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Ein Schneesturm im Sommer

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27.01.2022
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Ein Schneesturm im Sommer

Das hier ist mein Text für den mittlerweile abgelaufenen Bod-Wettbewerb zum Thema "Magic between the Pages". Leider habe ich es nicht unter die Gewinner geschafft.

Ein Schneesturm im Sommer

Als der letzte Gefühlsbinder verbrannt wurde, waren meine Eltern so alt wie ich. Mich gab es noch gar nicht. Mein Opa starb im Bücherkrieg und meine Oma redet nicht gern über diese Zeit. Wenn ich Papa danach frage, erzählt er mir nur, wie gefährlich die von Gefühlsbindern aufgeladenen Bücher und Geschichten sind, und dass man sie kontrollieren muss oder am besten gleich verbrennen. Bücher und Gefühlsbinder.
Über was Oma aber gern redet, ist die Zeit vor dem Krieg. Die Zeit mit Büchern und Geschichten. Und Gefühlen und Magie. Obwohl ich die Geschichte schon dutzende Male gehört habe, wird sie nie langweilig. Die Geschichte erzählt sie nur mir. Immer nachts in meinem Zimmer, flüsternd, damit uns keiner hört.
“Felix”, sagt sie dann leise und deckt mich dabei zu. “Geschichten sind gefährlich, weißt du warum?”
“Weil”, sage ich dann. “Selbst wenn man kein Gefühlsbinder ist –“
“– haben Geschichten Macht”, sagen wir gleichzeitig. Sie gibt mir dann immer einen Stupser auf die Nase. „Und sag ja nichts deinen Eltern!“
Dann fängt sie an zu erzählen, wie Opa ihr einmal ein Liebesgedicht geschenkt hat. Das war aber so voller Feuermagie aufgeladen, dass es beim Lesen beinahe ihr Elternhaus abgebrannt hätte. Ihre Augen glitzern dann immer ganz komisch und ich meine, ein kleines Lächeln in ihrem runzligen Gesicht erkennen zu können. Ein kleines Lächeln darf man, meint Oma. Aber ein Großes ist gefährlich. Wenn man nämlich nicht aufpasst, sehen das die maskierten Wächter und stellen dann Fragen, ob man nicht vielleicht ein verbotenes Buch hat oder gar ein Gefühlsbinder ist. Und dann wird man weggebracht und im schlimmsten Fall verbrannt.
Oma erzählt noch mehr, aber meistens bin ich dann schon eingeschlafen.


“Felix?”, ruft Oma. Sie ist in der Küche und schneidet Gemüse für den Eintopf, den es übermorgen gibt. Da holen mich meine Eltern wieder ab.
Ich kann nicht glauben, dass der Sommer schon wieder zu Ende ist. Die drei Wochen auf Omas kleinem Hof vergehen immer viel zu schnell. Kein Wunder, es gibt auch immer was zu tun. Entweder die Schafe auf die Weide treiben, oder von der Weide holen, oder die Kuh Mira melken, oder Gemüse und Obst ernten.
“Ja?”, antworte ich aus dem Wohnzimmer. Ich liege auf dem weichen Teppich und zeichne ein Bild für meine Eltern. Kuh Mira, wie sie mit Katze Paul tanzt. Paul liegt zwar meist nur faul herum, aber ich male ihn trotzdem tanzend. Eigentlich sollte ich nur Häuser oder Städte zeichnen, weil Tanzen gefährlicher ist als ein großes Lächeln. Aber bei Oma sieht uns keiner. Wächter verirren sich nur selten hierher und die Stadt ist zu weit weg.
“Kannst du mir schnell noch drei Zwiebeln aus dem Keller holen?”
Oh, der Keller! Da ist es dunkel und die Luft riecht komisch und Spinnen und anderes Zeug krabbelt da herum. Der Keller ist toll!
“Ist gut!” Ich springe hoch, wecke dabei Paul auf, der auf einem Sessel liegt und mich gelangweilt anschaut, und laufe in den stockfinsteren Keller.
“Vergiss die Lampe nicht!”, ruft Oma von oben.
Ich laufe wieder hoch, schnappe mir die brennende Öllampe von Oma, und laufe dann etwas vorsichtiger in den jetzt hellen Keller.
