Kerl hat sich bewegt. Eben wieder. Wenig mehr als ein Zucken zwar, aber ein Irrtum ist ausgeschlossen - der Typ lebt noch. Und er röchelt ein zweites Mal um Hilfe.
Ich kann nicht anders, wie eine Marionette zieht es mich zu dem winselnden Bündel Mensch. Mein Gang ist sonderbar ungelenk, ich habe das Gefühl, als würde das Gras nicht unter meinen Schritten nachgeben, als würde es sich durch meine Schuhe in meine Fußsohlen bohren.
Die Gestalt bietet einen schrecklichen Anblick. Von hinten habe ich die Blutlache vermutlich für einen Schatten gehalten. Nun, die Sonne im Rücken, ist es unmöglich, sich erneut dieser Illusion hinzugeben. Die Hände hat der Kerl auf den Bauch gepresst, in dem hoffnungslosen Unterfangen, die Blutung zu stoppen. Aber da ist nicht mehr viel zu stoppen. Der Kerl muss sich beinahe komplett leergeblutet haben. Die Lippen heben sich kaum von der aschfahlen Gesichtsfarbe ab. Weiß und rot, mehr Nuancen gibt es nicht. Und plötzlich ist da auch der Geruch. Wie habe ich den zuvor nicht wahrnehmen können? Der eigenwillig süßlich-metallische Geruch von Blut.
Mein Blick wandert zu der Pistole, die neben dem Sterbenden im Gras liegt. Waffen haben mich zu keiner Zeit sonderlich interessiert. Aber als ich das Mordinstrument zum Greifen nahe vor mir habe, spüre ich ein Kribbeln durch meinen Körper gehen. Beunruhigend und erregend zugleich. Ich schaue zu dem zweiten Kerl rüber. Noch immer reglos. Ohne Frage niedergestreckt von eben dieser Waffe.
»Mister ... bitte.« Ich habe niemals zuvor eine so erbarmungswürdige Stimme vernommen. Aber noch viel schlimmer sind die Augen des Kerls. In ihnen bündelt sich alles Restleben zu der Hoffnung, dass ich gekommen bin, um ihn zu retten.
Noch habe ich die Wahl: Ich kann die Polizei rufen, einen Krankenwagen. Vielleicht ein Held sein. Die Schlagzeile würde lauten: „Mann stellt Bankräuber.“
Ich habe die Kerle zwar nicht gestellt, aber ich könnte es so aussehen lassen. Die Waffe an mich nehmen. Aber ich hätte eine Menge zu erklären. Möglicherweise würde mir das sogar gelingen, würde ich wirklich ein Held sein. Aber für wie lange? Und danach? Danach wäre ich wieder ein arbeitsloser Tagelöhner mit kaputtem Rücken.
Und überhaupt - Bankräuber. Hatten sie davon was im Radio berichtet? Nein. Drogengeld? Mafia? Erbarmungswürdig? Scheiße.
Als ich in die Knie gehe und meinen Arm ausstrecke, strahlt die Hoffnung in den Augen des Kerls für einen Moment so hell, dass selbst in das wächserne Gesicht Farbe zurückfließt.
Die Hoffnung erlischt, als ich an ihm vorbei und nach der Waffe greife, frisst augenblicklich Gräben in das Gesicht, lässt es in dieser Sekunde um Jahre altern. Fast erwarte ich, dass es porös wird und zu Staub zerfällt. Für einen Moment bin ich so sehr von der Waffe in meiner Hand fasziniert, dass ich alles andere um mich herum vergesse. Das Metall ist aufgewärmt von der Sonne, liegt schwer und fest in der Hand. Schmiegt sich in meine Anatomie, als wäre es eigens für mich gegossen worden.
Die Wirklichkeit fängt mich mit einem fernen Brummen ein. Motorengeräusch!
Eine Hand über die Augen geschirmt, suche ich die Straße ab. Ich bin mir nicht sicher aus welcher Richtung das Geräusch kommt. Aber scheiße, das spielt auch keine Rolle. Ich muss hier weg.
