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Ein schlechter Tag für Richter Krüger
„Ruhe jetzt!“
Richter Krüger klopfte mit dem hölzernen Hämmerchen auf den Tisch. Die Strafkammer 19 des Amtsgerichts glich einem bunten Jahrmarkt mit Gebrüll und Keilerei. Hier eine blondierte, grell geschminkte Schönheit, die kreischte. Dort ein braungebrannter Fleischbrocken mit Goldkette, der „aufs Maul“ androhte. Das Hämmerchen sauste erneut nieder.
„Rrruhe!“
Der Richter schätzte chaotische Sitzungen überhaupt nicht. Blondie empfahl dem Fleischberg gerade, sich "doch ins Knie" zu ficken. Dieser holte mit der rechten Faust aus, um die Aufs-Maul-Androhung umzusetzen.
Richter Krüger rief nach dem Saaldiener und stellte eine saftige Ordnungsstrafe in Aussicht. Gleichzeitig signalisierte er Staatsanwalt und Verteidigung, sich nicht einzumischen. Seine Magensäure schoss über. Sodbrennen. Und das, obwohl er noch nicht viel gegessen hatte. Gerichtsdiener Niemann eilte herbei. Warf sich zwischen Dame und Kniefickverweigerer. Gab sein Bestes und prügelte auf die Blondine ein.
Richter Krüger hätte es zwar lieber gesehen, wenn sein Gerichtsdiener auf den Fleischbrocken eingeschlagen hätte, aber, dachte er, so würde sich die Angelegenheit vermutlich schneller regeln. Effizientes Verwaltungshandeln war schließlich ganz im Sinne des Volkes.
Niemanns Schwitzkasten war legendär. Blondie schrie und zappelte. Niemann schleifte sie aus dem Saal. Fleischbrocken fletschte die Zähne und schickte ihr ein Siegerlächeln hinterher, als hätte er selbst den Triumph errungen. Mit großer Geste zog er seine ballonseidene Hose am Bund hoch und ließ sich auf die Anklagebank plumpsen.
Verteidigung und Staatsanwaltschaft waren sprachlos.
Mickey Dee alias Egon Breitmeier hatte es wieder einmal geschafft: Keines der ‚Pferdchen’, wie er seine gewerblichen Arbeitsbienen nannte, sagte gegen ihn aus. Warum sollten sie auch? Zwangsprostitution und Menschenhandel waren unschöne Begriffe, außerdem lebte es sich schlecht mit gebrochenen Rippen und ausgeschlagenen Zähnen. Mickey grinste siegessicher. Richter Krüger hätte diesen Pluspunkt der menschlichen Gesellschaft gern für eine Weile in Haft genommen, doch die Beweislage sah dürftig aus.
Fleischmeisterin Eva-Maria Plambeck ging auf das imposante Amtsgericht zu. Pittoreske Sandsteintürmchen beidseitig des Einganges ließen das Gebäude wie ein Märchenschloss wirken. Die Fleischermeisterin trug eine Vorladung in ihren gichtgeplagten Händen, sie sollte als Zeugin vernommen werden und gegen Kollegen aussagen. Ihr war unbehaglich zumute. Aber das Anbieten von verdorbenem, umetikettiertem Fleisch war schlichtweg eine Schweinerei und Gerechtigkeit musste sein. Die dickliche Sechzigjährige hatte schließlich Ehre im Leib und schwarze Schafe in ihrer Branche brauchte niemand. Energisch stapfte sie die Treppen zu den Gerichtssälen hinauf.