Der Keller ist vielleicht so groß wie mein Zimmer. An den Wänden stehen überall Regale, die bis oben hin mit allerlei Zeug vollgestopft sind: Gläser mit Marmelade und sauren Gurken. Säcke mit Kartoffeln, Rüben und Äpfeln. Dazwischen stehen Holzkisten und Papierschachteln. Das Licht meiner Öllampe flackert über weitere Kisten auf dem Boden.
“Zwiebel, Zwiebel, wo seid ihr? Ah, da!” Ich stelle die Lampe auf einer Kiste ab. “Wieso seid ihr so weit oben?”, frage ich und schiebe eine Kiste näher an das Regal heran. Ich steige auf den knarzenden Deckel und strecke mich nach oben. Mit einer Hand halte ich mich am Regal fest, mit der anderen schnappe ich mir eine große, braune Zwiebel und lasse sie zu Boden fallen. Plumps. Die Dritte flutscht meinen Fingern davon und rollt weiter nach hinten. Mist. Ich strecke mich höher, mache mich und meine Finger ganz lang, kann die Zwiebel schon spüren. Plötzlich kracht es unter mir. Mit einem Aufschrei sacke ich nach unten.
“Felix? Alles in Ordnung? Soll ich dir helfen?”
“Nein!”, sage ich schnell. Mein linker Fuß steckt in der Kiste fest. “Alles gut! Ich komme gleich!” Ich ziehe ihn vorsichtig raus und begutachte den Schaden. Das Loch ist nicht so groß. Ich schaue mich um. Da! Ein alter Hut von Opa. Als ich ihn auf das Loch legen will, halte ich kurz inne. Etwas schaut mir aus dem Loch entgegen. Ich greife langsam hinein, um mich nicht an den Holzsplittern zu pieksen, und hole ein kleines, blaues Ding hervor. Es ist ungefähr so groß wie meine beiden Hände und ganz aus Papier. Und es lässt sich öffnen und dann ist da noch mehr Papier! Vorne sind komische weiße Zeichen. Ist das etwa ein Buch? Oma hat mir davon erzählt.
Dann trifft mich die Erkenntnis wie ein Blitz. Ein Buch! Mir wird ganz heiß und kribbelig und ich muss einen Schrei unterdrücken. Sofort lasse ich es fallen wie eine heiße Kartoffel und weiche zwei Schritte zurück. Haben die Wächter das übersehen? Die haben bestimmt nicht nach so kleinen Büchern gesucht.
Das Buch bleibt aufgeklappt liegen. Jetzt kann ich noch mehr Zeichen entdecken. Dazwischen sind auch noch schöne Zeichnungen von Bäumen und weißen Sternen, und was ist das da für ein Ding? Ich gehe mit der Lampe etwas näher ran. Drei weiße Kugeln. Eine kleine Kugel, mit zwei schwarzen Augen und einer Karotte, auf einer größeren Kugel, die wiederum auf einer ganz großen Kugel sitzt.
“Felix! Wo bleibst du denn?”
Ich zucke zusammen. “Ja, komme schon!” Kurz zögere ich noch, aber da mich das Buch immer noch nicht gefressen oder in Flammen aufgegangen ist, schnappe ich es mir und verstecke es in meinem Hosenbund. Ich setze der kaputten Kiste noch Opas Hut auf und eile mit den Zwiebeln unterm Arm nach oben.

Ich liege in meinem Bett, starre ins Halbdunkle und lausche. Nichts mehr zu hören. Ich glaube, Oma schläft. Etwas schlecht fühle ich mich schon, weil ich Oma angeschwindelt habe, als ich sagte, ich sei zu müde für eine Geschichte. Aber sie meinte nur: “Ist gut”, stupste meine Nase und ging.
Ich hebe mein Kopfkissen an. Das Buch liegt noch genauso da, wie ich es zurückgelassen habe. Und es brennt immer noch nicht. Ich schleiche zu meiner Türe und öffne sie einen Spalt breit. Im Zimmer schräg nebenan schläft Oma, ich kann sie sogar durch die geschlossene Tür hindurch schnarchen hören. Barfuß tapse ich in die Küche, wo im Ofen noch etwas Glut glimmt. Damit zünde ich mir eine Öllampe an und gehe wieder zurück in mein Zimmer. Der Vollmond scheint hell durch mein Fenster, aber für das, was ich vorhabe, brauche ich mehr Licht. Mit Buch, Lampe und ganz viel Papier setze ich mich an meinen Tisch und fange an, Bilder und Buchstaben aus dem Buch nachzuzeichnen.