»Mister ...« In diesem Aufbegehren liegt eine Kraft, die der Kerl unmöglich noch in sich haben konnte. Eine blutige Hand zittert in meine Richtung. Ich erhebe mich, stopfe die Kanone in die Tasche, werfe einen letzten Blick auf den Sterbenden, ziehe den Reißverschluss zu. »Tut mir leid.«
Als ich mir die Reisetasche über die Schulter schmeiße, reißt es zum zweiten Mal vernehmlich. In der Tasche klafft nun ein Riss, der so breit ist, dass ich umständlich mit zwei Händen zupacken muss, damit keine Geldbündel herauspurzeln. Trotzdem kann ich nicht verhindern, dass ich Scheine verliere, bis ich an meinem Auto angelangt bin. Kurz hadere ich mit mir, ob ich sie wieder einsammeln soll. Ich denke an Hänsel und Gretel, an eine Spur aus Brotkrumen.
Unfassbar. Mit so einem Dreck verschwendest du deine Zeit. Beweg deinen Arsch, Henry!
Ich stopfe die Reisetasche in den Fußbereich auf der Beifahrerseite und knalle die Tür zu.
Jetzt kann ich die Quelle des Lärms orten. Das Fahrzeug nähert sich aus Osten. Entgegengesetzte Richtung zu meiner. Ich zögere. Soll ich mein Pickup wenden? Vor ihnen davonfahren? In die Richtung, aus der auch die beiden mit dem Geld gekommen sind? Keine gute Idee. Wer weiß, wer alles die Suche aufgenommen hat.
Ich drehe den Zündschlüssel. Stotternd erwacht der Pickup zum Leben. In meiner Überraschung darüber, dass die Karre gleich beim ersten Mal anspringt, lasse ich den Wagen einen Satz nach vorn machen und würge ihn dann ab.
Am Horizont kann ich bereits einen wabernden Fleck ausmachen. Zunehmend schälen sich die Konturen eines Fahrzeugs heraus.
Nach drei Anläufen bringe ich den Motor wieder zum Laufen. Ich trete das Gaspedal durch, hacke die Gänge nach oben und hole alles aus der Maschine, was sie zu bieten hat. Röhrend lasse ich den Chevrolet, die Leichen - mein altes Leben? - hinter mir.
Der flimmernde Punkt manifestiert sich zu einem Truck. Er nähert sich schnell. Sehr schnell. Scheiße, nein, nicht der nähert sich schnell, sondern ich mich. Verdächtiger könnte man sich kaum benehmen.
Sofort habe ich das Bild eines dicken Truckers vor Augen. In einem verblichenem Shirt mit avantgardistisch anmutendem Fleckenmuster ungewisser Herkunft, steht er einem Polizisten gegenüber, macht wild gestikulierend seine Aussage: »Ja, Officer, ich habe ein auffälliges Fahrzeug gesehen. Rotbrauner Pickup, raste, als wäre der Teufel hinter ihm her.«
Ich trete etwas zu heftig auf die Bremse, sodass der Wagen ins Schlingern kommt.
»Super, viel unauffälliger. Hast du klasse hingekriegt, Henry!« Ich hämmere wütend auf das Lenkrad ein.
Neues Bild. Der Trucker korrigiert sich, schiebt dabei seinen Cowboyhut hoch, kratzt mit braungeränderten Nikotinnägeln die Stirn: »Wissen Sie, erst raste der wie bekloppt, dann konnte er sich nicht entscheiden, ob er mich rammen oder in den Graben fahren will - und als ich den Fahrer erkennen konnte, Officer, da hat er wie ein Wilder aufs Lenkrad eingedroschen. Völlig plemplem, wenn Sie mich fragen. Das Nummerschild? Ja, das habe ich mir gemerkt.«
Die Sonne spiegelt sich auf der Frontscheibe des Trucks, sodass mir ein Blick auf den Fahrer verwehrt bleibt. Als ich an ihm vorbeischieße, meine ich zu sehen, wie der Trucker mir aus dem Fenster einen Vogel zeigt. Aber ich kann mich auch geirrt haben. Meine ganze Konzentration gilt dem Halten der Spur.
