Mitglied
- Beitritt
- 24.08.2020
- Beiträge
- 526
Ein schöner Mensch
Aus dem Lautsprecher trällert Weihnachtsmusik. Sie passt nicht zu dem grauen Himmel und den Regenwolken, die betongrau über den Dächern der Altstadt hängen. In meiner Kasse sitze ich über ein Buch gebeugt und warte auf Kundschaft.
„Warum fahren keine Kinder mit dem Karussell?“
Ein kleiner Junge drückt seine Nase gegen die Scheibe meines Häuschens.
Seine dunklen Augen mustern mich neugierig. Ich blicke auf sein Haar, das widerspenstig absteht wie die Samen eines Löwenzahns, und suche nach Worten, die ein Kind versteht.
Ohne über Inflation, geburtenschwache Jahrgänge oder den ungünstigen Stellplatz zu sprechen, sage ich schließlich: „Weil heute keine Kinder da sind. Aber du könntest fahren, wenn du magst.“
„Mhmm.“ Er schüttelt den Kopf. „Meine Mama hat gesagt, ich darf erst am Wochenende Karussell fahren, wenn die Oma kommt.“ Er zeigt auf das Feuerwehrauto. „Dann mit dem da!“
Bevor ich etwas erwidern kann, läuft er davon. Ich sehe ihm nach, bis er in einer Seitenstraße verschwindet. Eine Weile beobachte ich die Menschen, die hastig, den Kopf gesenkt, über das nasse Kopfsteinpflaster eilen. Vielleicht sollte ich mich auch bewegen. Ich lege das Buch beiseite, trete aus der engen Kasse und strecke mich. Vom vielen Sitzen bin ich ganz steif.
Mein Blick wandert die Straße hinauf zu dem Transparent, auf dem „Weihnachtsmarkt“ steht. Sicher ist dort oben mehr los, denke ich. Oder ist nach vier Wochen auch dort schon die Luft raus? Für uns gab es keinen Platz mehr – und so stehen wir hier, vor dem Kaufhaus.
Während ich am Feuerwehrauto, dem Einhorn und an Paulchen Panther vorbeigehe, denke ich an die Weihnachtsmärkte, auf denen wir früher standen – mittendrin zwischen den geschmückten Holzhütten. Jedes Adventswochenende fuhren wir in eine andere Stadt. Noch vor Morgengrauen kratzten wir in Eile die Scheiben des Jeeps frei und hofften, dass das Streufahrzeug vor uns unterwegs war. Der Anhänger mit dem Karussell wog über zwei Tonnen – wenn der auf glatter Fahrbahn ins Rutschen kam … Ich schüttele den Kopf bei der Erinnerung.
Oft bedeckte eine festgefrorene Eisschicht die Plane des Anhängers. Wir plagten uns, sie herunterzuziehen, während dicke Eisplatten scheppernd auf die Straße fielen – manchmal auch auf unsere Köpfe. Damals besaßen wir ein Märchenkarussell mit Pferden und Kutschen. Die Front war bunt bemalt, mit Motiven der Gebrüder Grimm: Hänsel und Gretel, Schneewittchen … Auf dem Anhänger waren vier mal vier Pferde und zwei Kutschen montiert, die mein Mann und ich mühsam herunterluden, um sie anschließend an langen Eisenstangen aufzuhängen.
Einmal hatte ich meine Handschuhe vergessen. Es war so kalt, dass meine Finger am Metall festfroren. Der bloße Gedanke daran lässt mich frösteln, als liefe mir ein Strahl eiskalten Wassers über den Rücken.
„Guten Tag.“
Die Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Eine ältere Dame ist stehen geblieben.
„Sie haben ein wunderschönes Karussell.“ Ihr Blick schweift über jedes Fahrzeug, verweilt bei jedem Reittier, als wolle sie alle begrüßen – oder sich verabschieden.
„Das ist nett von Ihnen“, erwidere ich lächelnd. „Es freut mich, dass es Ihnen gefällt.“
Sie nickt, und ihre Stimme bekommt einen wehmütigen Klang.
„Es erinnert mich an meine Kindheit. Neunzehnhundertsiebenundvierzig war das. Wir waren Flüchtlingskinder und hatten nichts. Wenn wir auf die Kirchweih durften, haben wir das Karussell angeschoben, sind aufgesprungen und durften ein paar Runden mitfahren. Das war herrlich. Manchmal war das Karussell auch voll besetzt. Dann standen wir am Rand und haben den Kindern zugewunken. Später hatte ich keine Zeit mehr. Ab meinem zwölften Lebensjahr musste ich arbeiten.“
„Dann war Ihre Kindheit wohl sehr traurig“, sage ich vorsichtig.
„Traurig?“ Sie schüttelt den Kopf, fast entrüstet. „Nein. Damals sind wir schön geworden.“
Erstaunt schaue ich sie an. Ihr Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen. Blaue Adern schimmern unter der dünnen Haut ihrer Hand, mit der sie eine graue Strähne hinters Ohr streicht.
Sie lächelt – und ihre klaren, grünen Augen mit den vielen Lachfältchen scheinen zu ahnen, was ich denke.
„Wissen Sie, damals haben wir zusammengehalten. Wenn ein Gewitter aufzog, klopften die Bauern an jede Tür. Gemeinsam brachten wir das Heu in die Scheune. Heute fragt man zuerst: ‚Was bekomme ich dafür?‘
Damals gab es Not – und trotzdem haben wir alles überstanden. Weil jeder dem anderen geholfen hat. Es gab keinen, der allein war. Wir haben füreinander gesorgt.“
Sie kramt in ihrer Tasche und hält mir einen Zwanzigeuroschein hin.
Erschrocken trete ich einen Schritt zurück und schüttle den Kopf. Ich will keine Almosen.
„Bitte, nehmen Sie“, sagt sie leise. „Wenn ein Kind kein Geld hat, um mit Ihrem Karussell zu fahren …“
Ihre Augen leuchten – so hell wie die der Kinder, wenn sie auf dem Karussell ihre Runden drehen.
Und so nehme ich den Schein.