Inzwischen habe ich erkannt, dass es in dem Buch wohl um Winter und Schnee geht. Alle haben Mützen, Schals und Handschuhe an und alles ist weiß. Ich male Bäume und lachende Kinder, die sich mit kleinen, weißen Schneekugeln bewerfen. Dazwischen zeichne ich immer wieder Buchstaben. Nach einer Weile wird mir kalt. Meine Zähne klappern leicht, aber ich bin so vertieft in die Zeichnung, dass es mir noch nichts ausmacht.
Ich male Kinder, die auf einem komischen Holzding sitzen und einen Berg hinuntersausen. Das sieht lustig aus, das möchte ich auch mal probieren. Ich blättere um. Auf der nächsten Seite sieht man eine große, dunkle Wolke mit bösem Gesicht, die ganz viel Schnee vor sich her pustet, was den Kindern im Haus auf der anderen Seite aber nichts ausmacht. Die sitzen sicher und trocken vor einem brennenden Kamin und trinken Tee oder Kakao aus bunten Tassen.
Ein plötzlicher Windstoß lässt die Seiten des Buches flattern. Ist das Fenster offen? Als ich meinen Blick hebe, erstarre ich. Auf dem geschlossenen Fenster sind Frostblumen. Ich kann zusehen, wie sie wachsen und bald das ganze Fenster bedecken. Ich schaue mich panisch um. Der Frost ist überall! Auf dem Fensterbrett, auf meinem Bett, auf dem Boden. Nur direkt zu meinen Füßen ist nichts.
Mein Herz fängt ganz wild an zu pochen und ein kleiner Nebel schwebt vor meinem Mund, weil ich so schnell atme. Was ist passiert? War ich das? War es das Buch? Schnell klappe ich das Buch zu. Das ist ein Alptraum, ich träume. Ich schließe die Augen und zähle bis zehn. Ganz bestimmt ist dann alles weg. Ich schlinge meine Arme um mich, weil es immer kälter wird. Nach siebenmal Zählen kann ich nicht mehr warten und öffne die Augen, aber der Frost ist immer noch da!
Ich muss ihn wegputzen. Wenn er weg ist, ist nichts passiert. “Ah, ist das kalt!”, sage ich, als meine nackten Füße den Boden berühren. Ich husche durch das Zimmer und versuche, den Frost wegzuwischen, aber er liegt überall. Ich schaffe das nicht allein. “Oma!”, rufe ich. Mein Hals wird ganz eng und ich wische mir Tränen weg. “Oma!”
Die Tür geht auf. “Felix! Was -“ Sie schaut zuerst das Zimmer und dann mich mit großen Augen an. “Was ist passiert?” Ihre Stimme ist ganz leise.
Aber meine ist ganz laut und abgehakt, weil ich so viel weinen muss. “D–das Buch! Ich w-wollte das nicht!”
Oma kommt ins Zimmer und nimmt mich in den Arm. Ich drücke sie ganz fest. Sie ist schön warm.
“Du zitterst ja”, sagt sie und streicht mir über die Haare.
“Das war das Buch”, nuschele ich in ihr Nachthemd.
“Welches Buch?” Sie lässt mich los und geht zum Tisch. Kaum ist sie weg, zittere ich wieder. Sie nimmt das verfluchte Schneebuch in die Hand. Ich habe Angst, sie verwandelt sich in drei Schneekugeln mit schwarzen Augen und Karottennase, aber nichts passiert. Im Gegenteil, sie lächelt klein. “Wo hast du das gefunden?”
“Im Keller”, schluchze ich. Wie der Frost, nur viel schwerer, legt sich eine Decke über mich, als ich frage: “Werd’ ich jetzt verbrannt?”
“Was?”, sagt sie und drückt mich wieder.
“Papa sagt immer, Bücher und Gefühlsbinder sind böse und müssen verbrannt werden, und ich hab doch das Buch abgezeichnet, und dann ist das hier passiert...”