Schön in der Spur bleiben. Cool bleiben. Cool bleiben. Es ist heiß im Wagen. Cool bleiben. Heiß. Wagen. Der Wagen. Ich muss ihn loswerden. Und wenn sie das Nummernschild ermitteln? So könnten sie mich finden. Nein, halt - den Besitzer des Wagens, meine Adresse - ehemalige Adresse - aber nicht mich. Ich habe keine Adresse mehr. Und mit dem Geld kann ich eine neue Existenz aufbauen. Falschen Ausweis und so. Aber soweit muss es gar nicht kommen. Denk doch mal nach, Henry - wie wahrscheinlich ist es, dass sich der Trucker bei dem Tempo und der Hitze dein Nummernschild gemerkt hat? Habe mir seins auch nicht gemerkt. Keine Panik. Cool bleiben. Cool bleiben. In der Spur bleiben. Der Spur folgen.
Doch schon bald ist eine Entscheidung fällig. Kurz vor dem Horizont kreuzt eine Straße meinen Weg. Scheideweg. Schicksalsweg? Die Orte sagen mir alle nichts. Wonach entscheiden? Alle Himmelsrichtungen offen. Osten hieße Umkehren. Im Westen nichts Neues. So hieß doch mal ein Film, oder? Dass mir das jetzt einfällt, ist ein Zeichen. Im Norden ist es kalt. Mit Geld setzt man sich immer nach Süden ab. Jawohl, Sonne, Strand, Wärme. Kühle Drinks. Cool bleiben. Mit quietschenden Reifen biege ich auf die Straße nach Süden.
Der Asphalt ist in weniger gutem Zustand als die Ost-West-Route. Schlaglöcher laden dazu ein, sich die Monotonie mit Slalomübungen zu versüßen. Es juckt mir in den Fingern, aber ich halte mich zurück. Zudem geht die Fahrbahn nicht wie bisher plan in die Steppe über, sondern wird mit einem Graben davon getrennt. Eigentlich nicht mehr als eine Furche, aus der Unkraut quillt. Trotzdem macht mich der Graben nervös. Ein seltsamer Sog geht davon aus. Als ob der Pickup angezogen wird. Ständig muss ich gegenlenken. Oder ist die Lenkführung defekt? Schweiß tropft mir in die Augen, doch ich traue mich nicht, die Hände vom Lenkrad zu nehmen, um ihn wegzuwischen. Meine Knöchel treten weiß hervor. An manchen Stellen wirkt das hervorwuchernde Kraut wie Greifarme. Pelzige, dornenbewährte Greifarme. Sie erinnern mich an den Film-
Scheiße, viel zu nah!
Ich reiße das Lenkrad herum, schlingere auf die Gegenfahrbahn, reiße das Lenkrad wieder zurück, der Graben saugt mich an, ich will gegenlenken, in dem Moment tut sich die Mutter aller Schlaglöchern auf, entreißt mir die Kontrolle, entreißt mir das Fahrzeug, Quietschen, Krachen, Splittern, Schmerz, schwarz.
Nur allmählich bekommt das Schwarz Risse, lässt verschwommene Farben durch. Je mehr ich erkennen kann, desto präsenter wird auch der Schmerz. Ich will die Augen wieder zukneifen, zurück in die Vergessenheit flüchten, aber da nehme ich aus den Augenwinkeln die Reisetasche wahr.
Ich habe den ganzen Scheiß nicht auf mich genommen, um jetzt pennend von den Bullen geschnappt zu werden. Ist viel Zeit vergangen? Noch hängt Staub in der Luft. Ich kann nicht lange weggewesen sein. Der Pickup hat Schieflage, sowohl nach vorn, als auch zur Seite. Beifahrerseite. Glück im Unglück, die Tür ist böse nach innen verbogen. Ähnlich lädiert wie die Motorhaube. In der Scheibe sind feine Risse zu erkennen. Ohne Hoffnung drehe ich den Zündschlüssel. Der Wagen röchelt nicht einmal. Nada.
Ich atme tief ein, will den Schmerzlaut reflexartig unterdrücken, schaffe es aber nicht. In meinem Schädel pocht es, als kämpfe sich etwas mit einem Hammer den Weg nach draußen. Auf meiner Brust wälzt sich ein heftiges Gewicht. Mein Atem rasselt. Aber am schlimmsten ist der Rücken. Mein Rückrat steht in Flammen und die Flammen fressen allen Knorpel weg, lassen Wirbel über Wirbel schaben, machen mich zu einer stotternden Maschine, die ohne Schmiermittel nur noch unter Ächzen und Pfeifen plumpe Bewegungen ausführen kann.