Richter Krüger wischte sich mit einem Stofftaschentuch die Stirn ab, setzte sich auf den ledernen Hochlehner und atmete durch. So viel Stress war er eigentlich nicht mehr gewachsen. Die Füße schmerzten, hinter der Stirn pochte es und seine Frau hatte schon zweimal ausrichten lassen, dass er pünktlich zum Abendessen zu erscheinen hätte. Der Richter stöhnte, als er an seine Gattin dachte. Das einstmals männerfällend schöne Gesicht des heimischen Feldwebels war Opfer des Alters geworden. Das Gebaren seiner Sandkastenliebe, mit sechzehn noch hilflos-charmant, hatte mit sechzig seinen Charme gänzlich verloren. Dafür waren ihre Dienstanweisungen umso klarer geworden. Mit Stoßseufzer und krauser Stirn verabschiedete er sich aus diesen Gedanken. Der Saal wartete schließlich auf die Worte des Vorsitzenden. Richter Krüger ließ sich Zeit. Unter dem Tisch zog er seine Schuhe aus und rieb die bewollsockten Füße aneinander. Ganz gemächlich schubberte er sie. Sein Feldwebel hatte ihm eine Packung Pralinen eingepackt. Eine überraschende Nettigkeit, vermutlich wollte sie dafür eine Gegenleistung. Aber zunächst freute er sich über die Weinbrandbohnen zum Vernaschen. Vielleicht würde er Herr über das Sodbrennen werden, wenn er seinem Magen etwas anböte. Die erste Praline fand ihren Weg.
Der Richter studierte nochmals eine Passage in der Anklageschrift und ließ die randlose Brille tiefer rutschen. Die Spannung im Saal erhöhte sich, Staatsanwaltschaft und Verteidigung zuckten bei jedem Räusperer zusammen. Der Richter schnabulierte ungerührt die zuckerverkrusteten Weinbrandköstlichkeiten.
„Haben wir noch eine Zeugin?“, fragte der Füßereibende den Staatsanwalt, der daraufhin in einem Papierberg herumsuchte.
„Ich denke, ja“, antwortete er und wühlte nervös weiter.
Eulengleich blickte der Vorsitzende über seine Brille hinweg. Der vorausgegangene Tumult hatte an seiner Jovialität genagt.
„Ja oder Nein?“
„Ja!“
„Gerichtsdiener, die Zeugin bitte“.
Ein weiteres Pferdchen sollte in den Saal trappeln. Gerichtsdiener Niemann, noch mitgenommen vom Gerangel, lief auf den Gerichtsflur, konnte aber niemanden entdecken. Nur zwanzig Meter entfernt eine rundliche Dame. Sicher keine Gunstgewerblerin, da war sich Niemann völlig sicher.
„Hallo, hallo ... Sie da!“ Die stattliche Frau rollte auf ihn zu. „Bin ich hier richtig? Ich wollte zum Prozess mit dem verdorbenen Fleisch!“ Niemann traute seinen Augen nicht. Er kratzte sich am Hinterkopf und musterte die dicke Frau. Die fuchtelte mit ihrer Ladung und er sah den Briefkopf des Amtsgerichtes. Mit festem Griff packte er die Geladene und zog sie in den Gerichtssaal.
„Ich soll hier aussagen wegen des verdorbenen Fleisches,“ quiekte Frau Plambeck. Niemann hielt sie noch immer fest. Die Fleischerin mochte nicht wie ein Stück Fleisch behandelt werden und hieb Niemann auf die Finger. Der ließ von ihr ab, aus Angst, auch noch mit der Handtasche eines übergebraten zu bekommen.
Richter Krüger war nicht zu sehen.
Er hatte eine Praline unter den Richtertisch gekegelt und suchte sie nun.
„Heureka! Ich hab sie!“, tönte es dumpf unter dem braunen Verhandlungstisch hervor.
Der Richter tauchte lustvoll lutschend auf und erblickte Frau Plambeck. Er musterte sie. So alt und immer noch im Geschäft? Zweifelnd betrachtete er das Pferdchen ... den Klepper. Wenn diese Dame damit noch Geld verdient, dachte er, dann hätte mein häuslicher Feldwebel noch gute Chancen, reich zu werden. Er gluckste bei dieser Vorstellung. Ihn schwindelte. Mit dem Zeigefinger schob er die schräg stehende Brille zurecht.
„Sie sind noch immer im Gewerbe tätig?“
Frau Plambeck stutzte einen Moment.
„Aber natürlich. Ich bin doch erst knapp sechzig, und ich will noch lange machen.“
Der Richter guckte verwundert, aber der Klepper gefiel ihm.
„Mein Vater hat auch lange in dem Beruf gearbeitet, bis zum Achtzigsten!“
„Ach!“
Aufgeregt versuchte er, eine Praline aus der Plastikverschalung zu drücken. Das dusselige Ding machte einen Satz zum Fußboden.