Omas buschige Augenbrauen ziehen sich zusammen. “Abgezeichnet? Wo?”
“Auf dem Tisch”, sage ich und wische mir meine Augen und meine Nase an meinem Schlafhemd trocken. Als Oma das sieht, sagt sie: “Felix, nicht an deinem Hemd!” Sie legt das Buch zurück, nimmt meine Zeichnung in die Hand und wird ganz still.
Ihr kleines Lächeln erscheint wieder. Dann wird es groß. Ihre Augen funkeln. “Oh”, flüstert sie und ihre Stimme zittert. “Das ist... Das ist wie damals.” Ihre Wangen werden ganz rot. Weiße Wölkchen tanzen vor ihrem Mund, als sie plötzlich ganz laut zu lachen beginnt. Ich zucke zusammen und schlinge meine Arme um mich, weil es immer kälter, und der Wind immer stärker wird. “Oma, etwas stimmt nicht...” sage ich. Wie als hätte meine Zeichnung mich gehört, fängt sie in Omas Händen plötzlich an, blau zu leuchten.
“Oma, die Zeichnung!”
Etwas Kaltes und Nasses landet auf meiner Nase. Ich schaue nach oben und weitere nasse Dinger landen in meinem Gesicht. Ich brauche einen Moment, um es zu begreifen, weil es so verrückt ist. Aber es schneit! In meinem Zimmer! Dicke, weiße Flocken erscheinen aus dem Nichts und werden vom stärker werdenden Wind umhergewirbelt.
Ich schaue zu Oma, die die Arme um sich geschlungen hat und leise ein Lied summt. Ihr verträumter Blick geht ins Leere.
“Oma!” Ich reiße ihr die glühende Zeichnung aus der Hand, weil ich Angst habe, sie verbrennt ihre Hand. Ich zerknülle sie und werfe sie zu Boden, wo sie sofort vom Wind erfasst wird und wie ein kleiner blau leuchtender Mond in eine Zimmerecke rollt.
Oma zuckt zusammen. Ihr Blick wird wieder klar. “Felix?”
“Alles gut, Oma”, sage ich. “Jetzt ist es weg und es passiert uns nichts mehr.”
In dem Moment bricht der Sturm los. Die Tür kracht zu. Das Fenster klappert wie wild. Die Öllampe fällt vom Tisch und erlischt. Alles, was nicht schwer genug ist, wird durch das Zimmer geschleudert. Meine Stoffkuh fliegt an mir vorbei. Das Buch und leere Blätter tanzen im Sturm wie Schmetterlinge. Das Bett wackelt. Der Stuhl wird gegen den Tisch geschoben. Bilder werden von der Wand gerissen und schießen im Sturm umher. Ich muss mich ducken, um nicht getroffen zu werden. Bald kann ich vor lauter Schnee auch nichts mehr sehen.
“Oma!” Ich taumle zu ihr, kralle mich an ihr fest und drücke mein Gesicht in ihr Nachthemd. Sie schlingt die Arme um mich. Der eisige Wind und Schnee beißen in meine Füße, Hände und Ohren und alles, was nicht geschützt ist.
“Wir müssen hier raus!” schreit sie. Wir wackeln zur Tür und Oma zieht daran, aber ihre Hände rutschen ab. Sie fällt nach hinten um und reißt mich mit in den Schnee. Die Kälte raubt mir meinen Atem. Oma rappelt sich auf und versucht es nochmal. Sie zieht mit aller Kraft. Da! Ein kleiner Spalt öffnet sich. Ich ziehe mich an Omas Nachthemd in die Höhe, falle halb durch die Tür hindurch und presse mich von außen dagegen, sodass auch Oma hindurch kann. Schnee und Eis wirbeln in den Flur, dann schlägt der Wind die Tür zu und sperrt den Sturm ein.
Ich keuche zitternd und schlinge die Arme um mich. Wir sitzen an der gegenüberliegenden Wand und schauen uns an. Omas Haare stehen wild ab und sind voller Schnee. Mein Schlafanzug ist völlig durchnässt, genau wie Omas Nachthemd.
“Es tut mir leid”, sage ich und fange wieder zu weinen an. Die Tränen schmelzen den Schnee auf meinen Augen. “Ich wollte das nicht!”