Ich sammle mich für den Ausstieg. Die Fahrertür lässt sich mit erstaunlich wenig Gewalt öffnen. Sieh das Positive! Schon das zweite Glück im Unglück. Ich klettere aus dem Wagen. Misstrauisch setze ich meine Füße auf das Unkraut. Schlafende Greifarme, die jeden Moment erwachen können.
»Brauchen Sie Hilfe?«
Am Straßenrand stehen zwei Gestalten und starren zu mir runter, die Augen mit den Händen abgeschirmt. Etwas in der Stimme lässt mich vermuten, dass die Frage nicht zum ersten Mal gestellt worden war.
Ich habe die Sonne im Rücken, kann die beiden deutlich ausmachen. Erleichtert stelle ich fest, dass es sich bei dem Paar um zwei recht betagte Figuren handelt. Der Mann erinnert an den späten David Carradine. Von drahtigem Wuchs mit zerfurchtem Gesicht, das selbst beim Lächeln seinen bitteren Zug nicht verliert. Dazu das passende Spinnenwebenhaar.
Die Frau sieht schlicht wie ein Müttchen aus, um den Kopf ein geblümtes Tuch gebunden.
Einige Meter hinter den beiden parkt ein Wohnmobil Marke Eigenbau. Womöglich ein Rentner-Paar, das auf die alten Jahre noch einmal das wilde Leben schmecken wollte. Vielleicht war es wirklich David Carradine, der seinen Tod nur vorgetäuscht hat, um ohne Paparazzi die Welt zu bereisen. Weit und breit ist niemand anderes zu erkennen. Drittes Mal Glück im Unglück. Henry, du schaffst es!
»Ich ... hatte einen Unfall«, sage ich mit einiger Verspätung. „Können Sie mich in den nächsten Ort mitnehmen?“
Die beiden tuscheln kurz miteinander. Dann Carradine: »Natürlich, kommen Sie rauf, wir fahren Sie zum Arzt.«
Besser hätte ich es kaum treffen können, beglückwünsche ich mich. Ein ahnungsloses Hutzel-Pärchen, das mir den perfekten Schutz gewährt. Selbst wenn eine Fahndung rausgeht, ein Rentnerpärchen im Wohnmobil würde wohl keinen Verdacht erregen.
Meine Freude ist so groß, dass selbst der Schmerz in den Hintergrund tritt. Die Greifarme sind plötzlich nur noch Unkraut und sogar ein Lüftchen kommt auf, streichelt meine brennende Haut.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich hole nur kurz meine Sachen.«
Ich beuge mich wieder ins Fahrzeug und angle nach der Reisetasche. Mein Rücken protestiert, aber ich beiße die Zähne zusammen, bekomme eine Schlaufe zu fassen, ziehe. Die Tasche kommt mit einem Reißgeräusch frei.
»Scheiße!« Der Riss ist jetzt so groß, dass er sich nicht mehr verbergen lässt. Die Bündel quillen aus dem Loch wie Gedärm, erbrechen sich ins Auto. Ohne dass die Alten von der Kohle Wind bekommen, kriege ich die Tasche nicht die Böschung hoch.
Mein Fluch ist lautlos, aber von solcher Gewalt, dass in meinem Magen ein Gewitter aufzieht und es vernehmlich grollt.
»Soll ich Ihnen helfen?« Carradine macht bereits Anstalten in den Graben zu klettern. Ganz schön rüstig für ein Modell seines Alters.
»Nein, nicht nötig«, rufe ich einen Tick zu laut. Hastig schaufle ich Geldpakete aus der Reisetasche in den Fußraum des Beifahrers. Das bereitet mir fast noch mehr Schmerzen als Kopf, Brust und Rücken zusammen. Ich muss die Hälfte entleeren, um genügend Spannung aus dem Stoff zu nehmen. Und selbst so muss ich noch mit beiden Händen die zerfetzte Stelle zusammenklammern. Mir geht nicht in den Kopf, wie man so viel Geld klauen und dann an der Qualität der Tasche derart geizen kann. Das ist pervers.
