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Ein Tag ohne dich
Mein Kopf lehnt gegen die kalte Fensterscheibe und ich starre hinunter in die Straßenschlucht. Wie klein die Autos von hier oben gesehen scheinen! Und die Fußgänger, wie unwichtig gewordenes Spielzeug. Zinnsoldaten, die tapfer gegen einen eingebildeten Feind marschieren. In diesem Augenblick würde es wenig Überwindung kosten, etwas zu werfen und einen der Zinnsoldaten zu Fall zu bringen. Von hier kann man sich gar nicht vorstellen, dass diese Punkte Menschen sein sollen, mit Zielen, Ängsten und Träumen. Noch leichter wäre es, das Fenster zu öffnen und selbst zu springen, sich einfach fallen zu lassen.
„Emma! Wo bist du eigentlich?“
„Hier, in der Küche“, beantworte ich mechanisch die völlig überflüssige Frage – wo soll ich schon sein in einer Zweizimmerwohnung?
„Was tust du auf dem Küchentisch?“ Ich drehe mich um.
„Ich sitze hier und schaue raus. Und, Paul, du behauptest seit mindestens zehn Minuten, dass du unbedingt los musst, bist aber immer noch da“, erwidere ich lächelnd. Er zuckt schuldbewusst mit den Schultern. Er hat schon den Mantel an, den Aktenkoffer in der Hand.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragt Paul etwas unsicher. „Ja, warum nicht?“ Ich bemühe mich, meiner Stimme einen möglichst fröhlichen Tonfall zu geben. Ich springe vom Tisch und lege beide Arme um ihn. „Viel Spaß in der Arbeit. Und lass dich nicht ärgern“, flüstere ich.
„Es tut mir so Leid, dass ich dich den ganzen Tag alleine lasse“, murmelt er und erwidert meine Umarmung.
„Das macht doch nichts! Nächste Woche fängt das Semester an, dann bin ich auch den ganzen Tag beschäftigt und muss abends lernen. Und so lange gibt es hier ohnehin noch genug zu tun. Zeug einkaufen, der Klempner muss sich noch mal diesen Wasserhahn ansehen. Ich sollte ihn vielleicht gleich heute anrufen, bevor ich es wieder vergesse. Außerdem muss ich doch deine herrlich aufgeräumte Wohnung etwas durcheinander bringen, sonst fühle ich mich nicht wohl.“
Paul lacht, küsst mich und schiebt mich sanft von sich. „So, ich muss jetzt los.“ Lächelnd begleite ich ihn zur Tür und sehe ihm nach, bis er im Aufzug verschwindet. Dann gehe ich zurück zum Küchenfenster. Einer dieser bunten, bedeutungslosen Flecken dort unten ist jetzt Paul. Mit Mühe reiße ich mich von dem Anblick der belebten Straße wieder los und hole mir das Telefon. Mit ihm in der Hand setzte ich mich an den Küchentisch und mache mich daran, aus dem Telefonbuch die Nummer eines Klempners zu suchen. Schnell stelle ich fest, dass amerikanische Telefonbücher hoffnungslos unübersichtlich sind. Ich schlage das Buch zu. Am besten frage ich einen meiner Nachbarn, ob sie mir einen Klempner empfehlen können.
Mein Blick wandert wieder zum Küchenfenster. Meine nervösen Finger wählen unwillkürlich eine Nummer. Lange kann ich meine Augen nicht von den vertrauten Zahlen auf dem Display wenden. Nichts würde ich in diesem Moment lieber tun, als bei dieser Nummer anzurufen, unbeschwert zu erzählen, wie es mir hier ergeht, zu fragen, ob ich mir wegen eines tropfenden Wasserhahns schon Sorgen machen muss. Aber ich weiß genau, dass ich deine Nummer nie wieder wählen werde, dass du mir nie wieder am anderen Ende der Leitung antworten wirst.
Ich stehe auf. Inzwischen habe ich beschlossen, mir wegen eines tropfenden Wasserhahns Sorgen zu machen und jetzt sofort etwas zu unternehmen. Kann ich im Jogginganzug bei meinen Nachbarn klingeln? Noch eine von diesen Fragen, die du am besten beantworten könntest. Unentschlossen bleibe ich an der Wohnungstür stehen. Im Grunde genommen bin ich hoffnungslos überfordert. Ich, die selten einmal Wäsche aufgehängt hat, soll einen Haushalt führen. Aber es ist nicht nur das: Ich soll mich in einem neue Land einfinden. Ich soll studieren.
Mutlos setzte ich mich in der Diele auf den Boden. Wie hast du immer gesagt: „Ich habe jetzt schon Angst davor, wie leer das Haus sein wird, wenn du gehst.“ Schon als ich ganz klein war, hast du das immer wiederholt. Aber soweit ist es nie gekommen: Du bist gegangen, nicht ich. Ich musste Abschied nehmen, nicht du.
Manchmal haben wir beide uns vorgestellt, wie meine erste Wohnung aussehen würde. Ich war mir immer sicher, dass du mir beim Einrichten helfen würdest, dass wir uns zusammen durch Möbelläden quälen würden.