Oma atmet schwer. “Schon gut, Felix.”
Wir schrecken beide hoch, als etwas gegen die Tür kracht. Sie scheppert und wackelt und wird immer wieder nach außen gedrückt.
“Wann hört das wieder auf? Wieso passiert das alles?”, frage ich. “Hält die Tür das aus?” Wie als Antwort ächzt und knarrt die Tür wieder.
Oma nimmt mich in den Arm. “Ich weiß es nicht, Felix.”
“Was genau? Das mit der Tür oder wann das wieder aufhört oder wieso das passiert?”
“Die Tür... müsste halten”, sagt Oma langsam. Sie sieht die wackelnde Tür an und dann wieder mich. “Lass uns schnell nachdenken. Du hast das Bilderbuch gefunden.”
Ich nicke.
“Dann hast du die Zeichnungen und Wörter nachgemalt.”
Ich nicke wieder und sage ganz schnell: “Und dann hast du die Zeichnung genommen und ganz laut gelacht und so komisch geschaut und dann kam der Sturm und der Schnee und meine Zeichnung hat so blau gestrahlt und ich hatte Angst, sie geht gleich in Flammen auf wie das Liebesgedicht aus deiner Geschichte und -“
Oma schnippt mit den Fingern. “Das ist es! Feuer!”
“Feuer?”
“Ja! Opas Gedicht ist in einem riesigen Feuerball verbrannt.” Oma schaut die Tür an, als sie spricht. “Und auch später, nach dem Krieg, wurden die aufgeladenen Bücher alle verbrannt!”
Ich verstehe es nicht. Opas Gedicht? Aufgeladene Bücher?
“Oma? Wieso hat meine Zeichnung geleuchtet und wieso hat es dann geschneit?”
“Felix, ich erzähl’ dir gern alles später, aber zuerst müssen wir deine Zeichnung verbrennen, in Ordnung?”
Ich nicke. Dann fällt mir was ein und ich reiße die Augen auf. “Oma? Die Zeichnung ist noch da drin!”
“Dann müssen wir sie herausholen.” Oma steht auf und hält mir ihre Hand hin. “Hilfst du mir?”
Ich schlucke schwer. “Ich habe Angst”, sage ich leise.
“Ich auch”, sagt sie. “Aber zusammen schaffen wir das, ja?”
Nach kurzem Zögern packe ich ihre Hand und sie zieht mich hoch. “Ist gut!”
“Auf drei drücke ich die Tür auf. Du läufst rein und schnappst dir die Zeichnung.” Oma stellt sich vor die polternde Tür. Ich stehe neben ihr. Ich zittere schon wieder.
“Eins - zwei - drei!” Oma drückt und schiebt, so fest sie kann. Die Tür bleibt immer wieder stecken, weil schon so viel Schnee davorliegt. Der Sturm schlägt mir aus dem Türspalt entgegen und ich bekomme keine Luft und sehe nichts mehr. Schützend halte ich einen Arm vor mein Gesicht und schlüpfe hinein.
Nur noch weiße Umrisse lassen erahnen, wo mal mein Tisch oder mein Bett gestanden haben. Alles ist weiß und leuchtet seltsam, wie von selbst, obwohl es draußen Nacht und das Fenster sowieso voller Schnee ist. Das Leuchten hilft mir, aber ich frage mich, wie ich in diesem Weiß etwas erkennen oder suchen soll. Angst kriecht meinen Hals hoch.
“Felix! Beeil dich!” Omas Ruf geht fast in dem Tosen unter. Ich drehe mich um, will zu ihr zurück. Will ihr sagen, dass ich es nicht schaffe und nichts finde, als ich hinter der Tür etwas Blaues schimmern sehe.
“Ich hab sie!” schreie ich und stürze samt Zeichnung aus dem Zimmer.
Oma lässt los, springt ebenfalls nach hinten, und der Sturm schlägt die Tür so fest zu, dass sie aus den Angeln bricht und wie ein lockerer Zahn im Türrahmen baumelt. Eis, Schnee und Wind drücken uns gegen die Wand.
“Schnell! In die Küche! Oma packt meine Hand und wir laufen los. In der Küche reißt sie den Ofen auf und pustet in die Glut. “Die Zeichnung!”