»Ich komme zu Ihnen runter.«
»Schon fertig«, sage ich und beginne mit dem Aufstieg. Das Unkraut gibt seine Tarnung auf, windet sich unter meinen Schuhen, versucht mir den Halt zu nehmen, Schlingen zu bilden. Doch meine Wut gibt mir Kraft, ich entreiße mich den Fängen, trample das Unkraut nieder, kämpfe mich keuchend nach oben.
Der Alte streckt mir helfend die Hand entgegen. Sie zu ergreifen hieße jedoch die Tasche zu gefährden. Eisern kämpfe ich mich alleine weiter, meine Sohlen zermalmen und zerreißen.
»Nehmen Sie meine Hand!«
»Ich schaffe es, danke«, presse ich hervor.
Unter einem Fuß habe ich bereits Asphalt, den zweiten will ich nachziehen, doch im letzten Moment schlingt sich ein Tentakel um den Knöchel und reißt mich zurück.
Im Reflex lasse ich die Reisetasche fallen, um meinen Sturz mit den Händen abzufangen. Das Geld ergießt sich auf die Straße, pflastert das Teer mit einem Fächer aus bedrucktem Papier.
Das Lüftchen ist zur Ahnung eines Windes gereift, zupft an den Scheinen.
Ich krabble auf den Alten zu. »Ich kann das erklären.«
Seine Augen sind aufgerissen. Aber sie starren nicht auf das viele Geld, sondern auf die Kanone, die aus der Tasche geschliddert ist.
Der Alte will einen Schritt darauf zumachen, doch ich bin näher. Ich erhebe mich langsam, die Waffe auf ihn gerichtet. In Filmen machen sie das auch immer so langsam. Ich hoffe, ich erziele einen ähnlich lässigen Effekt. In Wirklichkeit vermag ich mich keinen Deut schneller zu bewegen. Ich bin fast überrascht, dass ich überhaupt in die Senkrechte komme. In meinen Ohren hallt das Knirschen und Knacken meines Rückens wider.
Kein Hochgefühl diesmal. Die Waffe fühlt sich wie ein klobiges Stück Eisen an. Schwer, unhandlich, ein Fremdkörper.
»Bitte Mister, wir sind alt, wir haben nicht viel ...« Plötzlich hat der Alte gar nichts mehr von Carradine, ist nur noch ein alter Mann, der um sein Leben bangt.
»Ich will gar nichts von Ihnen«, unterbreche ich ihn, gegen das Schwindelgefühl ankämpfend. »Ich ... ich brauche nur ein Auto. Fahren Sie mich einfach in den nächsten Ort.« Ich lecke mir über die trockenen Lippen. »Ich bezahle Sie auch dafür.«
»Wir wollen nichts von Ihrem Geld, Mister. Nehmen Sie den Wagen. Sie können alles haben.«
»Nein, nein«, ich wedle mit dem Revolver. »Sie fahren! Und verdammt, es soll sich auch für Sie lohnen. Es wird alles ...«
Wo ist die Alte hin? Hab sie völlig aus den Augen verloren. Vorhin stand sie noch - Ist sie gerade hinter das Steuer geklettert?
In diesen wenigen Sekunden meiner Unachtsamkeit, als oben und unten plötzlich die Plätze tauschen, wird mir mein Irrtum schmerzhaft bewusst. Es handelt sich bei dem Alten wirklich um David Carradine - und er hat die Rolle des Kung-Fu-Mönchs niemals nur gespielt.
Es sind beinahe sanfte Berührungen, die mich treffen, doch sie erfolgen schneller, als ich sie wahrnehmen kann. Ich verliere das Gleichgewicht, die Waffe entgleitet mir, ich schmettere zu Boden, bin bewegungsunfähig.
Die Scheinwerfer des Wohnmobils flammen auf, die Tür wird aufgestoßen, das Müttchen winkt ihren Mann herrisch ins Innere. »Nun komm schon!«
»Sofort, sofort.« Carradine eilt auf das Wohnmobil zu, nicht aber ohne nach den Geld-Bündeln zu grabschen, die auf seinem Weg liegen. Dann knallt die Tür zu und das Mobil schnauft an mir vorbei. Ich sehe ihm nach, bis es vom Horizont verschluckt wird.