Was würdest du sagen, wenn du mich jetzt sehen würdest? Du hast Paul immer gemocht. Ist es wirklich erst vier Monate her, dass du versucht hast, mich zu trösten, als ich heulend erzählt habe, Paul würde nach LA gehen? Hast du damals erwartet, dass er mich mitnehmen würde? Aus meiner Verzweiflung retten, wie eine Katze aus dem Tierheim? Vielleicht schon, auf so vieles schienst du vorbereitet gewesen zu sein. Ich hätte es nie voraussehen können, mich haben die Ereignisse völlig überrascht, ich kann sie immer noch nicht so ganz begreifen.
Ich rappele mich wieder auf und wische mir die Augen an dem Ärmel meines Jogginganzugs. Ja, ich kann bei meinen Nachbarn so angezogen auftauchen. Bevor ich die Tür aufziehe, stecke ich mir noch den Schlüssel in die Tasche. Soviel habe ich von dir gelernt: Du hast dich so oft ausgesperrt und immer hast du mich angerufen, wenn ich ausgegangen bin, wenn ich in der Schule war, egal.
Mit großen Schritten gehe ich zur gegenüberliegenden Tür und klingele. Oh, Gott! Darf ich um kurz nach acht morgens bei fremden Leuten läuten? Die Frau, die mir öffnet, ist noch in Schlafanzug und Bademantel. „Es tut mir so leid! I mean: I’m so sorry! I hope I’m not disturbing…”
„Never you mind. I’ve been awake awright.” Die Frau lächelt. Sie ist in etwa so alt wie du, knapp über fünfzig. Die Art, wie sie gegen das Licht blinzelt, sagt mir, dass sie lügt; ich störe. Du wärst ehrlich gewesen, du hast den Leuten immer deutlich gemacht, wenn sie unerwünscht waren. „What is it you want, my dear?”
„I just wanted… Do you have the phone number of a – what do you call it? – plumber?”
„Yeah, sure. Is it anything serious?”
„Äh, not really. One of my tabs is leaking.” „O.k. fine. I’ll fetch the number.” Ein Gähnen unterdrückend dreht sich meine Nachbarin um und schlurft zurück in ihre Wohnung. Zwei Minuten später kommt sie mit einer Visitenkarte wieder. „I reckon you and your husband moved in next door.” Ich erkläre ihr nicht, dass Paul und ich nicht verheiratet sind, sondern murmele „Yes. Thanks. I’m sorry again.” Und wende mich um und gehe zurück zu meiner eigenen Wohnung.
Im Inneren begrüßt mich der Geruch nach frischer Farbe und Möbelpolitur. Ich hänge den Schlüssel an den Haken. Ich habe mir schließlich geschworen, in meinem neuen Leben ordentlicher zu sein. Meine Unordnung hat dich immer in den Wahnsinn getrieben. Lustlos mache ich mich daran, das Frühstücksgeschirr abzuspülen. Eine Spülmaschine haben wir noch nicht. Während ich mit beiden Armen im schaumigen Waschbecken herumrühre, starre ich wieder aus dem Küchenfenster. Ich weiß selber nicht, warum mich der Anblick der vollen Straße so anzieht. Vielleicht, weil es so einfach ist, sich vorzustellen, dass du einer dieser tapferen Zinnsoldaten dort unten bist. Mit den Zähnen ziehe ich den nassen Ärmelrand noch ein wenig weiter hoch. Dabei fällt mein Blick auf die Küchenuhr. Es ist inzwischen fast neun. Zuhause also noch mitten in der Nacht. Nur hier in dieser seltsamen Scheinwelt ist es Tag und hell. Zuhause blinzelt der Mond durch die Fenster deines verlassenen Hauses. Ausschließlich die Möbel sind noch an ihrem Platz, sonst nichts mehr.
Wie sagt doch der kleine Prinz:„Die Leute haben Sterne, aber sie sind nicht die gleichen“ Das Buch hast du mir zu meinem achten Geburtstag geschenkt. Meine Sterne, sie gehören Paul, aber mein Mond, der gehört dir. Er erinnert mich immer an unsere Fahrt durch die Alpen. Es war mitten in der Nacht, wir hatten uns verfahren, ein Quartier hatten wir auch nicht. Ich, die ich hätte lotsen sollen, war schon völlig panisch, aber du hast angehalten, bist ausgestiegen und hast die mondbeschienene Landschaft betrachtet. Das werde ich nie vergessen: die silbrigen Bergmassen und davor deine kleine Gestalt, versunken in den Anblick.
Mit aller Kraft unterdrücke ich ein Schluchzen und versuche mich wieder auf den Abwasch zu konzentrieren. Aber meine Gedanken kehren schnell zu dir zurück. Als ich elf, vielleicht auch schon zwölf war, habe ich mir immer einmal einen Tag ohne dich gewünscht. Einen Tag, der nicht damit anfängt, dass du mich weckst, nicht damit schließt, dass ich die Musik aus deinem Zimmer höre. Als ich dir das sagte, hast du nur gelacht und gesagt: „Du wirst noch genug Tage ohne mich haben.“ Erst jetzt merke ich, dass du nicht Recht hattest: Auch wenn du aus meinem Leben verschwunden bist und nie zurückkehren wirst, so wird es doch keinen Tag ohne dich geben.