Gebannt schaue ich den glühenden Papierball in meinen Händen an. Er ist kalt, aber seltsamerweise nicht nass.
“Felix!”
Ich schmeiße meine Zeichnung hinein und halte mir die Ohren zu.
Zuerst passiert nichts. Dann fängt das Papier zu rauchen und zu glühen an, bevor es komplett in blauen Flammen aufgeht. Nach kurzer Zeit ist nur noch Asche übrig.
Ich nehme meine Hände wieder runter. Alles ist still. Ich schaue Oma an.
“Hörst du was?” fragt sie.
Ich schüttle den Kopf und Schneeflocken rieseln aus meinen Haaren herab.
Oma seufzt schwer und lässt sich an der Küchenwand zu Boden sinken.
Ich setze mich neben sie. Sie legt einen Arm um mich und ich drücke mich an sie.
“Das war sehr mutig von dir”, sagt Oma.
“Du hast geholfen.”
“Ein bisschen.”
Lange sagt keiner ein Wort. Der Ofen knistert und wir lassen uns von der kleinen Glut trocknen. Ich gähne groß und meine Augen werden schwer.
“Dein Opa war so wie du”, sagt Oma plötzlich. “Er konnte Gefühle und Magie in Bücher binden. Ich dachte aber, die Wächter hätten alle Bücher mitgenommen...” Sie streichelt meine Haare. “Er war ein Gefühlsbinder.”
Fast wäre ich eingeschlafen. Bei Oma ist es so schön warm. Doch dieses Wort lässt mich hochschrecken und ich starre Oma an. “Ein Gefühlsbinder? Oma! Bin ich jetzt böse?” Mein Blick wird ganz verschwommen und mein Körper spannt sich an. “Holen mich jetzt die Wächter?”
“Nein!” sagt sie ganz fest und drückt mich. “Du bist etwas ganz Besonderes. Und niemand nimmt dich mir weg. Aber es muss unser Geheimnis bleiben, verstehst du? Wie bei Opa."
Ich nicke. "Weil Papa sagt, Gefühlsbinder sind gefährlich."
"Papa hat Angst", sagt Oma leise. "Aber du und ich, wir wissen es besser." Sie lächelt mich an, aber ganz anders als sonst. Ein großes Lächeln. Ich kann nicht anders, als auch ganz groß zu lächeln. "Komm, wir schauen, was von deinem Zimmer übrig ist."
Mein Zimmer sieht aus, wie in den Zeichnungen aus dem Buch. Überall liegt Schnee, aber jetzt ist es ruhig und friedlich. Ich zittere immer noch ein bisschen.
"Ist es wirklich vorbei?" frage ich leise.
Oma nickt und formt vorsichtig eine kleine Schneekugel. "Sieh mal, Felix. Es ist nur noch normaler Schnee." Sie wirft sie sanft gegen die Wand, wo sie zerplatzt. "Ganz harmlos."
"Und wie erklären wir das Mama und Papa?" frage ich und forme auch eine kleine Schneekugel.
"Ach weißt du, das Fenster ist aufgegangen in der Nacht. Ein schlimmer Sturm." Sie zwinkert mir zu. "Kann ja mal passieren."
“Und der Schnee? Im Sommer?”
Sie stupst meine Nase, aber mit Schnee an ihrem Finger. Ich kichere.
“Der schmilzt hoffentlich bis morgen. Wenn nicht-“ Sie zuckt mit den Schultern.
"Wollen wir einen Schneekugelmann bauen?" frage ich zögernd.
"Das ist eine wunderbare Idee", sagt Oma.
Während wir einen Schneekugelmann bauen, erzählt sie mir von Opa. Dass er Geschichten in Bücher hineinzaubern konnte, die einen zum Weinen oder Lachen brachten.
Als ich sehe, wie sie dabei groß lacht, frage ich: "Ist das nicht gefährlich?"
Sie schaut mich an, ihre Augen funkeln. “Vielleicht?”, sagt sie — und wirft mir eine Schneekugel an den Kopf.
“Hey!”, sage ich und werfe zurück.
Wir lachen im Schnee.
Groß und laut.
Und ohne Angst.

 

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