Carradine hat mich mit seinem Kung-Fu-Scheiß gelähmt. Hilflos muss ich mit ansehen wie der Himmel zuzieht. Je dunkler es wird, desto mehr frischt der Wind auf. Es ist, als winken mir die Geldbündel spöttisch zu, bevor sie aus meiner Reichweite flattern. Diese Verhöhnung gibt mir noch einmal Kraft. Ich robbe auf die Reisetasche zu, packe sie und krieche weiter. Jedem einzelnen Bündel hinterher. Wie noch nicht flügge gewordene Küken, versuchen sie vor mir davonzuhüpfen. Vielen gelingt die Flucht und meine Flüche verfolgen sie. Doch nicht alle entkommen mir. Und mit jedem Schein, den ich in die Tasche zurückstopfe, kehrt auch Leben in meinen Körper zurück.
Ich weiß nicht, wie ich es den Graben hinunter und ein weiteres Mal hinauf schaffe. Als ich wieder auf der Straße stehe, ist es dunkel. Vielleicht ist es Nacht. Kein Zeitgefühl. Keine Sterne. Die Wolkendecke zimmert das Firmament völlig zu. Vielleicht liegt es auch an meiner verschwommenen Sicht.
Die Tasche ist längst nicht mehr so prall gefüllt, aber für ein sorgloses Leben würde es reichen. Die Waffe steckt in meinem Hosenbund. Mit dem nächsten Fahrer werde ich kurzen Prozess machen. Diesmal müsste schon der Terminator aus dem Auto steigen, um mich aufzuhalten. Das alles war eine Probe, erkenne ich jetzt. Ob ich würdig genug für ein neues Leben bin.
Ich taumle am Straßenrand entlang, Richtung Süden und male mir meine Zukunft aus. Ein Häuschen, irgendwo auf dem Lande. Mit Terrasse. Einen Garten. Schaukelstuhl. Liegestuhl. Einfach darin liegen, entspannen. Ein paar Hühner vielleicht. Sarah liebt frische Eier. Sarah …
Ob ich auf die Straße getaumelt bin oder das Fahrzeug zu nah am Rand gefahren ist, weiß ich nicht. Ich kann nicht mal sagen, wo genau es mich erwischt. Es knallt, Reifen kreischen, ich wirble durch die Luft, tausend Eindrücke, die im Schmerz verglühen, alles undeutlich - nur dieses reißende Geräusch, das vernehme ich ganz deutlich. Und diesmal ist es nicht die Reisetasche. Das spüre ich. Denn von den Schultern abwärts spüre ich gar nichts mehr.
Ich liege verkrümmt da, die Welt ist auf die Seite gekippt. Ich bin ruhig. Mit genügend Geld kann man alles reparieren. Den Rücken kriegt der Doktor wieder hin, hat er gesagt. Alles eine Frage des Geldes. Die Reisetasche ist ein Stück von mir geschleudert worden, hat eine Spur der Verheißung auf den Asphalt gestreut. Im Scheinwerferlicht sehe ich das ganz klar. Sehe den Schatten, höre, wie er flucht. »Scheißescheißescheiße.«
Jemand beugt sich zu mir runter, ein Kerl, kaum etwas über zwanzig. Kein Terminator, eher wie der junge John Connor. Das Gesicht kalkblass. In seinen Augen spiegelt sich mein Antlitz. Aber mit dem Bild stimmt etwas nicht.
Der Blick des Jungen irrt zur Reisetasche. Er stößt einen Laut aus, der alles bedeuten kann. Er geht vor dem Geldhaufen auf und ab, rauft sich die Haare, murmelt unverständliches. Dann stopft er das Geld zurück in die Tasche.
»Hilfe ...«, bringe ich hervor.
Der Junge hockt sich wieder vor mich. Sieht mir kurz in die Augen. Sehe ich da Mitleid? Ekel? Connors Blick ruht nicht lange auf mir, er sucht die Straße ab. Verzieht das Gesicht, als lausche er angestrengt. Ich lausche mit. Rauschen. Lautes Rauschen.
»Mister ... bitte«, sage ich. Ich will noch mehr sagen, will ihm anbieten zu teilen. Er müsste mich nur zu einem Arzt bringen. Es ist genug für zwei. Auch mit der Hälfte würde jeder von uns noch gut leben können. Verstand er denn nicht?
»Tut mir leid«, sagt der Junge und steht auf. Mit quietschenden Reifen braust der Wagen davon, nimmt alles Licht mit sich.