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Ein schlichtes Holzkreuz
Eine stumme Erinnerung
Ein schlichtes Holzkreuz erinnert an schreckliche Tage. Sie stehen hier und da neben Straßen, die von Wald umsäumt oder im Winter besonders glatt sind. Kaum merklich verstecken sich die Kreuze hinter einem wildernden Busch, immer dazu in der Lage an ihre Geschichte zu erinnern. Man passiert sie in seinem eigenen Auto und gibt Sätze von sich wie:
„Ah, das ist wohl wieder einer zu schnell gefahren“ oder
„War da jemand betrunken?“
Aber welche Schicksale stecken hinter diesen schlichten Holzkreuzen, mit den Blumen daneben?
Es war ein anstrengender Tag für Phil gewesen. Sein Hund Finny zog unablässig an der Leine und genervt streifte der hoch gewachsene Mann sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
Es war einer dieser Tage, bei denen man den Verdacht hatte, die Welt ginge unter. Der Wind schlug einem ins Gesicht, der Regen fiel in kleinen Tropfen, sodass man ihn kaum bemerkte, aber am Ende des Spaziergangs doch komplett durchnässt war. Zusätzlich spendete der Tag kaum mehr Licht, als ein dichter Wald. Phil ärgerte sich über seinen Hund und merkte nicht, dass der ihn immer weiter zu einer befahrenen Straße führte. Zu sehr war sein Herrchen in Gedanken versunken. Finny blieb stehen und Phil schaute nicht genauer hin, dachte der Dackel würde endlich sein Geschäft erledigen und sah in den dunklen Himmel hinauf. Er hoffte, dass das Gewitter ihn nicht hier erwischen würde. Hier? Wo war er eigentlich? Er befand sich auf einem kleinen Weg, direkt neben einer befahrenen Straße. Als er zu seinem Hund hinunter blickte, erschrak er.
„Lass das, Finny! Komm da weg“, befahl er und zog seinen Hund von dem Holzkreuz weg. „Mach da in die Büsche“, knurrte Phil und Finny trottete zu den nächstgelegenen Zweigen. Er war ein alter Hund und würde nicht auf die Straße laufen, also ließ Phil die Leine los. Neugierig besah Phil sich das Holzkreuz.
Marie Neubürger
geboren 15.05. 52
gestorben 29.05.05
Phil wich etwas zurück. Der Unfall war nicht einmal zwei Monate her. Mit gespitzten Fingern fuhr Phil über das Holz. Es war nicht mehr ganz glatt, einzelne Splitter schnitten leicht in seine Haut. Er nahm die verwelkten Blumen in die Hand. Es waren Tulpen, wie er leicht lächelnd feststellte. Seine Lieblingsblumen.
„Was tun sie da?“, schreckte ihn eine Stimme hoch. Überrumpelt schoss er in die Höhe und drehte sich herum. Eine Frau, etwas jünger als er selbst, schaute ihn wütend an.
„Es – es tut mir Leid“, stammelte er, „mein Hund – er wollte…“
„Schon gut“, brach die junge Frau seine Erklärungsversuche ab. Sie schob ihn leicht zur Seite und beugte sich hinunter zu dem Kreuz. Wieder fuhr sich Phil durch die blonden Haare, diesmal aus Nervosität. Er wollte gehen, konnte aber seinen Blick nicht losreißen von der jungen Frau, die nun behutsam neue Blumen neben das Kreuz legte, Butterblumen. Als sie sich suchend umschaute, hielt er ihr verlegen die Tulpen hin.
„Danke, aber die brauche ich nicht mehr“, erklärte sie und sah ihn leicht missbilligend an. Phil wurde rot unter ihrem durchdringenden Blick. Er setzte noch einmal an, sich zu entschuldigen, aber in dem Moment fing die Frau an zu sprechen, allerdings nicht mit ihm, wie er bemerken musste.
„Ich habe heute wieder angefangen zu arbeiten, Mama“, flüsterte sie, aber Phil konnte trotzdem jedes Wort verstehen.
„Es tut mir gut“, fuhr die Frau fort, „aber es ist schwer ohne dich. Ich würde gern deinen Rat höre, dir von meinen Kollegen erzählen. Sie behandeln mich alle mit Vorsicht. Sind nett zu mir, aber durch sie werde ich nur an meine Trauer erinnert. Ich vermisse dich, Mama“, schloss die Frau und beugte sich vor um das Kreuz zu küssen. Dabei verdeckten ihr die dunklen Haare das Gesicht. Phil merkte, wie er die Tränen unterdrückte.
„Es tut mir Leid“, presste er hervor und erst jetzt erinnerte sich die Frau wieder an ihn. Abrupt stand sie auf.
„Was tut Ihnen Leid?“, fragte sie aggressiv, „dass meine Mutter tot ist? Dass ich seit zwei Monaten trauere? Sie wissen doch gar nichts von mir“
Phil sah sie apathisch an. In dem Moment wackelte Finny unbekümmert und gemächlich zu seinem Herrchen zurück.
„Es tut mir trotzdem leid“, beharrte Phil, und sah, wie in das harte Gesicht der Frau die Trauer zurückkehrte. Ihre Züge wurden sanfter und ihre Unterlippe begann zu beben. Als sie sich dessen bewusst wurde, wandte sie sich wieder dem Kreuz zu.
Für einen Moment bekam Phil ihren ganzen Schmerz zu spüren. Die Frau, dessen Namen er noch immer nicht kannte, versuchte die Trauer zu überspielen, aber Phil sah, wie alles an ihr bebte und sie sich verstohlen über die Augen rieb. Er setzte an zu einem neuen „Es tut mir leid“, aber es blieb ihm im Hals stecken. Er schnappte sich seinen Hund, der inzwischen zu seinen Füßen lag und eilte durch den Wald zurück.
Zu Hause angekommen, warf er sich auf das Sofa und war froh, in seinen vier Wänden zu sein. Erst jetzt bemerkte er, dass er die Tulpen noch immer in seiner Hand hielt. Er holte eine Vase und stellte die Blumen in das frische Wasser. Phil nahm eine heraus und hielt sie an seine Nase. Er konnte noch einen leichten Duft riechen und jetzt erst merkte er, dass ihm die Tränen über die Wangen liefen.