„Verdammtes Stückchen,“ raunte er.
„Der Angeklagte da ...“ Richter Krüger fuchtelte wild um sich und kroch dem unseligen Stückchen hinterher. „Ist er ihnen bekannt?“, brummte es unter dem Tisch.
Frau Plambeck blickte sich verwirrt um, sah den ballonseidenen Mickey Dee und entschied sich für ein „Ja“. Schließlich sah ein Fleischbrocken so aus wie der andere. Wie bei Chinesen. Die sehen alle aus wie Chinesen. Fleischer sahen auch alle gleich aus.
„Die kenne ich ganz bestimmt nicht!“, brüllte Mickey Dee, „Drecksnutte!“ Er machte einen Hechtsprung in Richtung ehrbarer Fleischerin.
Niemanns Auftritt. Heute war aber auch ein Tag! Der Gerichtsdiener schnellte zur Ballonhose. Kurzer Moment der Entscheidungsfindung – dann die Umsetzung: Schwitzkasten für Mickey Dee. Die Fleischmeisterin schien Niemann doch zu wuchtig. Die Verteidigung bat um Vertagung. Des Richters Hämmerchen sauste laut rhythmisch auf und nieder. Die Pralinenschachtel hüpfte.
Richter Krüger hatte genug und vertagen wollte er nicht, er wollte Mickey zur Strecke bringen. Und das möglichst schnell, denn eigentlich hätte er schon zu Hause sein sollen.
„Das mit dem verdorbenen Fleisch muss ein Ende haben,“ heulte Frau Plambeck. „Ich sage alles, Euer Ehren, alles. Ich packe aus. In meinem Gewerbe wird auf ganz üble Art mit Fleisch gehandelt. Und gewerbetreibende Frauen wie mich, die ein paar Euro mit einem guten, ehrlichen Angebot machen, die zwingt man in einen ganz harten Wettbewerb. Billiges Fleisch aus Polen und aus Russland nimmt uns den ganzen Markt weg und dann ist es auch noch unendlich verdorben!“ Sie barg das Gesicht in den Händen. „Und solche wie der da werden auch noch gewalttätig!“ Sie zeigte auf Mickey im Schwitzkasten.
„Endlich habe ich ihn,“ freute sich das Teufelchen in des Richters Hirn. Mickey Dee, alias Egon Breitmeier, war überführt. Er hatte sie eindeutig als Drecksnutte identifiziert und sie hatte ihn als gewalttätigen Menschenfleischhändler denunziert. Das weinbrandbohnenumnebelte Gehirn frohlockte, die Füße rieben sich aufgeregt.
Ärgerlicherweise meldete sich die Verteidigung zum Plädoyer. Schlechte Kindheit, Vater Säufer, Mutter billiges Fleisch aus Polen, das hatte alles einen so langen Bart. Schluss mit dem Geschwafel!
Die richterliche Unabhängigkeit setzte ein Zeichen, Richter Krüger wollte aufräumen. Mit dem rumorenden Magen und mit Mickey Dee. Er hieb gladiatorengleich auf seinen Brustkorb ein und röhrte rülpsend „Im Namen ... des Volkes ... ergeht folgendes ... Urteil ...“
Mickey Dee riss sich los. Niemann grapschte ihm fruchtlos hinterher. Der Lude zeigte auf den Richter und brüllte „Wichser!“ Des Richters Augen wurden groß. Wie ein springender Delphin landete Mickey bäuchlings auf dem Richtertisch und rutschte dank der ballonseidenen Hose dem Richter mitten ins Gesicht. Der Hochlehner kippte nach hinten. Rangelei unter dem Richtertisch. Trotz seines Alters hielt sich der Richter wacker. Bis sich Gerichtsdiener Niemann einmischte. Niemann erspürte den schwächeren Teil sofort und hieb auf den Richter ein. Euer Ehren ging endgültig zu Boden.
Ein schlechter Tag für den Vorsitzenden der Strafkammer 19 des Amtsgerichtes, Richter Krüger. Aber diese Verhandlung sollte sich noch als feuchter Lehm erweisen im Gegensatz zu dem, was ihn zu Hause erwartete.